Czytaj książkę: «Feindin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 1», strona 2

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Thyra stand neben den Leichen ihrer Freunde und der Hofmeisterin. Hunderte grün-schwarz glänzende Fleischfliegen krabbelten auf dem blutigen Fleisch und flogen summend auf, als ihr Häscher vor Schmerz neben der Toten zusammenbrach.

Thyra wich erschrocken zurück.

»Ek mun drepa konu þessa!«,7 keuchte er von Schmerzen gekrümmt, legte die Hände auf sein untaugliches Geschlecht und presste die Augen zusammen. Der schwebende Staub umrahmte die Körper wie Nebel.

Der Andere musterte Thyra grinsend, während seine Spöttelei keine Scham kannte. Er zeigte auf die drei Toten.

»Dóu þeir í Weißland.«8

Er grinste und bohrte mit der Schwertspitze in Solvors Leib. Thyra schluckte. Sie beobachtete, wie sich die Gedärme bewegten.

»Hafr var einn af inum beztum mönnum í landi ok helt hann úti liðit.«9 Er schüttelte den Kopf. Sah betrübt auf die Angeln-Frau. Sie hatte ihr Leben verwirkt. Wäre sie Hafr doch gefügig gewesen.

»Hafr mun hefna á þér grimmliga!«,10 knurrte er kopfschüttelnd und zog das Schwert aus dem Fleisch.

Thyra verstand kein Wort. Ihre salzigen Tränen tropften auf Solvor. Sie beugte sich über das verstaubte Gesicht und schloss mit zittrigen Fingern die starren Augen. Nahm die Fetzen der Bluse und legte diese notdürftig über den geschlachteten Körper. Die großen Brüste der Frau lagen zerhackt am Wegesrand. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, die Brüste aufzuheben und diese zu Solvor zu legen.

»Ich bete zu deinem Gott, dass er dir auf deinem Weg beisteht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Dann brach sie Haselnusszweige und legte diese sanft auf Solvors Brüste am Wegesrand.

Einige Zweige legte sie auf den offenen Brustkorb von Beorhtric. Dann ging sie zu Ethelgiva. Sie entdeckte zu ihrem Erstaunen keinen entsetzten Ausdruck auf dem blassen Gesicht der Hofmeisterin. Sie schien zufrieden, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Apathisch stand Thyra neben den Toten und blickte zum Wikinger.

Er steckte sein Schwert in die Schwertscheide und wuchtete ohne Schwierigkeiten seinen Kriegskameraden über die Schulter. Er stierte nur einmal drohend zu Thyra und deutete ihr mit einem Kopfnicken an, dass sie vor ihm zu gehen hatte. Sie zuckte kurz zusammen und ging dann den Weg zurück, den sie vor nur einer Stunde in Panik entlang gerannt war. Sie wollte fliehen! Doch wohin? Die Wikinger hatten vermutlich mit ihrer Streitmacht den kompletten Landstrich überfallen.

Die Menschen, die sie liebte und kannte – lagen kalt im Staub. Vertrockneten im Sonnenschein. Eifrige Insekten krabbelten über die Leichen. Saugten Blut und vermehrten sich. Ihre Eier würden sich in wenigen Tagen durchs faulende Fleisch fressen und sich zu einem wimmelnden, weißen, krabbelnden Madenmeer entwickeln.

Thyra ging mit den Fremden.

»Ich werde ihnen erzählen, wer ich bin. Irgendwer wird schon meine Sprache sprechen. Schließlich ist das Siegel bekannt! Denn ich bin die jüngste Tochter des Königs Ethelred von Wessex und Kent und meine Mutter ist Königin Wulfthryth. Was soll mir schon geschehen? Denn mein Vater ist der ältere Bruder von König Alfred.«

********************

Das kleine Dorf in Oxfordshire, im Königreich Wessex von Weißland, lag nur wenige hundert Meter von der Themse entfernt. Ein urwüchsiger Wald aus Eichenbäumen lag in einem sanft abfallenden Tal und suchte sich einen Weg hinauf zu den grünen Hügeln, wo Hundert Krähennester in den Baumkronen der uralten Kiefern nisteten. Dort schlugen die Dorfbewohner ihr Holz zum Bau der kleinen Fischerboote, Häuser und für ihr Feuerholz im verschneiten Winter.

Die Rinder, Schafe und Ziegen auf den Weiden grasten friedlich. Das satte Grunzen der Säue und Ferkel versprach Reichtum im Herbst. Am Ufer des Flusses hingen Fischernetze an meterlangen Gestellen. Die kleinen Häuser mit ihren Gärten und Obstbäumen lagen dicht aneinandergedrängt und normalerweise kräuselte Rauch aus den Schornsteinen den Himmel hinauf.

