Auf den zweiten Blick (E-Book)

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Unterstützt durch

–PH Zug

–Ernst Göhner Stiftung

–Stiftung Mercator Schweiz

Carola Mantel, Marianne Aepli, Marcus Büzberger, Heidi Dober, Janice Hubli, Jolanda Krummenacher, Andrea Müller, Julija Puškarić

Auf den zweiten Blick

Eine Sammlung von Fällen aus dem Schulalltag zum Umgang mit migrationsbezogener Vielfalt

ISBN Print: 978-3-0355-1428-5

ISBN E-Book: 978-3-0355-1429-2

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhalt

Vorwort

Zum Geleit: Wie lernen Lehrpersonen in einem professionellen Umgang mit Vielfalt?

Zur Geschichte des pädagogischen Umgangs mit Migration und Vielfalt

Ein Lernbuch für Lehrpersonen

Professionelles Lernen ist auch gemeinsames Lernen

Vom formalen Lernen und vom Lernen in der Praxis

Einleitung

TEIL 1ORIENTIERUNGSRAHMEN

1.1Anerkennung für alle

Emotionale Anerkennung: Arbeitsbündnis auf Vertrauensbasis

Anerkennung in der Gleichheit: Alle haben gleiche Rechte

Anerkennung in der Verschiedenheit: Jeder und jede ist einzigartig

1.2Pädagogische Haltungen

1.3Entwicklungswege zur Professionalisierung

Ungewissheit zulassen

Andere Perspektiven erwägen

Differenzieren

Sich selbst erkennen

Belastungen ernst nehmen und als Team gemeinsam unterwegs sein

TEIL 2FÄLLE UND HINTERGRUNDINFORMATIONEN

2.1Klassengemeinschaft

Fall 1: Das Erzählen von Freizeit- und Ferienerlebnissen führt zur Demonstration von Ungleichheiten

Fall 2: Schülerinnen und Schüler greifen negative Stereotype auf

Fall 3: Die Klasse reagiert ungeduldig auf Schülerinnen und Schüler, die Unterstützung brauchen

Fall 4: Schülerinnen und Schüler, die vor Kurzem migriert sind, verhalten sich passiv

Fall 5: Schülerinnen und Schüler machen diskriminierende Äusserungen über dunkle Hautfarbe

2.2Besondere Anlässe

Fall 6: Schülerinnen und Schüler und deren Eltern nehmen an einem Schulfest nicht teil

Fall 7: Schülerinnen und Schüler kommen ohne Ausrüstung zur Schulreise

2.3Vielfalt in der Welt

Fall 8: Schülerinnen und Schüler in der Rolle von Expertinnen und Experten für «ihr» Land

2.4Sprachenvielfalt

Fall 9: Schülerinnen und Schüler sprechen nichtdeutsche Sprachen im Unterricht

Fall 10: Schülerinnen und Schüler dolmetschen füreinander

Fall 11: Schülerinnen und Schüler in der Rolle von Expertinnen und Experten für «ihre» Sprache

Fall 12: Mehrsprachig aufwachsende Schülerinnen und Schüler resignieren

2.5Chancengerechtigkeit

Fall 13: Schülerinnen und Schüler fühlen sich ungerecht behandelt, weil andere einen Ausgleich für einen Nachteil bekommen

Fall 14: Schülerinnen und Schüler fühlen sich bei Übertrittsentscheidungen aufgrund ihres «Migrationshintergrunds» benachteiligt

Fall 15: Bei einer Übertrittsentscheidung stellt sich die Frage der elterlichen Unterstützungsmöglichkeiten

2.6Flucht und Trauma

Fall 16: Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung verhalten sich auf dem Pausenplatz zurückhaltend oder überbordend

Fall 17: Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung verhalten sich aggressiv

Fall 18: Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung weigern sich, etwas scheinbar Harmloses zu tun

2.7Elternzusammenarbeit

Fall 19: Eltern mit Zuwanderungsgeschichte melden sich seltener für ein Elterngespräch an

Fall 20: Eltern legen grossen Wert auf Einteilung ihrer Kinder in die höchstmöglichen Schulstufen

Fall 21: Eltern stehen offenen Lernformen skeptisch gegenüber

Fall 22: Es gibt Schwierigkeiten, Eltern mit geringen Deutschkenntnissen über schulische Belange zu informieren

