Narziss und Narzisse

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Narziss und Narzisse
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ANDREA DRUMBL

NARZISS
UND
NARZISSE

ROMAN


in

dein

auge

fällt meine

träne meine

träne für dich

meine träne

die mitten

in dein

auge

fällt

Inhalt

ERSTER TEIL SOMMER

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

ZWEITER TEIL HERBST

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

DRITTER TEIL WINTER

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

VIERTER TEIL FRÜHLING

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

ERSTER TEIL SOMMER

I.

Als Gisela Rosenblüm am Tag der Sommersonnenwende in ihrem schmucken kleinen Wochenendhaus am Land zur Mittagszeit unter größten Schmerzen und mit verhaltenen Schreien und nur mit einer Haushebamme an ihrer Seite ihr zweites Kind zur Welt brachte, zog sich draußen ein gelber Sonnenglanz durchs Baumgeäst vor dem Fenster mit den Spitzengardinen.

So ein großes Glück, hörte sie die Haushebamme dicht bei ihr sagen, während diese das Kind abnabelte: unter der Sonne am Tag der Sommersonnenwende geboren. Mit dünnen Lippen blies sie dem Mädchen ins Gesicht und horchte auf den ersten Schrei aus seinem Mund, dann wischte sie ihm das Blut aus dem kleinen Gesicht und legte es an die Brust der Gisela Rosenblüm. In dem Moment, in dem sie ihr Kind in den Armen hielt, ging ihnen beiden die Nabelschnur verloren.

Draußen wurden Schritte laut, dann knallte eine Tür. Jakob Rosenblüm stürzte mit Judith, der fünfjährigen Tochter, ins Zimmer herein, auf seine Frau und sein neugeborenes Kind zu und nahm Gisela in seine großen starken Arme. Ihm war, als würde er zum ersten Mal in seinem Leben seine Frau in den Armen halten, als würde er zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt eine Frau festhalten. Es war das Paradies, dann der Himmel. Bis der zweite Lebensschrei des Kindes erklang.

Nurit, sagte er und malte seinem neugeborenen Töchterchen mit Rosenwasser eine Sonne auf die kleine Wange, sie soll Nurit heißen, unsere Butterblume, wie der Name in der Übersetzung aus dem Hebräischen heißt.

Judith klatschte in die kleinen Händchen und lachte entzückt über die Butterblume, ihr großes gemeinsames Familienglück. Es war ein Wunder. Ihr Wunder. Und das ganze Zimmer roch nach Rosenwasser.

Und irgendwann einmal, so flüsterte Jakob in Giselas Haar, wolle er ihr einen wunderschönen und mit bunten Perlen besetzten Leuchter schenken, wie einer Königin aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es sollte ein wunderschöner Leuchter sein, der sein Licht über den Boden fließen ließe wie ein Wassersturz. Und in seinem Licht würden auf blaugrauem Untergrund weiße Wasserblumen erblühen und karminrote indische Elefanten zu sehen sein, die über diese Wasserblumen liefen wie über Wolken in einen Himmel hinein. Es sollte ein Leuchter sein, der einer Königin gebührte. Es sollte ein Leuchter für seine Königin sein. Er sollte für Gisela sein.

Und vielleicht, so träumte er, könnte sie sich dann in dieses magische Licht setzen und wie die kluge Scheherazade mit Sindbad dem Seefahrer und Ali Baba und den vierzig Räubern wie auf dem fliegenden Teppich von König Salomo und seinen Scharen mitten in den Himmel hineinsegeln – mit ihrem wunderschönen braunen Haar als Segeltuch. Jakob wusste, dass er sentimental war, aber es kümmerte ihn nicht, im Gegenteil, er genoss es einfach. Mehr war es nicht. Auch nicht weniger.

Judith fragte, wer denn diese kluge Frau gewesen war, die mit Sindbad dem Seefahrer und Ali Baba und den vierzig Räubern wie auf einem fliegenden Teppich von König Salomo und seinen Scharen mitten in den Himmel hineingesegelt war. Jakob setzte Judith auf seinen Schoß und erzählte ihr das Märchen von Tausendundeiner Nacht. Judith war beeindruckt. Später einmal, nahm sie sich vor, wollte sie unbedingt so klug werden wie die schöne Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht, und genau das erklärte sie ihrem Vater mit der Andächtigkeit eines kleinen Kindes.