Die Flussnähe dieser ungeschützten Dörfer war für die Nordmänner perfekt für einen Überraschungsangriff.

Zügig marschierte die Dreiergruppe dem Dorf entgegen. Von Weitem erblickte Thyra Drachenschiffe am Ufer der Themse. Sie sah großgewachsene Männer mit zerzausten Haaren und vom Kampf verdreckten Gesichtern. Sie trugen weder Hemden noch Mäntel. Die Nordmänner trugen Umhänge und warfen diese über die Schulter, so waren die Hände frei für den Kampf. Zusätzlich baumelten am Gürtel ein Beil, ein Dolch und das Schwert.

Hochgewachsene Frauen in fremdländischer Kleidung bewegten sich selbstbewusst und frei im Dorf.

Thyra verlangsamte ihr Tempo und erntete einen derben Stoß. Der Krieger grunzte und zeigte mit verärgertem Kopfnicken, dass sie zügig vorwärts zu gehen hatte. Sie verzog das Gesicht, tat wie befohlen und hörte hinter sich den Getragenen gequält stöhnen.

Einige Fischerhäuser brannten und verwandelten sich zu Staub und Asche. Glänzten vom Ruß verkohlt. Verbrannt stinkende Gerippe. Der üble Geruch kroch brennend in ihre Nase. Doch es lag noch etwas Fremdes im beißenden Duft. Etwas Süßliches, fast Aromatisches! Thyra rümpfte die Nase. Schnüffelte. Konnte den Geruch nicht deuten. Sie stolperte und erhielt einen derben Stoß. Boshaft drehte sie sich um und warf dem Nordmann einen wütenden Blick zu. Der lachte lauthals, als er ihren Gesichtsausdruck erkannte, und schubste sie erneut.

»Du verdammter Fremdling! Büßen wirst du für diese Grobheit«, fauchte Thyra und schritt jetzt zügig voran. Bei jedem Schritt erhob sich unter ihren Fußsohlen eine bauchige Staubwolke. Fremd wirkte die vertraute Stadt. Hinter einer Baumreihe reihten sich viele Käfige. Mächtige Käfige! Ihre Augen wurden immer größer, je näher sie den Bäumen kamen. Ungläubig fiel ihre Kinnlade herab. In den Käfigen kauerten, standen und lagen – Menschen! Zielstrebig erreichte die Dreiergruppe die Gehege.

»Du wirst nicht!«, meinte sie noch.

Der Nordmann deutete in einen Käfig.

»Doch, er wird!«, stellte Thyra fest und blieb abrupt stehen.

»Djöfulskona, ek mun kyrkja þik með höndum mínum, ef þú eigi ferr í brott. Farþú í brott!«11

Thyra betrachtete äußerlich gelangweilt den Krieger. Ignorierte sein zorniges Gesicht.

»Ich gehe nicht!«, antwortete sie schnippisch.

»Grroaahh!«

Augenblicklich stellten sich vor Angst ihre Nackenhaare auf.

»Faru-brot!«,12 schnaubte er wutentbrannt. Packte mit der freien Hand ihren Nacken und drückte zu.

»Ich – werde – nicht – gehen!«, presste Thyra mit Mühe mit erstickter Stimme hervor.

»Grroaahh!« Der Kampfruf ließ nichts Gutes ahnen und er kniff noch härter zu.

»Ich …!« Vor Schmerz fiel Thyra auf die Knie – kapitulierte – und ging nun doch.

»Ich hasse dich!«, zischte sie und jaulte: »Ich verklage dich beim König. Ich – Auuu!«

So schritt das merkwürdige Gespann zu den Käfigen. Ein Wikinger, getragen von einem anderen, welcher eine gebückte und zeternde Angeln-Frau vor sich herschob.

Thyra schielte nach vorn, um zu erkennen, wer in den Käfigen hockte und erkannte die Gesichter der Eingepferchten.

Dort stand der Krämer mit seinem sonst so verschlagenen Blick. Neben ihm die hochschwangere Frau des Fischers. An dessen Seite die Raufbolde des Dorfes. Die pubertären Jungen – standen jetzt alle artig und brav, mit ängstlichen Augen am Rockzipfel ihrer Mütter. Doch die Väter der Kinder starrten Thyra hasserfüllt an.