Fall 23: Eltern lehnen das Hinzuziehen eines Dolmetschers oder einer Dolmetscherin für ein Elterngespräch ab

Hintergrundinformationen

Klassen- und Schulkultur der Anerkennung

Soziale Grenzziehungsprozesse

Hautfarben und ihr koloniales Erbe

Gemeinschaftliche Anlässe und vielfältige Anliegen

Vielfalt in der Welt – ein faszinierendes Thema mit Tücken

Didaktik der Mehrsprachigkeit

Sprachen und die Frage der Zugehörigkeit

BICS und CALP: Der Vorsprung von Kindern aus bildungsprivilegierten Familienkontexten

Kurse in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK)

Mundart oder Standarddeutsch im Unterricht?

Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten

Elterliches Migrationsprojekt und Bildungsaspirationen

Kinder mit Fluchterfahrung

Flucht und Trauma

Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern

Interkulturelles Dolmetschen

TEIL 3FUNDGRUBE MIT HINWEISEN ZU WEBSITES, LITERATUR UND MATERIALIEN

3.1Hinweise, nach Themen geordnet

 

Migration und die Schweiz

Migration und Bildung

Vorurteile, Diskriminierung, Rassismus, Gewalt

Mehrsprachigkeit

Schulerfolg und Chancengerechtigkeit

Flucht und Trauma

Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern

3.2Hinweise, nach Medien geordnet

Allgemein

Kinderliteratur 1. Zyklus

Kinder- und Jugendliteratur 2. Zyklus

Filme

Musik, Tanz und Poesie

Die Autorinnen und der Autor

Vorwort

Unser Buch ist ein Gemeinschaftswerk. Wir haben uns ein Jahr lang regelmässig zusammengesetzt, erzählt, zugehört und diskutiert. «Was beschäftigt uns im Umgang mit migrationsbezogener Vielfalt?» war unsere Ausgangsfrage. Dabei haben wir uns voneinander inspirieren und irritieren lassen, gestaunt über die Vielfalt an Situationen und die damit verbundenen kreativen Wege, auch gerungen um angemessene Antworten auf offene Fragen.

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser Gespräche. Es enthält sowohl Beiträge aus der «professional community» mit einer Vielzahl an Erfahrungswerten und Anregungen aus der Unterrichtspraxis wie auch Beiträge aus der «scientific community» mit Erkenntnissen aus der Bildungsforschung und entsprechenden Hintergrundinformationen.

Angesichts der Fülle an Themen mussten wir uns beschränken. Schulentwicklungsfragen und Religionsbezüge konnten wir nur streifen; sie würden einen eigenen Band füllen. Zudem richten wir unseren Fokus auf den 1. und 2. Zyklus. An vielen Stellen lassen wir unterschiedliche Menschen mit ihren Bildungserfahrungen zu Wort kommen. Wir haben Anekdoten und Zitate von ihnen eingefügt und ihre Namen dabei meistens durch Pseudonyme ersetzt.

Bedanken möchten wir uns bei all unseren Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Entwicklung dieses Buchs mit ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen unterstützt haben.

Zum Geleit: Wie lernen Lehrpersonen in einem professionellen Umgang mit Vielfalt?
Zur Geschichte des pädagogischen Umgangs mit Migration und Vielfalt

Migration und Vielfalt sind keine neuen Phänomene im Bildungswesen der Schweiz. Seit den 1960er-Jahren ist die Zahl der Kinder von Eingewanderten in den Schulen stetig gestiegen. Ihr Anteil in Schweizer Schulen gehört zu den höchsten in den Ländern Europas und Nordamerikas. Das Bildungswesen in der Schweiz musste darauf seit Langem reagieren. Ab den 1970er-Jahren wurden unter dem Titel einer «Ausländerpädagogik» «Probleme der Gastarbeiterkinder» behandelt, indem diese durch Deutschunterricht für Fremdsprachige, Fremdsprachigenklassen und Aufgabenhilfen besondere Unterstützung erhielten. Das entsprach einer Perspektive, die schulische Defizite der Kinder reduzieren wollte. Ab den 1980er-Jahren folgte eine «interkulturelle Pädagogik», die das interkulturelle Lernen, den bereichernden Austausch und die Toleranz betonte. Dieser Ansatz wurde umgehend auch kritisiert. Kulturalistische Zuschreibungen würden die Wahrnehmung der Menschen verzerren. Die mit Migration verknüpften sozialen Ungleichheiten würden in naiver Weise verdeckt. Seit etwa dem Jahr 2000 wird nun eine Pädagogik der Diversität propagiert und verfolgt. Sie nimmt die Normalität der Vielfalt in den Blick – in ihren sozialen, sprachlichen, kulturellen, Gender- und individuellen Aspekten.

