Czytaj książkę: «Grundlagen der Psychiatrie», strona 7

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2Risikofaktoren und prädisponierende Faktoren
2.1Genetik

Für viele psychiatrische Störungen liegen Zwillingsstudien, Adoptionsstudien und Familienstudien vor, die auf eine gewisse Vererbbarkeit hinweisen. Dabei wirken Gene nicht deterministisch, sie tragen aber zur Entstehung psychischer Störungen in unterschiedlichem Maße bei. Bestimmte Gene sind für die Entstehung einer Erkrankung weder notwendig noch allein erklärend („Genes are neither necessary nor sufficient“). Die Wirksamkeit der Genetik ist indirekt, indem bestimmte Mutationen eine neurobiologische Veränderung herbeiführen, die wiederum die Betroffenen vulnerabler für psychosoziale Belastungen macht. Neueste Studien zeigen, dass psychiatrische Erkrankungen in hohem Maß untereinander genetisch korrelieren (Brainstorm Consortium, 2018).

2.2Neurobiologie

Der Stoffwechsel von manchen Neurotransmittersystemen (z. B. Noradrenalin-System, Serotonin-System, Dopamin-System, GABA-System) ist bei psychischen Störungen unspezifisch verändert. Biologische Veränderungen sind bei bestimmten Störungen nachgewiesen, die Kausalität ist aber dadurch nicht geklärt. Neurobiologische Störungen sollen nicht als ursächliche Faktoren angesehen werden, was aber manchmal so dargestellt wird.

Strukturelle Veränderungen des Gehirns bei bestimmten psychischen Störungen werden radiologisch (z. B. mittels Computertomografie oder Magnetresonanztomografie) festgestellt, wie erweiterte Ventrikelsysteme im Gehirn, Auffälligkeiten des Thalamus und limbischen Systems. Ebenso beobachtet man Abbauprozesse und Entwicklungsstörungen des Gehirns (z. B. Gyrierungsstörungen) bei PatientInnen mit psychischen Auffälligkeiten. Ihre Bedeutung für die Entstehung von psychischen Störungen ist Gegenstand der Forschung und im Einzelnen noch nicht geklärt.

2.3Prä- und Perinatalfaktoren bzw. virale Infektionen

Probleme rund um Schwangerschaft (Pränatalperiode) und Geburt (Perinatalperiode) sind wichtige Risikofaktoren, die Individuen dazu prädisponieren, Erkrankungen zu entwickeln.

Zu den pränatalen Faktoren zählen höheres Alter der Mutter bei Konzeption, Blutgruppenunverträglichkeit zwischen Mutter und Fötus, Mangelernährung während der Schwangerschaft, Rauchen, Alkoholabusus, Drogenabusus oder Infektionen. Diese Faktoren können das intrauterine gesunde Wachstum und die Reifung des embryonalen Gehirns verzögern bzw. hemmen.

Zu den perinatalen Faktoren zählt man vorwiegend eine Hirnschädigung durch Geburtskomplikationen (durch Sauerstoffmangel) oder eine Frühgeburt.

Bei bestimmten Störungen (z. B. Schizophrenie, Zwängen, Autismus) wurden im Verlauf der Jahrzehnte Hypothesen vertreten, dass auch virale Infektionen bei der Verursachung eine Rolle spielen könnten. So wurde eine Virushypothese der Schizophrenie verfolgt, welche sich wegen deren Unspezifität aber nicht durchgesetzt hat (siehe Kapitel VI, 1.3.3). Ein kleiner Anteil von Zwangsstörungen konnte als streptokokkenbedingte Symptomatik (PANDAS) verifiziert werden (siehe Kapitel XVI, 5.1.5).

2.4Psychosoziale Ursachen

Die Forschung konnte zeigen, dass auch persönlichkeitsrelevante Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer psychischen Störung vorliegen können. Dazu zählt man u. a. Intelligenzminderung, schwieriges Temperament, fehlende Passung des Temperaments von Erziehungspersonen und Heranwachsenden, gering entwickelter Selbstwert oder perfektionistische Persönlichkeitszüge. Als prädisponierenden Faktor kann auch ein Persönlichkeitszug angesehen werden, den man als „externer locus of control“ bezeichnet: Hierbei legen Betroffene die subjektiv empfundene Ursache für den eigenen Zustand in die Umwelt und betrachten sie als ihrer Kontrolle entzogen. Diese PatientInnengruppe neigt eher zu Depressionen als solche mit „internem locus of control“ und ungünstigen Coping-Strategien wie vermeidenden Umgang mit Stress.