»Dort kommt sie, die Tochter Ethelreds und Nichte des jetzigen Königs Alfred«, knurrte der Fischer. »Ihr haben wir es zu verdanken, dass sie uns überfallen. Uns töten. Unser Land vernichten und unsere Häuser abbrennen.«

Zustimmendes Gemurmel übertönte den Wind.

»Das ist nicht wahr«, krächzte Thyra. Der Wikinger drückte fest ihr Genick. Sie fiel auf die Knie.

»Die Wikinger wollen unsere Reichtümer und die Herrschaft übers Land«, stichelte der Fischer.

»Aber sie ist doch eine von uns! Eine Angeln-Frau!«, wagte ein Bauer einzuwenden.

»Sie ist eine Adlige!«, fauchte der Fischer. »Keine von uns!«

Zustimmendes Gemurmel.

Thyra drehte ihren Kopf. Der Wikinger lockerte den Griff.

»Hvern fangaðir þú?«13

»Getr Hafr eigi gengið lengri?«14

Lauthals wurde ihr Treiber mit der schweren Last auf der Schulter begrüßt.

»Ho filaga!«,15 riefen sie ihm grölend zu und gingen den Rückkehrern entgegen.

Sie musterten die Frau und wandten sich an ihren Gefährten. In dieser fremd klingenden Sprache empfingen sie ihn, schlugen ihre kräftigen Hände auf die Schulter des Trägers und derbe auf den breiten Rücken des Getragenen. Der fluchte lauthals. Er erntete volltönendes Lachen und wurde auf seine Füße gestellt. Doch sofort fiel er, von irrsinnigen Schmerzen geplagt, auf die Knie.

»Das nimmt keinen guten Anfang! Diese Geschichte wird am Lagerfeuer mit Spott erzählt werden.« Sie biss sich auf die Lippen.

»Kein Fluchtweg.« Thyras Stimme klang verächtlich. »Überall Nordmänner!«

Eine Wikingerin packte die Fremde und nahm sie mit. Der Weg führte an Brandruinen vorbei, entlang der Dorfquelle. Leichenteile hingen über dem Brunnenrand. Zur Rechten säumte das schwarze Gerippe der heiligen Dorflinde den Weg. Blattlos, mit verkohlter Rinde ragten rauchende Arme hilflos sterbend in den Himmel.

Sprachlos betrachtete Thyra den verwüsteten Ort. Sie erkannte zu Beginn nicht die tiefschwarzen Gebilde, welche aus den Fenstern hingen und in den geöffneten Türen den Weg versperrten. Die Toten lagen in Gärten zwischen duftenden Blumen, bei den grasenden Ziegen, in den Hühnerställen, unter den Hufen der Rinder. Einige Leichen qualmten noch, während andere nur starr und mahnend ihre Extremitäten von sich streckten. Der süßliche Geruch, der diesen Ort schwängerte, war widerlich.

Endlich verstand ihr Gehirn, was ihre Sinne schon lange wussten!

»Verbrannte Körper! Verkohltes Fleisch!« Ihr Magen verkrampfte, als sie die schwarzen Gebilde mit den Bewohnern des Hauses in Einklang brachte und erahnte, wessen Körper starr und drohend hervorragten.

»Ist das der Wagenradmacher? Der kräftige Wagenradmacher! Seine riesigen Hände ragen verkrampft in den Himmel. Und der schmale Körper neben ihm? Seine Frau? Und dort – das Kind!«

Der Inhalt ihres Magens quetschte sich durch die Speiseröhre hinauf durch den Hals. Noch bevor sie ihr Ziel erreichten, brach der kümmerliche Inhalt heraus und platschte in den Staub.

Die Wikingerfrau schnaubte verächtlich, drückte Thyras Oberarm noch fester. Thyra wischte ihre feuchten Lippen am Ärmel ihres Kleides ab und stolperte voran. Mit dem säuerlichen Geschmack im Mund erreichten sie die Käfige und die Überlebenden.

»So viele Gefangene«, flüsterte sie erschüttert.

Die Eingesperrten sagten kein Wort. Zornige, von Trauer durchflutete, hasserfüllte Blicke trafen die Nichte des Königs.

Plötzlich bekam sie einen kräftigen Stoß und Thyra stolperte in den Käfig. Ihre Gedanken hingen an Ethelgiva, Solvor und Beorhtric. Mit gesenktem Kopf schlich sie zur Käfigwand und glitt an den rauen Holzstäben herab. Mit angewinkelten Beinen hockte Thyra auf der Erde, wickelte ihre Arme um Kopf und Knie und weinte. Sie wollte nichts hören, nichts sehen und – nicht reden.