Mindestens dreimal in den letzten fünfzig Jahren wurde also ein grosser Paradigmenwechsel gefordert. Doch das Bildungssystem und die Bildungspraxis machen keine raschen Paradigmasprünge. Sie entwickeln sich langsam mit pragmatischen kleinen Schritten und Verbesserungen. Sie entwickeln sich einerseits unter dem Druck der sich ändernden demografischen Realitäten, andererseits unter dem Einfluss von ideologischen, politischen, medialen und fachlichen Diskursen, die immer kontrovers und widersprüchlich sind.

So bleiben pädagogische Diskurse aus den verschiedenen Phasen bis heute in den Schulen wirksam. Doch Ansätze und Elemente einer Diversitätspädagogik bekommen mehr Aufmerksamkeit und erhöhen ihren Einfluss auf die Bildungspolitik und -praxis. Das vorliegende Buch ist ein sehr gutes Instrument, um eine Pädagogik der Diversität in den Schulen weiter zu diskutieren und zu entwickeln. Das Buch hält sich dabei nicht mit den langen Vorgeschichten auf, es geht direkt auf die heutige Realität von Vielfalt und auf ihre Normalität ein. Und das ist gut so!

Ein Lernbuch für Lehrpersonen

Dieses Buch ist ein Lernbuch für Lehrpersonen. Die Autorinnen und der Autor legen darin dar, wie und was sie selbst im pädagogischen Umgang mit Migration und Vielfalt gelernt haben. Sie zeichnen zunächst einen theoretischen Rahmen. Damit begründen sie die leitenden Prinzipien einer Schulkultur der Anerkennung, die dazu gehörigen Haltungen und die Wege zur Professionalisierung in diesem Thema. Vor allem aber sammeln und beschreiben sie konkrete Situationen – «Fälle» genannt – aus dem Schulalltag. Es sind Situationen, die regelmässig in heutigen Schweizer Schulklassen anzutreffen sind. Es sind Situationen, in denen Herausforderungen, Irritationen und Unsicherheiten auftreten und in denen sich Lehrpersonen nicht sicher sind, wie sie am besten handeln sollen. Die konkreten Situationen bilden also den Ausgangspunkt. Hier kommt ein entscheidendes Moment professionellen Handelns ins Spiel: das Innehalten, der «zweite Blick», die Reflexion und das Denken in unterschiedlichen Perspektiven. Dabei werden vielfältige Möglichkeiten des pädagogischen Handelns in einer Situation bedacht. Die so entstehenden Anregungen sind bei Weitem kreativer und origineller, als was die überlieferte schulische Alltagsroutine auf einen ersten Blick nahelegen würde. Die Reflexion, auch wenn sie oft nur kurz sein kann, geht dem pädagogischen Handeln voraus. Und die Reflexion folgt dem Handeln beim Zurückblicken und der Lernzirkel kann sich von Neuem drehen.

Auf diese Weise wird im vorliegenden Buch forschendes Lernen betrieben. Dies wird modellhaft dargestellt, und es wird den lesenden Lehrpersonen zur Nachahmung empfohlen. Es wird vorgezeigt, wie sich die Lehrperson immer auch als Lernende verhalten kann. So kann sie zum Modell für das Lernen der Schülerinnen und Schüler werden.

Professionelles Lernen ist auch gemeinsames Lernen

Modellhaft zeigen die Autorinnen und der Autor zudem, dass das gemeinsame Lernen der Lehrpersonen produktiver ist als nur individuelles Lernen. Das Buch haben Lehrpersonen und Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus der Pädagogischen Hochschule gemeinsam geschaffen. Die Fallbeispiele haben sie gemeinsam diskutiert. Praxis und Wissenschaft tragen so Wissen zusammen, das sich ergänzt. Praxiswissen wird durch theoretisches Wissen untermauert oder auch hinterfragt. Die Praxis bringt aktuelle Herausforderungen aus dem heutigen Schulalltag und Ideen zum Umgang damit ein, die Theorie neue Ansätze der Analyse wie beispielsweise Theorien der Diversität, der Mehrsprachigkeit, der institutionellen Diskriminierung und der Rassismuskritik. So ist eine interessante Mischung aus Praxis und Theorie, aus Konkretem und Abstraktem entstanden, wobei die Ausrichtung auf das praktische Handeln immer als Hauptziel verfolgt wird.