Die Haushebamme, die die ganze Zeit im Abseits gestanden war, verabschiedete sich nun freundschaftlich und empfahl Gisela Ruhe, damit sie sich von der Geburt erholen konnte. Dann ging sie mit ihrem luftigen Rock, der hinter ihr her wehte wie ein Sonnensegel, durch die Tür des Wochenendhauses nach draußen ins Freie.

Das Wochenendhaus war Jakobs Hochzeitsgeschenk für Gisela gewesen, die sich ein kleines Häuschen im Grünen mit einem Garten und Wiesen rundherum gewünscht hatte. Hinten gab es tatsächlich einen hübschen Garten mit Bäumen und sogar mit einem kleinen Bach mitten durch die Wiese hindurch. Querfeldein und -aus roch es sauer nach frisch umgegrabener Erde, Farn und Unkraut. Es war erholsam hier. Und so ruhig. Ein friedlicher Ausgleich zur Großstadt, die mit diesem Allerheiligen-Nebel in der Luft immer auch ein bisschen grau und unheimlich war.

Im Wochenendhaus, wie sie es beide nannten, weil sie nur ganz bestimmte Tage dort sein konnten und die restliche Zeit in ihrer Mietwohnung stadteinwärts lebten, hatten die beiden als junges Paar ihre Flitterwochen und später dann glückliche Stunden zu zweit verbracht. In diesem Haus war an einem Frühlingstag Judith gezeugt und ein wenig mehr als neun Monate später dann auf die Welt gebracht worden, nachdem das Paar über ein Jahrzehnt kinderlos geblieben war. Gisela hatte auf eine Hausgeburt bestanden, als Judith im Winter geboren werden sollte. In den Monaten danach waren sie die meiste Zeit im Wochenendhaus gewesen, denn das sei für das Kind besser, hatte Jakob gemeint, und Gisela hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt.

Jetzt küsste Jakob seine Frau auf den Mund und versprach ihr den Leuchter mit den wunderschönen bunten Perlen wie in Tausendundeiner Nacht. Den versprach er ihr hoch und heilig, damit sie dann in ihren Träumen auf seinem magischen Licht, das er warf, wie auf einem fliegenden Teppich mitten in den Himmel hineinsegeln konnte. Mit ihrem wunderschönen braunen Haar als Segeltuch.

Das war vor Giselas Kranksein, vor dieser vernichtenden Depression, die nach der Geburt über sie herfiel wie eine Erschütterung und in der sie sich mehr und mehr von Jakob abwandte, weil sie seinen Anblick nicht mehr ertrug. Den Kampf dagegen hatten sie beide verloren.

Früher, noch vor Nurits Geburt, hatten Jakob und manchmal auch Judith Gisela und dem Kind in ihrem Bauch alle Tage jeden Tag Sonnen vom Himmel gepflückt und den Sonnenglanz zu ihr und zu dem Kind in ihrem Bauch geschickt. Das war ein ungeheurer Liebesbeweis gewesen, und Gisela hatte sich immer zutiefst gerührt und glücklich gefühlt. Aber das hatte sich im Laufe der Zeit verändert, als Gisela so plötzlich nach der Geburt immer trauriger und unglücklicher mit sich und ihrem Leben wurde. Es überkam sie ganz plötzlich, es war grässlich, mit einem Mal nicht mehr der vergnügte Mensch zu sein, der sie früher einmal war.

Zwei Monate später dann, als Gisela frühmorgens an jenem Tag in diesem unseligen August an das rosenrote Kinderbettchen trat, um nach ihrem kleinen Baby zu schauen, fand sie Nurit leblos auf ihrem Pölsterchen liegend. In größter Panik riss Gisela an ihr, zerrte an ihr, packte sie, rüttelte sie und schrie sie an, schrie ihr mitten ins kleine Gesicht, bis sie keine Kraft mehr hatte. Bis Jakob aus dem Nebenzimmer kam und seine Frau aus ihrer Erstarrung ins Leben zurückholte. Er war es dann auch, der alles in die Wege leitete, was der Tod seines Kindes mit sich brachte. An diesem Tag machte sich zum ersten Mal ein stechender Schmerz in seiner Herzgegend bemerkbar.

 

Zehn Tage später fand dann die schlichte Beerdigung des Kindes am Friedhof stadtauswärts statt, der Judith und Gisela fernblieben, weil Gisela den Anblick des kleinen Kindersarges nicht ertrug und Jakob nicht wollte, dass Judith zugegen war, wenn man den kleinen Kindersarg in die Erde grub.

Und trotzdem sang die Luft im Wind, als man den kleinen Sarg so unbarmherzig in die Erde grub.