»Lasst mich alle in Ruhe!«

Sie hörte nicht das gleichmäßige Plätschern der Themse an den Bordwänden der Kriegsschiffe. Nicht das flüsternde Knarren der Planken und das Surren der Seile. Nicht das Möwengeschrei und das Knurren der Hunde, die ihre Zähne in die Überreste der Toten schlugen und sich um die saftigsten Fleischbrocken stritten.

Unbeherrscht drückte Thyra ihre Finger auf die Ohrmuscheln. Denn auch die harschen Befehle der Fremden sollten ihren Verstand nicht erreichen. Nicht die fremd klingende Sprache und nicht die Schmerzensschreie der Opfer!

Nichts.

Doch dann zuckte dieser blitzende Schreck wie Adrenalin durch jede Faser des Körpers.

»Bitte nicht!«

Unbewusst bewegte sich ihre Hand. Die Welt der Sinne kam zurück und bestürzt betrachtete Thyra eingehend die rechte Hand. Die Hand, die den Wikinger kastriert und besiegt hatte.

Besiegt?

»Nichts zu sehen.«

Erleichtert zischte der Atem heraus. Dennoch bewegte sich ihre Hand fragend zur Nase. Zögernd schnüffelte sie. Sofort prallte ihr Gesicht zurück. Ganz deutlich roch Thyra den Duft des Fremden. Seinen Samen – und noch etwas anderes! Scharf und eindringlich!

Blutleer presste Thyra die Lippen aufeinander. Rieb fanatisch mit dem Staub die Hände. Immer wieder! Bis sie, rot und angeschwollen, nicht mehr nach dem Mann rochen, der sie missbrauchte und sein Glied in ihren Körper stoßen wollte.

Die blutverschmierten Dorfleute standen unter Schock. Erde und Dreck, Blut und Asche klebten auf der Kleidung, der Haut und in den Haaren. Auf den Gesichtern der Kinder und Frauen zogen getrocknete Tränen salzige Bahnen über die Wangen.

Der Fassmacher kauerte mit einem merkwürdig verdrehten Arm in einer Ecke. Aus einem Ohr sickerte hellrotes Blut, während seine zerfaserten Wunden zu trocknen anfingen.

»Heh«, flüsterte Thyra. Versuchte, einen Bauern mit erstickter Stimme auf sich aufmerksam zu mache, der sie mit leblosen Augen anstarrte.

Der aufgerissene Schnitt seines Oberschenkels legte blassgraue Knochensplitter frei. In der schwärzlichen Blutlache der klaffenden Wunde schwärmten summend fette, blau­glänzende Fleischfliegen und krabbelten fleißig über ihre soeben gelegten Eier.

Thyra schluckte.

Die Krabbeltiere leckten mit schwarzen Rüsseln begierig den süßlich roten Saft. Bald würden scharenweise Maden aus der eitrigen Wunde krabbeln und köstliches Menschenfleisch fressen!

»Hast du Schmerzen?« Sie konnte nicht zu ihm gehen. Zu viele Verletzte lagen verstreut über den Käfigboden.

Er schüttelte kaum merklich seinen Kopf.

In ihren Augen schwammen Tränen.

»So sieht also Krieg aus!«

Sie schloss die Augen. Wollte das Leid nicht sehen. Presste den Rücken gegen die Holzstäbe, denn sie hatte kein Vertrauen mehr zu ihren zitternden Beinen.

Stumm drehte Thyra sich vom eigenen Volk fort. Starrte nichtssagend durch die mit Splittern durchsetzten Holzstäbe aufs Schlachtfeld und beobachtete stoisch die Feinde. Jede Kleinigkeit sollte sich in ihr Gedächtnis brennen.

Wie sie lebten. Welche Kleidung sie trugen. Was sie aßen und zu welchen Göttern sie beteten. Wo ihre Toten schliefen und die Kinder aufwuchsen. Wie die Wikinger ihre Frauen behandelten – diese Barbaren – die Mörder ihres Volkes.

Um diese Feindesmacht zu besiegen, wollte, musste sie diese Fremdlinge kennen. Besser kennenlernen als die engsten Freunde!

Die Nacht kam schnell.

Sie war kalt, feucht, schwarz und zehrte an den Nerven. Doch die Nordmänner kümmerten sich nicht um die Käfigmenschen.

Kein Wasser. Kein Brot. Keine Decken.