Im psychosozialen Bereich sind folgende Faktoren von Relevanz: Bindungsprobleme in der Kindheit, Fehlen intellektueller Stimulation, autoritärer oder antiautoritärer Erziehungsstil, Missachtung bzw. Ignorieren der Bedürfnisse eines Kindes und inkonsistenter Erziehungsstil wie „Double-bind“-Situationen, wo inkompatible Botschaften an das Kind weitergegeben werden und das Kind in einen innerseelischen Konflikt gebracht wird.

Missbrauch, Misshandlung, Alkoholabusus bzw. Drogenabusus der Eltern, Kriminalität der Eltern, massiver elterlicher Streit, Gewalt zwischen den Eltern und delinquente Geschwister sind besonders schwerwiegende Stressoren, die die Anfälligkeit von psychischen Störungen erhöhen. Aber auch andere Belastungen von unterschiedlicher Stärke, Potenz und Dauer sind risikosteigernd. Dazu zählt man Trauer, Trennungssituationen, Heimerziehung und emotionaler Missbrauch wie beispielsweise Parentifizierung. Dabei werden Kinder als Betreuer der Eltern herangezogen, mit der Aufgabe, sich um diese emotional und praktisch zu kümmern (z. B. auch den Haushalt zu führen). Im sozialen Bereich gelten auch Armut und Migrantenstatus als Risikofaktoren.

Eine lineare, eindeutige und direkte psychosoziale Ursache für die meisten psychischen Störungen im psychosozialen Bereich ist nicht vorhanden. Beispielsweise wurde in der Vergangenheit bei der Schizophrenie von der krankheitsauslösenden bzw. verursachenden Mutter ausgegangen (siehe Kapitel VI, 1.3.4). Bei der Anorexie wurden ursächlich eindeutige Familientypologien, die spezifisch zu Magersucht führen würden, postuliert. Beide Hypothesen konnten empirisch nicht bestätigt werden. Dennoch hatten diese Theorien starken Einfluss auf das Laienverständnis und führten zu falschen Schuldzuweisungen. Paradoxerweise erwarten Eltern selbst heutzutage noch, dass sie für die Entstehung der Krankheit ihrer Kinder schuldig gesprochen werden. Diese Meinung setzt sich oft bis ins Erwachsenenleben fort, sodass auch in der Psychotherapie der Erwachsenen dem entgegenzuwirken ist.

2.5Auslösende Faktoren

Damit eine Störung ausbricht, spielen neben den genannten prädisponierenden Faktoren auslösende Faktoren eine wichtige Rolle. Diese sind entweder massive Stressoren oder das Zusammenkommen gering potenter Faktoren in einer gewissen Häufung. Zu den akuten schweren Lebensereignissen (life events) zählen der Tod eines nahen Verwandten oder Freundes bzw. Partners oder Kindes, Katastrophenfälle, Miterleben von Tod und Sterben, Unfälle, Geburt eines Kindes, Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung oder Scheidung, Inhaftierung, akute körperliche Krankheit oder Verletzung, Missbrauch und Misshandlung.

Zu den kleineren Auslösern, den sogenannten „daily hassles“ bzw. zu den länger einwirkenden und daher weniger akuten Auslösern zählen Hänseleien in der Schule, Schulwechsel oder Wechsel des Arbeitsplatzes, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Verlust bzw. Rückzug von Freunden, Umzug oder finanzielle Probleme.

3Modelle psychischer Störungen

Jedes Zeitalter hat sein eigenes Verständnis psychischen Leids hervorgebracht und daher gibt es auch verschiedene Modelle über die Ursachen psychischer Störungen. Forscher wollten seit je her verstehen, warum manche Menschen eine oft rätselhafte Krankheit bekommen und andere nicht. Betroffene wollen ihr Leiden erklären und wissen, wie die Veränderungen der Erlebens-, Verhaltens- und Leidenszustände zustande gekommen ist. Patientinnen und deren Angehörige stellen sich die Fragen, ob man selbst oder jemand anderer Schuld trägt und ob man etwas dagegen tun hätte können.