Daraufhin wurde Gisela allmählich wirr im Kopf.

Draußen dämmerte jetzt gerade der Abend herauf, und Glocken schlugen ihren lauten Glockenschlag. Letzte Sonnenstrahlen, spätes Licht. Wolken zogen auf. Dann wurde es auch wieder Nacht. In der Luft spürte sie den Herbst. Er kam früh in diesem Jahr. Im Baum und im Gebüsch vor Giselas Fenster draußen raschelte das Laub, raschelten die Blätter und berührten sich sacht im Wind.

Verzweiflung überkam Gisela, und in dieser ihrer größten Not fragte sie immerzu nach ihrem Kind. Immer fragte sie nach »ihrem Kindchen«, das ihres war mit diesem besitzanzeigenden, mit diesem besitzergreifenden Anspruch dabei, als wollte sie ihm dadurch das Leben zurückgeben, das es so früh verloren hatte. Irgendwann schlief sie dann trotzdem ein. Doch es brüllten Tiere in ihrem Kopf. Und wie sie aufblickte, war plötzlich ein Mann im Zimmer, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Lächelnd kam er auf sie zu. Sie sagte nichts, bewegte sich nicht, sie wollte nicht, dass ihr dieser Mann so nahe war, so sehr nahe war, viel zu nahe. Und doch regte sich etwas in ihr, als der fremde Mann zu ihr kam und auf sie einredete mit einer Zigarette im Mund. Etwas Kleines regte sich da in ihr, etwas Unscheinbares, Unbewusstes, etwas Ungewusstes. Es regte sich. Und dann wieder nicht. Er redete auf sie ein, und beim Sprechen hielt er seine Zigarette verächtlich zwischen den Lippen wie eine Beschimpfung. Plötzlich war es nicht mehr sie, die in diesem Zimmer war, sondern Judith mit Nurit, ihrem Kindchen, als Puppe in der Hand. Für Sekunden war die Szene wie erstarrt: der fremde Mann mit seiner Zigarette in seinem Mund, das kleine Mädchen in ängstlicher Erstarrung, dem fremden Mann so voll und ganz und ganz und gar schutzlos ausgeliefert und mit der Puppe in ihrem Arm. Da griff er ganz unerwartet und viel zu schnell für ein kleines Mädchen nach der Puppe und riss sie an sich. Dem Mädchen traten Tränen in die Augen, als es sah, wie er so dastand, mit der Puppe in seiner grobschlächtigen Hand. Ob er ihr die Puppe wegnehmen wird, fragte es in unschuldiger Verzweiflung. Natürlich, sagte er und grinste dabei so schaurig schrecklich wie ein verwester Totenschädel. Das Mädchen begriff nicht, warum, und es empfand nur mehr eine große Trauer um das, was man ihm genommen hatte, und wollte nur mehr weinen, Rotz und Wasser in die Bluse ihrer Mutter weinen, schluchzen und schreien, was denn das für eine Ungerechtigkeit war, was für eine Gemeinheit. Da traf dann so unmittelbar, so ganz und gar unmittelbar seine grobschlächtige Hand, zur Faust geballt, auf ihren kleinen Mädchenmund, traf seine Hand als Faust derart fest ihren kleinen Mädchenmund, dass sie taumelig schwankend und taumelig wankend hintenüberfiel, in Ohnmacht fiel. Es brüllten Tiere in ihrem kleinen geschundenen Mädchenkopf, viele wilde Tiere brüllten da in ihrem Kopf, trampelten ihr Bewusstsein nieder und schlugen Trommeln in ihrem Kopf, Trommeln zu einem wahnsinnig zuckenden Tanz in ihrem Kopf, bis Gisela aus dem Fiebertraum erwachte und nach dem kleinen Mädchen suchte, nach ihrem Kind, das sie am Tag der Sommersonnenwende zur Mittagszeit unter größten Schmerzen und mit verhaltenen Schreien geboren hatte. Aber es waren viel zu viele Schatten über ihrem Leben, es waren zu viele Schatten in ihrem Schoß. Langsam, ganz langsam zogen sich die Schatten zusammen. Allmählich verletzte es sehr. Da war der Tod dann überall. Und ihr war lebensmüdeübel. Weil der Kindstod eben lebenslänglich war.

Ein Tropfen zerrann in ihrem Mund.