Die Notdurft verrichteten die Dorfbewohner verschämt in den Ecken der Pferche. Müde, hungrig, durstig, erniedrigt und teils schwerstverletzt kauerten sie im Dreck. Stoisch die einen – andere mit Tränen verschmierten und verdreckten Gesichtern eher zornig und hasserfüllt. Sie wollten nicht über die Toten trauern.

Thyras Füße schmerzten, die Augen tränten. Nach diesen langen Stunden verlangte ihr Körper Ruhe und Schlaf.

»Ich lege mich nicht in diesen Dreck.« Sie beobachtete die knisternden Lagerfeuer mit den orangeroten, herrlich warmen Flammen. Bemerkte, dass Frauen die eigenen Verletzten versorgten und Mahlzeiten zubereiteten. Stumm zählte Thyra die Anzahl der Wikinger und der Wikingerinnen im Lager. Sie kam auf siebenundvierzig Männer und sieben Frauen.

»Das sind nicht viele. Einige von denen liegen tot oder verletzt im Dorf. Fünfzig oder sechzig Wikinger. Vielleicht? Ungewiss, ob die verwundeten Eindringlinge sterben.«

Der Wind trug ihr die fremden Stimmen zu. Grübelnd biss sie sich auf die Lippen.

»Diese Wikinger kommen doch niemals mit nur sechzig Mann über die von Ungeheuern beherrschte Nordsee!«

Ihre Gedanken überschlugen sich.

»Und dann landen sie nur hier in Oxfordshire?« Skeptisch wanderte ihr Blick zu den Drachenschiffen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Von so einem bedeutungslosen Angriff auf eine Stadt ohne Reichtümer hatten weder Ethelgiva noch die herumwandernden Geschichtenerzähler berichtet!

»Die Nordmänner werden Wessex überrennen. Es werden viele Schiffe sein!« Sie biss sich auf die Lippen. Fröstelnd atmete Thyra die kalte Nachtluft ein. »Die Wikinger sind, wenn sie jetzt hier in Oxfordshire sind, sicher auch längst in Ludúnir16

Kreidebleich verstand sie erst jetzt, nachdem das Gesagte ihr Gehör erreichte, den Umfang dieser Überfälle. »Die Nordmänner sind in Ludúnir.« Sie runzelte grübelnd die Stirn und versuchte, sich an die Orte zu erinnern, die an der Küste der Themse zwischen Oxfordshire und London lagen.

»Slough liegt am Ufer. Reading und Oxford sind lohnende Ziele!«

Vor Entsetzen schrie sie auf und schlug abrupt die Hand vor dem Mund. Sie starrte in die Nacht und ignorierte alle fragenden Blicke.

»Es werden viele, viele Wikingerschiffe sein und noch viel mehr bestialische Nordmänner«, murmelte sie tonlos. Den Rest traute sie sich noch nicht einmal auszusprechen. Nur ihre Gedanken flüsterten grausam.

›Es wird unzählige Tote geben! Frauen und Kinder. Die Männer des Königs, die Bauern auf dem Land, die Fischer am Fluss.‹

Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie sich das Grauen vorstellte. Ihre Schwestern und ihre Brüder. Unter Umständen waren sie schon den Schwertern dieser nordischen Bluthunde zum Opfer gefallen und tot. Oder – wie sie! Eine Geisel!

Von den Lagerfeuern drang der derbe Fluch eines Nordmannes herüber. Sie sah den Mann nicht, denn die Dunkelheit fraß das Licht.

Thyra schärfte ihr Gehör. Erkannte im Schein des Feuers Gesichter, beobachtete Bewegungen und Gesten. Sie lernte! Lernte in diesen langen Wochen der Gefangenschaft die urtümliche Sprache der Nordmänner und studierte deren Verhalten.

Doch sie hasste es!

Es war eine unheimliche, windstille Nacht nach dem Massaker. Das Stöhnen der Verletzten, leises Gemurmel und ersticktes Weinen durchbrach die Düsternis. Thyra beobachtete Fledermäuse, wie sie lautlos über die Liegenden huschten. Ab und an verdeckten Kumuluswolken die silberhelle Mondsichel. Vor Müdigkeit schwankend stand sie auf den Beinen. Schloss die Augen. Der Schlaf umgarnte den Verstand. Flüsterte, liebkoste, wollte, dass sie Aufmerksamkeit verlor. Die Müdigkeit erlahmte die Muskeln und ganz langsam, aber beständig, erlosch ihr Wille.