Begonnen hat es im westlichen Kulturkreis mit Vorstellungen göttlichen Einflusses und eines direkten Zugriffs auf menschliches Sein und Werden (siehe Kapitel I, 2). Animistische Vorstellungen, wie die Annahme der allgemeinen Belebtheit der Natur sowie der Glaube an die Beeinflussung von Göttern und Geistern auf das Leben der Menschen, prägten über Jahrhunderte die Vorstellung auch von psychischen Auffälligkeiten bei Menschen. Dies führte zu Teufels- und Dämonenaustreibungen, um Sünde und Schuld reinzuwaschen. Noch in der Zeit der Aufklärung herrschten einseitige biologistische und psychologistische Modelle vor, später auch hypnotische Theorien wie die des Mesmerismus. Dies ist die Bezeichnung für eine elektromagnetische Kraft im Menschen, die Franz Anton Mesmer (1734–1815) spekulativ glaubte erkannt zu haben. (Der „Mesmerismus“ wird bei Peter Sloterdijk in seinem Buch „Der Zauberbaum“ dargestellt).

Peter Tyrer und Derek Steinberg, englische Psychiater, haben 1997 (engl. 2005) in ihrem Buch „Modelle psychischer Störungen: Theorie- und Praxiskonzepte in der Psychotherapie“ den Versuch unternommen, die führenden Modelle psychischer Störungen (aus Sicht der gängigen psychotherapeutischen Schulen) darzustellen. Ein weiterer wichtiger Beitrag zum Thema ist das Kapitel von Wolfgang Gaebel in Hans-Peter Kapfhammer et al.: Psychiatrie & Psychotherapie, Springer 2005. Beide Beiträge dienen hier als Grundlage und ermöglichen weitere Anregungen zur Vertiefung des Themas. Nach Tyrer und Steinberg (1997, 2005) können die Ursachen nach den im Folgenden dargestellten sechs Modellen systematisiert werden.

3.1Medizinisches Krankheitsmodell

Das Medizinische Krankheitsmodell setzt sich aus mehreren Bereichen zusammen:

•Beschreibung der Symptome und Zuordnung zu einem klinischen Syndrom

•Diagnostik der pathologischen (krankhaften) Veränderungen (z. B. Strukturveränderungen durch Magnetresonanztomografie; chemische Veränderungen, messbar in Blut, Liquor, Harn etc.)

•Verlaufsdokumentation und Beobachtung der Veränderungen wie z. B. Spontanremission, Schwankungen in Stimmung und Antrieb oder Steigerung bis hin zur Suizidalität

•Bestimmung der Ursache

•Die Behandlung (Therapie) aufgrund der erhobenen Befunde

•Prognose der Krankheit

Dieses Modell hat eine große Bedeutung, da Krankheiten aus allen medizinischen Fachbereichen auf diese Art klassifiziert, diagnostiziert und behandelt werden. Für psychisch erkrankte Menschen bedeutet dies auch, körperlich untersucht zu werden, was u. a. eine laborchemische Untersuchung bzw. eine bildgebende Diagnostik einschließt (siehe Kapitel V, 5). Auch die Erhebung des psychopathologischen Status beruht auf dem medizinischen Modell. Das Krankheitsmodell, welches maßgeblich die gesamte WHO-Klassifikation beeinflusst hat, ist auch in der Psychiatrie unumgänglich. Es ist wissenschaftlich gestützt, nicht-spekulativ, hypothesengeleitet und rational. Daneben können Befunde und Fortschritte aus anderen Disziplinen der Medizin und den Naturwissenschaften integriert werden.

Als Gefahr des medizinischen Krankheitsmodells ist anzuführen, dass die Individualität des Kranken übersehen wird und stattdessen ein „Fall“ behandelt wird. Ein Nachteil ist, dass der Patient als passiver Empfänger von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen gesehen werden kann. Zur Rolle des abhängigen und passiven Patienten passt die Rolle des autoritären Arztes, der die Behandlung führt. Unterschiedliche Betrachtungsweisen oder demokratische Entscheidungsprozesse, wie in multidisziplinären psychiatrischen Teams üblich, sind bei konsequenter Befolgung des medizinischen Krankheitsmodells selten anzutreffen. Um eine teamorientierte Behandlungsmethode durchzuführen, reicht daher das Modell nicht aus und bedarf einer Erweiterung.