Das Buch eignet sich darum auch für gemeinsames Lernen von Lehrpersonen in schulinternen Weiterbildungen und für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen an pädagogischen Hochschulen.

Vom formalen Lernen und vom Lernen in der Praxis

Wie lernen Lehrpersonen den Umgang mit Vielfalt? Ich kann von meinem eigenen Beispiel erzählen. In meiner anderthalbjährigen Ausbildung zum Primarlehrer in der Mitte der 1970er-Jahre gab es eine anderthalbstündige Veranstaltung zur Schulung der Emigrantenkinder, damals vor allem aus Italien. Der Schuldirektor des italienischen Konsulats warb für Verständnis für die Lage dieser Kinder. In der Deutschdidaktik lernten wir, dass die Schule auf einen elaborierten Sprachcode der Mittel- und Oberschicht eingestellt sei, nicht auf den restringierten Code der Arbeiterkinder. Diese würden dadurch in ihren Chancen auf Schulerfolg benachteiligt. In der Praxis als Lehrer in einem Stadtzürcher Arbeiter- und Migrantenquartier wurde schnell klar, dass das noch in höherem Ausmass auf die Kinder der eingewanderten Arbeiterfamilien zutraf. Die sozialen Realitäten dieser Milieus – von Eingewanderten aus Schweizer Bergkantonen und aus ärmeren Regionen Südeuropas – lernte ich mit den Schülern und Schülerinnen und ihren Eltern kennen: ihr Leben in beengten Wohnverhältnissen, mit viel Arbeit, Opferbereitschaft und dem grossen Traum, dass es die Kinder einmal besser haben. Ein paar Lehrpersonen organsierten sich in Gruppen. Wir bereiteten einige Unterrichtseinheiten gemeinsam vor, beispielsweise auch zum Thema Einwanderung. Wir trafen uns an Versammlungen mit Vertretern und Vertreterinnen italienischer, spanischer und griechischer Migrantenorganisationen. Dort erfuhren wir, was sie interessierte und was sie forderten: Mehr ihrer Kinder sollten in Gymnasien kommen, weniger in Sonderklassen; der Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur sollte in die öffentlichen Schulen integriert werden; die eingewanderten Eltern sollten Mitsprache in Schulfragen erhalten. Gemeinsam brachten wir diese Forderungen bei den kommunalen und später auch den kantonalen Schulbehörden vor und konnten Verbesserungen erreichen.

Das Beispiel – und ich nehme an, dass es vielen Lehrpersonen ähnlich geht – zeigt, dass formalisierte Ausbildungen nur ein Teil des Lernens im Umgang mit Vielfalt sind. Dieser Teil ist an den pädagogischen Hochschulen heute um ein Vielfaches besser ausgebaut als früher. Doch entscheidend bleibt das Weiterlernen in der Praxis, mit und von Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern, beim Erkunden von sozialen und kulturellen Milieus, beim pädagogischen und bildungspolitischen Handeln, in der Reflexion des Handelns, in der dauernden beruflichen Professionalisierung, im Erweitern der Horizonte.

Ich wünsche den Lesenden, dass sie mit diesem Buch beim Weiterlernen viel Lernlust und Lerngewinn haben mögen.

Markus Truniger

Ehemaliger Leiter der Fachstelle für Interkulturelle Pädagogik in der Bildungsdirektion des Kantons Zürich

Einleitung

Vielfalt ist im Grunde das Normalste auf der Welt. Sie entsteht aus vielen, die als Einzelne einzigartig sind, die Träume und Sehnsüchte haben, Interessen und Talente, Geschichten und Verletzlichkeiten. Und alle haben ein Recht auf Bildung, auch auf Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung.