Starr blickte sie mit verschwommenem Blick in die lockenden Flammen. Drückte den Rücken gegen die Stäbe. Hörte das Flüstern einer Frau, die einem Verwundeten Wasser anbot. Doch die Augenlider wurden schwer und schwerer. Ihr Kopf fiel kaum merklich gegen das Gitter, fast sanft. Ein Kauz flog mit klagendem Ruf am Flussufer entlang.

Erschrocken richtete Thyra sich auf, schluckte. Riss weit die Augen auf. Sie wollte nicht schlafen!

Abermals lief eine Gestalt durch die Menge der schlafenden Nordmänner. Sie richtete ihren Blick starr auf den schlurfenden Menschen. Er verschwand hinter dem Gebüsch. Sekunden später hörte sie es plätschern und genussvolles Stöhnen und sah schemenhaft, wie er an seiner Hose herumnestelte.

Nichts geschah in dieser Nacht.

Nach der verheerenden Schlacht waren alle, Krieger wie Gefangene, erschöpft, müde und innerlich zerrissen. Irgendwann schlossen sich Thyras Augenlider und ohne es zu merken, fiel ihr Körper kraftlos in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ihr Kopf drückte gegen die grob verarbeiteten, unregelmäßigen Holzstäbe. Die Muskulatur der Beine versagte und ganz langsam rutschte sie an den Streben herab. Sie zerkratzte die Haut im Gesicht und spürte es nicht. Die blutigen Schnitte trockneten im lauen Nachtwind und hinterließen eine bizarre Spur.

Nebelschwaden vom Fluss zogen feuchtkalt über die Schlafenden und die Toten, wanderten entlang der Felder und trafen auf den schwarz verbrannten Ort. Tautropfen glänzten schillernd im schwachen Licht. Fröstelnd erwachte das Leben und alle standen mit steifen und durchgefrorenen Gliedmaßen auf. Die Gefangenen schlugen wärmend die Arme um ihre Körper, während die Wikinger sich in ihre Decken hüllten. Der Atem trug Nebelschwaden aus den Mündern und Thyra, die auf dem harten Boden liegend zögernd erwachte, zitterte vor Kälte.

»Feuer.« Murmelnd setzte sie sich auf. »Doch nicht für uns.«

Sonnenstrahlen durchbrachen glitzernd die feuchtkalte Nebelwand. Heimlich wischte Thyra Tränen vom Gesicht, riss die getrockneten Kratzer auf und verschmierte das Blut mit dem rußigen Staub zur monströsen Grimasse. Stöhnend schob sie sich am Gitter hoch, bewegte Arme und Beine und ganz langsam kam die Beweglichkeit zurück.

Einen Moment später bohrte ihr jemand seinen Finger in den Rücken und befahl sie gestikulierend zum Ausgang des Käfigs!

»Þá er einnhverr maðr, er ætlar að tala við þik«,17 schnarrte die Stimme.

Erschrocken blieb Thyra bewegungslos stehen, bis der fordernde Finger erneut und mit Nachdruck zwischen ihre Rippen drückte.

»Strax!«18 Der schneidende Befehl.

Langsam drehte Thyra den Kopf und blickte in das bärtige Gesicht eines blonden Mannes. Er trug eine enge, lange Hose und ein rotbraunes, knielanges Hemd und war durch einen Umhang gegen die morgendliche Kälte geschützt. Er musste ein wohlhabender Wikinger sein, denn die Obertunika aus der Wolle der Skuddenschafe war besetzt mit edlem Zobelpelz. An den Füßen trug er kurzschäftige Stiefel aus Ziegenleder.

»Ich gehe nicht!«

Der Nordmann grinste hämisch und forderte Thyra nun mit Nachdruck auf, zum Ausgang zu gehen. Irritiert sah sie ihn an.

»Was wollt ihr?«, knurrte sie mürrisch und dachte: ›Warum gerade ich? Es gibt hier schönere Frauen! Mit üppigen Brüsten und einladenden Schößen.‹

Lauernd sah sie sich um, biss ihre Zähne nervös aufeinander und folgte zögernd der Anweisung. Mit beiden Händen griff sie zum Rocksaum und bahnte sich vorsichtig, über schlafende Kinder hinweg, einen Weg zur Gittertür. Der Wikinger wartete dort, packte sie fest am Arm und zog sie heraus.

Thyra hörte die Gefangenen noch leise murmeln, bevor sie mit dem Wikinger im dichten, grauen Nebel verschwand. Der Dunst schluckte jeden Umriss und dämpfte jeden Laut. Selbst die eigenen Schritte hörte sie kaum. Ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt und vor purer Nervosität zitterten ihre Beine.