3.2Psychodynamisches Modell

Das psychodynamische Modell sucht hinter den körperlichen oder seelischen Beschwerden nach Denkmustern, Gefühlen, Konflikten, die in frühen Lebensperioden wurzeln. Eine zentrale Vorstellung ist, dass viele Verhaltensweisen unbewusst erfolgen und dem Betroffenen nicht verständlich sind. Die von Sigmund Freud begründetet Psychoanalyse gilt als grundsätzliche Theorie für alle psychodynamischen Vorgänge und beobachtet z. B. genau die Beziehung des Klienten zum Therapeuten, deutet Regungen mit Rückgriff auf frühe Beziehungsmuster (Übertragungen, Projektionen) und nützt diese für den Heilungsprozess. Der Therapeut achtet ebenso auf seine eigenen Emotionen dem Klienten gegenüber (Gegenübertragung, Projektionen). Durch die freie Assoziation des Patienten, die Deutung von Trauminhalten und Fehlleistungen, können zugrunde liegende Konflikte bewusst gemacht und therapeutisch bearbeitet werden. Abwehrmechanismen wie Rationalisierung, Verleugnung, Verdrängung, Projektion und Reaktionsbildung werden identifiziert, ihr Einsatz wird durch den Klienten beobachtet und in ihrer Bedeutung und Notwendigkeit reduziert.

Unzählige Schulen mit unterschiedlichen Modellen haben sich nach Freud aus dem psychoanalytischen Modell weiterentwickelt, z. B. die von Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Melanie Klein, Viktor Frankl, Manès Sperber, Wilfried Bion, Otto Kernberg, John Gunderson und Glen Gabbard.

Nach Tyrer hat die psychodynamische Sicht vor allem eines eingebracht: „die Anerkennung der Reichhaltigkeit und Vielfalt des Lebens, der Entwicklung und letztendlich der Evolution des Menschen; sie fördert Gefühlsausdruck und Anpassung“. Kritisch fügt er jedoch an: „Die psychodynamische Theorie kann allgemeine Ursachen menschlichen Leids und Konsequenzen von Problemen und Beziehungsstörungen besser erklären als spezifische Symptombildungen“ (Tyrer und Steinberg, 1997, 70).

3.3Verhaltenstheoretisches Modell

Das Modell der Verhaltenstheorie ist grundsätzlich anders als das psychodynamische: „Es sieht nicht über die Symptome hinaus, die Symptome und das Verhalten das daraus erfolgt, sind die Störung“ (Tyrer und Steinberg, 1997, 81).

Psychische Symptome bilden sich entweder durch operante (Modell der Skinner-Box: Konditionierung wird nicht durch den Reiz, sondern durch das Verhalten bestimmt) oder durch klassische Konditionierung (Modell des Pawlow'schen Hundes: Reflex).

Die Wirksamkeit durch systematische Desensibilisierungen, Belohnungssysteme oder durch Verhindern von Vermeidungsverhalten (Flooding) ist empirisch gesichert. Besondere Bedeutung hat dieses Modell in der Behandlung von Angststörungen (siehe Kapitel III, 3.3.2).

3.4Kognitives Modell

Beim kognitiven Modell seelischer Störungen wird den Gedanken besondere Bedeutung zugemessen. Dysfunktionale Kognitionen als Antwort auf verschiedene Reize lassen die psychischen Störungen entstehen. Sie beeinträchtigen das gesunde Funktionieren.

Das kognitive Modell ist bei vielen Störungen mit Erfolg anwendbar, z. B. bei Angst, Depressionen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Traumafolgekrankheiten, Schlafstörungen, Alkohol und Drogenmissbrauch. Die kognitive Theorie „ermutigt zu rationalem Denken“ (Tyrer).