Das klingt selbstverständlicher als es oft erfahren wird. Insbesondere im Zusammenhang mit Migration entstehen häufig Unsicherheiten darüber, wie wir uns begegnen können, sodass sich alle respektiert und verstanden fühlen in dem, was sie ausmacht und was ihnen wichtig ist. Lehrpersonen navigieren durch viele Untiefen und suchen nach Wegen, um allen möglichst angemessen gerecht zu werden. In diesen Suchbewegungen sind sie gefragt und gefordert, mit ihren Überzeugungen, Haltungen und Kompetenzen.

Für manche stehen dabei die Anstrengungen im Vordergrund, auch die Erfahrung, dass es frustrierend sein kann, über Schwierigkeiten im Migrationskontext sprechen zu wollen, weil man latent riskiert, von anderen als rassistisch abgestempelt zu werden. Andere sehen in der Migration und in den Migrierten den Duft der weiten Welt, den Blick auf weitere Horizonte und das bunte Leben. Und schliesslich ist es für viele einfach zur Normalität geworden, dass die Gesellschaft und damit auch die Schule facettenreich und vielfältig ist, mit ihren schwierigen und ihren leichten Seiten.

 

Dieses Buch ist ihnen allen gewidmet. Wir möchten ermutigen und unterstützen, wo Herausforderungen entstehen; und bestätigen, wo Ansätze gelingen und ausgebaut werden können. Auch wollen wir zum kritischen Überdenken von Routinen anregen und zum Erweitern von Handlungsoptionen beitragen, indem wir Fälle aus dem Schulalltag diskutieren, sie mit Hintergrundinformationen durchleuchten, bewährte Ideen einbringen und dazu einladen, diese Ideen kreativ zu nutzen und sie im komplex strukturierten Schulalltag anzupassen und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck haben wir zudem im letzten Kapitel eine Sammlung hilfreicher Literaturhinweise, Links und Angaben zu Unterrichtsmaterialien zusammengestellt.

Es ist nicht erforderlich, das Buch am Stück zu lesen, es kann auch einfach an denjenigen Stellen aufgeschlagen werden, die persönlich bedeutsam sind und zu denen Anknüpfungspunkte bestehen. Das Buch soll ein Alltagsbegleiter sein, der zu Rate gezogen werden kann, wo er gerade gebraucht wird und nützlich erscheint.


TEIL 1
ORIENTIERUNGSRAHMEN
1.1 Anerkennung für alle

Zunächst stellt sich die grundsätzliche Frage, wie das pädagogische Handeln im Migrationskontext verstanden werden kann und mit welchen Grundanliegen es verbunden ist. Im Anschluss daran möchten wir aufzeigen, welche Überlegungen helfen können, um diesen Anliegen immer besser gerecht zu werden.

Der Lehrplan 21 hält fest, dass die Schule am grundlegenden Wert der Chancengleichheit orientiert sein soll (D-EDK, 2016, S. 21) und dass allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden soll, ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten (D-EDK, 2016, S. 42). Wenn es also um Chancengleichheit und Potenzialentfaltung geht, wird die Frage der Anerkennung zu einer entscheidenden Grösse. Nur auf der Grundlage der Anerkennung gleicher Rechte können gleiche Bildungschancen gewährleistet werden, und die Anerkennung der einzelnen Personen bildet die Basis für jegliche Form individueller Entfaltung (Honneth, 2014 [1994]).

Anerkennung ist damit nicht nur zu einem «Schlüsselbegriff unserer Zeit» geworden (Fraser & Honneth, 2003), sondern stellt auch für den Bildungskontext einen Dreh- und Angelpunkt dar (Helsper et al., 2001), ganz besonders dann, wenn durch Wanderungsbewegungen neue soziale Differenzierungen entstehen, Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle mitunter brüchig, fragil und verletzlich sind und deshalb das Anerkennen vermehrter Aufmerksamkeit bedarf (Micus-Loos, 2012, S. 303).

Im Folgenden beziehen wir uns auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth und im Besonderen auf die Auslegungen für pädagogische Zusammenhänge durch Werner Helsper und Angelika Lingkost (2002, vgl. auch Helsper et al., 2001). Sie unterscheiden drei Formen von Anerkennung, die für das Handeln von Lehrpersonen – insbesondere im Migrationskontext – von fundamentaler Bedeutung sind: die «emotionale Anerkennung», die «moralische Anerkennung» und die «Anerkennung der Person».