Mit einem Seitenblick schielte sie zum Nordmann. Er war groß, kräftig und eine friedfertige Ruhe ging von ihm aus, sodass Thyra sich bei diesem Feind fast geborgen fühlte. Das wiederum versetzte sie schlagartig in eine solche Panik, dass sie ihre Füße nicht mehr bewegte und stolperte.

»Hmpf.« Der Nordmann knurrte, packte die Geisel energischer, zog sie fort und ignorierte den spitzen Protestschrei.

Thyra hörte Schnarchlaute, das Flüstern einer Frau und eine brummende Antwort. Der Lichtschein eines Feuers durchdrang das nasse Grau und plötzlich stoppten sie. Thyra stand im gedämpften Lichtkegel, dessen Wärme sie dankbar annahm. Der Nordmann spürte ihren zitternden Körper und musterte mit hochgezogener Augenbraue die dünne Geisel.

»Ist das die Frau?«

»Ja, Gnupas. Sie ist es«, grinste der Bärtige. »Diesem Weib gehören die kräftigen Hände, die Hafr zum Ochsen kastrierten.«

Sein Grinsen wurde breiter. Kleine Fältchen bildeten sich um die Augen.

»Finde heraus, ob sie die Besitzerin des Amulettes ist oder ob sie es gestohlen hat.«

Gnupas sah Gorm herausfordernd an. »Habe ich dich jemals enttäuscht?«

»Ich muss wissen, ob ihr dieses Amulett gehört. Ob sie ein Mitglied der königlichen Familie ist.«

Gnupas betrachtete die englische Frau.

»Ihr Benehmen deutete darauf hin. Aber ich werde dir in Kürze Genaueres sagen. Sie könnte auch eine Hofmeisterin sein.«

Gorm nickte.

»Und unsere Bemühungen wären vergebens und der Tribut dahin!«

Die alte Frau schüttelte sinnierend ihren grauhaarigen Kopf, während Gorm weitersprach: »Eine Tributzahlung vom König für eine Hofmeisterin zu fordern, ist sinnlos und überaus schlecht für weitere Verhandlungen!«

»Stimmt«, krächzte die Alte mit belegter Stimme und kniete sich stöhnend vors knisternde Feuer. Ohne auf die zwei zu achten, streute sie getrocknete Blätter und Blüten in einen Topf mit kochendem Wasser und beobachtete, wie diese vom brodelnden Wasser in die Tiefe gerissen wurden. Starr blickte sie in den Strudel, während sie mit der Hand andeutete, dass Thyra sich zu ihr knien sollte.

Thyra war sich nicht sicher und sah fragend zum Bärtigen. Grunzend gab er ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie der Handbewegung zu folgen hatte. Verärgert über den Ungehorsam, musterte Gnupas die Angeln-Frau und zeigte energisch an, dass diese Geisel sich ans Feuer zu setzen hatte.

Als Thyra immer noch zögerte, drückte der Wikinger Thyras Schulter herunter und knurrte: »Du sollst dich zu Gnupas setzen. Sofort!«

Widerwillig beugte sich Thyra dem Druck. Sie hatte Angst. Bodenlose Angst! Dennoch, niemand sollte sie, Thyra, die jüngste Tochter des Königs Ethelred von Wessex und seiner Frau Wulfthryth, einen Feigling nennen oder erkennen, dass sie sich fürchtete!

Mit zitternden Beinen kniete sie neben der Wikingerin am Feuer und sah die Alte herausfordernd an.

Doch die Wikingerfrau kümmerte sich nicht um die gefangene Angeln-Frau, sondern roch am Tee, krümelte einige getrocknete Wurzeln in den Sud, schürte in Seelenruhe die Glut und schnupperte erneut.

Thyras linkes Knie drückte auf spitze Steine und diese bohrten sich schmerzhaft ins Fleisch. Doch sie bewegte sich nicht! Erst nach vielen, unendlich langen Minuten drehte die Alte ihr Gesicht musternd zur Angeln-Frau. Gnupas schmunzelte, kurz bevor sie die Gefangene ansprach.

»Du bist also die Frau, die mit einem Handstreich Hafr zum Ochsen machte!«

Thyra starrte stur ins Feuer. Diese Sprache!

›Was will die Frau?‹

Gnupas rührte den Sud stoisch mit dem Holzlöffel. »Hafr, von einer dürren Frau kastriert!«

Gnupas schüttelte immer noch ungläubig den grauen Kopf. Der Blick wanderte zu Thyras gepflegten Händen mit den schmalen Fingern.