3.5Sozialpsychiatrisches bzw. systemisches Modell

Soziale Modelle in der Psychiatrie betrachten psychosoziale Faktoren wichtiger als andere Einflüsse in Hinblick auf Auslösung und Ursachen von psychischen Störungen. Berücksichtigt werden gesellschaftliche Einflüsse (z. B. auch vermittelt über Medien), soziale Umstände wie die Bedeutung der Umgebung, finanzielle Probleme, soziale Bindungen, die Arbeitswelt, die Bedeutung der Kultur sowie Veränderungen individueller (Life-Events-Forschung) oder gesellschaftlicher Natur von Umweltbedingungen.

Demnach kann Krankheit auch als Etikett aufgefasst werden, wenn Menschen nicht der Norm entsprechen (Thomas Szasz, zitiert nach Tyrer und Steinberg, 1997, 131f.). Der Betroffene ist lediglich vorübergehend „am falschen Platz“ in der Gesellschaft (ebd., 134). Diese einseitige Auffassung, die u. a. von der Anti-Psychiatrie getragen wurde (siehe Kapitel II, 1.1), wird heutzutage kaum noch vertreten, das sozialpsychiatrische Modell zeigt aber, dass Krankheit niemals verstanden werden kann, ohne den sozialen Kontext zu berücksichtigen. Wo soziale Einflüsse wesentlich auf Individuen einwirken und therapeutisch in Hinblick auf diese gearbeitet werden muss, hat das sozialpsychiatrische Modell seine höchste Berechtigung. Der subjektiven Sicht der Einzelnen (z. B. den unterschiedlichen Suchten von Berufsgruppen in Teams) wird besondere Beachtung geschenkt. Demnach existieren keine „objektiven Wahrheiten“, sondern nur subjektive Sichtweisen, die immer wieder neu konstruiert werden müssen.

3.6Integratives Modell

Das integrative Modell versucht zu zeigen, wie die vorangegangen Modelle zu unterschiedlichen Zeitpunkten während des Verlaufs einer Krankheit angewendet werden können und welche Wechselwirkungen bestehen. Einzelne Modelle haben für sich allein zu wenig Erklärungspotenz bzw. können zu wenig die Varianz der jeweiligen Phänotypen (d. h. der Symptome, Syndrome, Krankheiten) aufklären.

Nach Tyrer und Steinberg ist ein möglicher integrativer Ansatz das „hierarchische Modell“. Die hierarchischen Stufen entsprechen dabei den Störungsstufen:

1.Auf der ersten Krankheitsstufe, bei der geringe Symptome vorliegen, sei das sozialpsychiatrische Modell ausreichend.

2.Bei spezifischen ausgeprägteren Symptomen könne das psychodynamische Modell herangezogen werden.

3.Bei dysfunktionalen Verhaltensweisen empfiehlt sich das Verhaltensmodell.

4.Bei dysfunktionalen Kognitionen ist das kognitive Modell anzuwenden.

5.Das medizinische Krankheitsmodell sollte für schwere Manifestationen von psychischen Störungen vorbehalten bleiben.

Die Modelle sind nicht eigentlich störungsspezifisch, sondern unterschiedliche Betrachtungsebenen können – je nach Schweregrad – im Verlauf der Krankheit sinnvoll zum Verstehen und Behandeln beitragen, obwohl meist dennoch ein Modell überwiegen wird. Die Auslöser von psychischen Störungen sind meist im sozialen Bereich (also auf Ebene 1) zu finden. Die Prädisposition bestimmt aber über das Wesen der Störung. Verschiedene Menschen werden unterschiedliche Reaktionen auf ein und dasselbe Ereignis zeigen, je nach vorliegender Prädisposition.

Weitere integrative Modelle:

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (ursprünglich von Joseph Zubin für das Verständnis von Schizophrenie entwickelt) hat große Bedeutung und kann als Leitmodell für die gesamte Psychiatrie angesehen werden. Vulnerabilität (Krankheitsdisposition oder Neigung) entsteht durch multifaktorielle Risikoprozesse. Sie allein genügt nicht, damit ein Mensch psychisch erkrankt. Ein (oder mehrere) zusätzliche(r) Stressor(en) ist/sind für die Auslösung der Krankheit notwendig. Vulnerabilität wird auch familiär weitergegeben, was im Englischen „liability“ genannt wird. Erstgradig Verwandte von Menschen mit psychischen Störungen haben ein deutlich erhöhtes Risiko, ebenfalls zu erkranken. Protektive Faktoren spielen in diesem Modell ebenfalls eine Rolle. Sie beschützen vulnerable Personen trotz auslösender Stressoren, zu erkranken.