»Hafr wird zum Gespött der Krieger.« Ihr Tonfall war ernst und zum ersten Mal blickte Thyra die Wikingerfrau offen an. »Du hast dir einen starken Feind für dein gesamtes Leben geschaffen!«

Thyra erahnte den Sinn und die Ernsthaftigkeit hinter den unverständlichen Worten.

Plötzlich bückte sich die Wikingerin und ergriff ohne Vorwarnung Thyras Hände. Thyra erstarrte. Doch die Frau besah sich nur ihre Hände, drehte sie und befühlte die Innenflächen. Sanft glitten Gnupas Fingerspitzen darüber. Thyra zuckte erschrocken. Zog die Hände aber nicht fort und war erstaunt über die sanfte Berührung.

»Deine Hände sind ungewöhnlich zart. Sie sind schmutzig. Dennoch nicht verhornt.«

Blitzschnell beugte sie sich hinab und roch an Thyras Händen. Erschrocken zog Thyra sie fort. Doch das wissende Lächeln der Frau machte ihr deutlich, dass sie jetzt alles wusste!

Gnupas griff in den ledernen Beutel und zog einen grün schimmernden Stein heraus. Sie drehte und umschmeichelte ihn.

»Ich konnte die Markierung, die Hafr hinterließ, riechen. Auch deinen Schweiß und die Erde, die daran haftet. Doch mit dieser Erde wirst du seine Ausdünstungen nicht entfernen können.«

Sie hielt kurz inne und umschloss den Mineralstein fast liebevoll.

»Hier.« Sie reichte Thyra das Gestein. »Nimm diesen Stein und reinige damit deine Hände. Du hast diesen Mann für alle Frauen unbrauchbar gemacht. Von diesem Zeitpunkt an werden seine Gedanken und sein Verstand kasteit und ins Verderben gelenkt. Reibe den heiligen Stein mit deiner Haut. Überlasse ihm den Duft und sein Sekret. Ansonsten werden deine Hände für immer mit ihm verbunden bleiben!«

Gnupas musterte Thyra erwartungsvoll.

»Kein Mann wird deinen Händen sonst je wieder Vertrauen schenken.« Die Alte grinste. »Die Männer werden vor Angst erstarren und was vorher groß und kräftig ist, wird in deiner Nähe zu einem erbärmlichen Würmchen zusammen schrumpeln.«

»Hmpf«, grunzte es aus dem Nebelgrau und Thyra drehte sich erschrocken um. Versuchte die dichte, vom Feuerschein orange-goldene Nebelwand mit ihren Augen zu durchbrechen.

»Der Bärtige ist noch da«, flüsterte sie von Grauen gepackt und presste die Lippen zusammen. Er hockte in einiger Entfernung auf einem Baumstamm und wartete auf ein Zeichen von Gnupas.

Gnupas Mundwinkel zuckten feixend.

»Krieger haben immer Angst um den Wurm, der zwischen ihren Beinen baumelt.«

Thyra griff blitzschnell den Stein aus der Hand der Wikingerin. Kein Wort hatte sie verstanden. Nichts! Diese Sprache war ihr so fremd wie die Sitten und Gebräuche. Außerdem roch diese alte Frau merkwürdig!

»Was ist?«, forderte die Alte eindringlich.

Erstaunt riss Thyra ihre Augen auf und sah, wie die alte Wikingerin auffordernd ihre Hände rieb, als ob sie den Stein liebkoste. Sie fragte sich nicht, warum sie diesen Stein mit ihren Händen umschmeicheln sollte. Welcher Zauber in ihm wohnte? Sie tat einfach, wie ihr gehießen, und als sie das erfreute Gesicht der runzeligen Frau sah, wusste Thyra, sie tat das Richtige.

»Hmpf.«

Wieder hörte Thyra den Bärtigen, aber dieses Mal klang es irgendwie – anders?

Ein scheues Lächeln glitt über ihr Gesicht. Der Stein fühlte sich warm an. Er war so glatt geschliffen, dass nur kleine Erhöhungen fühlbar waren. Sie streichelte und wärmte den Stein, während die Wikingerfrau den Tee im Topf mit einem hölzernen Löffel rührte. Entspannt setzte Gnupas sich zurück und grub mit der linken Hand tief in den Taschen ihres Kleides. Lauernd und mit Bedacht zog Gnupas eine Kette aus den Tiefen ihres Gewandes hervor. Thyra sah es – und erschrak. Das war ihre Kette! Mit ihrem Amulett, welches der Nordmann ihr wutentbrannt vom Hals gerissen hatte.