Chaostheoretische Konzepte – basierend auf der Komplexitätsforschung – beachten besonders die Prozesse der Selbstorganisation von Systemen und machen diesen Fokus fruchtbar für ein Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Sie sind bio-psycho-sozial und integrieren sowohl (neuro)-biologische als auch psychodynamische und systemische Aspekte (Toifl, 2004), um Selbstorganisation zu fördern.

Gen-Umwelt-Interaktionsmodell (G xE-Modell):

Krankheiten entstehen durch Interaktion von genetischer Ausstattung mit der Umwelt. Die Persönlichkeit oder manche Charakterzüge sind zum Teil genetisch, zum Teil umweltbedingt. Besonders wichtig ist es, darauf hinzuweisen, wie neueste Forschungen zeigen konnten, dass beide Bereiche eine wesentliche Rolle in der Entstehung psychischer Störungen spielen. Dabei ist entscheidend, dass Umweltfaktoren, die etwa Geschwister in Familien gemeinsam erleben (Erkrankung oder Tod eines Elternteiles), keine Rolle für die Erkrankung einer der beiden Geschwister spielen. Was krank macht, sind lediglich solche Faktoren, die Geschwister nicht miteinander teilen (das sind hauptsächlich Peergroup-Unterschiede und subjektiv wahrgenommene Unterschiede im Stresslevel; im Umgang mit familiären Stressoren wie z. B. der Erkrankung oder dem Tod eines Elternteils).

Avshalom Caspi et al. (2003) konnten zeigen, dass die Schwere einer Depression nicht von der Häufigkeit der life events abhängt, denen jemand ausgesetzt ist, sondern nur diejenigen Patienten mit Depression schwer erkrankten, welche eine Risikokonstellation in der genetischen Struktur des Serotonin-Transporter-Genes aufwiesen.

Ursachenorientierte Klassifikation:

Die Klassifikationen psychischer Störungen der gegenwärtigen Klassifikationssysteme wie ICD-10 und DSM-5 sind der Versuch, phänomenologisch und empirisch gestützte Schematisierungen der beobachteten Symptome und Syndrome zu systematisieren. Dabei spielt die Ätiologie von Krankheiten eine untergeordnete Rolle. Obwohl die Ursachen der meisten psychischen Störungen unbekannt sind, sind in ihrer Erforschung (im biologischen Bereich) zuletzt große Fortschritte erzielt worden. Eine ursachenorientierte Klassifikation aller psychischen Störungen ist aus heutiger Sicht allerdings noch undenkbar und ein Projekt für die nächsten Jahrzehnte. Da „Utopien“ und Zukunftsprojekte das Nachdenken über und die Forschung für zukünftige Therapien stimulieren, soll das von Dennis Charney et al. (2002) vorgeschlagene Schema hier angeführt werden. Es ist integrativ, indem es sowohl ursächlich wirksame biologische als auch psychologische Parameter sowie psychosoziale Stressoren und Verlaufsparameter in die Klassifikation einbezieht.

Tab. 1: Zukünftiges mögliches ursachenorientiertes multiaxiales Klassifikationssystem (Charney et al., 2002, 72)


Achse 1: Genotyp •Identifikation von Krankheits- bzw. symptomrelevanten Genen •Identifikation von protektiven bzw. Resilienzgenen •Identifikation von Genen, die mit bestimmten Nebenwirkungen und therapeutischer Wirksamkeit etwas zu tun haben
Achse 2: Neurobiologischer Phenotyp •Identifikation eines intermediären Phenotyps (Neuroimaging, kognitive Funktion, Emotionsregulation) mit Bezug zum Genotyp •Pharmakotherapie
Achse 3: Verhaltens-Phenotyp •Häufigkeit und Spannbreite ausgedrückten Verhaltens in Bezug auf den Genotyp, den neurobiologischen Phenotyp und die Umwelt •Pharmkotherapie
Achse 4: Umweltmodifikatoren oder Auslöser •Umweltfaktoren, die den Verhaltens- und den neurobiologischen Phenotyp verändern
Achse 5: Therapeutische Ziele und Reaktionen