Weil es ihre Schuld alleine war. Weil sie in ihrer Schuld so schuldig war. Weil es ihre Schuld war, ihre Schuld, ihre große, große, überlebensgroße Schuld. Einfach nur, weil sie war und ihr Kindchen nicht mehr war, sang es Sturm in ihrem Kopf, sang es: Kleines du, geh zur Ruh, mach meine Augen zu, und sang dann: übe mit mir das Sterben und brich den Augenblick auf, zerbrich die Stunden auf Morgen, es muss mein Leben sein, es muss mein Sterben mitten im Leben sein, es muss mitten im Leben sein, mitten im Leben, mittendrin, dann versprich mir die Sterne vom Himmel, erlösche sie und zerbrich sie an meinem Grab und stoße meinen Kopf ins feuchte nasse Gras, lass mich die Erde atmen, die Luft ist unter freiem Himmel wie geschliffenes Kristall, und Blutgeschmack staut sich im Mund, Blutgeruch liegt in der Luft, ich will die Stille hören, hörst du, ich will die Stille hören in dieser blutig braunen Nacht.

Aber wo hatte sie diese Melodie schon mal gehört und wo diese Worte gelesen, fragte sie sich, dann fiel es ihr wieder ein: Sie hatte das Gedicht als junge Frau in ihr Tagebuch geschrieben, als sie in jenem hochsommerheißen Juli in ihrem ersten einsamen und so todunglücklichen Liebeskummer verzweifelt am letzten Rest Hoffnung gehangen hatte, der ihr vom Leben noch geblieben war. Damals hatte sie gedacht, eine Welt würde für sie zusammenbrechen, und es bleibe ihr nur mehr das Sterben. Oder das Schreiben. In dieser Zeit hatte sie begonnen, Gedichte über die Liebe und deren Schmerz in ihr Tagebuch zu schreiben, unter anderem eben auch diese Zeilen, die ihr jetzt in ihrem Fieber wieder in den Sinn kamen. Was war sie doch für ein unglücklicher junger Mensch gewesen, bis ihr Jakob im Leben begegnet war, der sie aus ihrer Lethargie herausgeholt und ihr gezeigt hatte, was im Leben wirklich wichtig war. Mit ihm hatte sie angefangen, körperliche Lust zu empfinden und zu genießen, mit ihm hatte sie begonnen, endlich wieder glücklich zu sein. Trotzdem hatte es Jahre gedauert, bis sie sich dazu entschließen konnten, gemeinsam ein Kind zu gebären, und mit diesem Entschluss hatte sich so ziemlich alles geändert in ihrem Leben. Nichts war mehr so, wie es früher einmal gewesen war, alles wurde intensiver, stärker, unzertrennlicher. Und neu.

Mit Judith kam das größte Glück in unser Haus, hatte Jakob einmal gesagt, als sie nebeneinander im Bett lagen, nachdem sie sich leidenschaftlich geliebt und wie Ertrinkende aneinander festgeklammert hatten, als Jakob mit seiner ganzen Lust und Männlichkeit tief in Gisela eingedrungen und sie gemeinsam am Höhepunkt wie ein tausend funkelndes Feuerwerk explodiert waren. Das war so ungeheuerlich gewesen, dass beide danach eine Weile nur reglos nebeneinander liegen konnten, jeder für sich auf das gerade Erlebte fixiert. In dieser Nacht wurde tief in Giselas Bauch – mit all der schicksalshaften Zukunft dabei – Nurit gezeugt. In dieser Nacht wussten weder Jakob noch Gisela, was ein Jahr später auf sie zukommen sollte. In dieser Nacht waren beide einfach glücklich miteinander gewesen.

Kleines du, geh zur Ruh, mach meine Augen zu, sang Gisela jetzt mit dieser unheilvollen Stimme in ihrem Kopf, bis sie endlich wieder einschlief.

II.

In diesem Augenblick ging draußen, schon weit entfernt, Jakob durch die Gassen wie ein gehetztes Tier, lief fast, weil er sich fürchtete, weil er sich vor dem Nachtwerden fürchtete, weil dann die Albdrücke in sein Leben kamen wie welke Blätter. Wie schwarze tote Blütenblätter. Und der Nebel in dieser Jahreszeit war wie ein weißer, schweigender Dunst und die Stille wie ein tiefer Seufzer. Doch kein Mond. Aber diese fürchterlichen Schatten überall, sie schienen nicht mehr aufzuhören, schienen noch zusätzlich ihre eigenen Schatten vor sich hinzuwerfen. So viele Bilder in seinem müden Kopf. Er fühlte ein so großes Fehlen von Gisela in sich, und mit erstickten Tränen in seinen Augen stauten sich all seine Worte in seinem Hals.

Ein Tropfen zerrann auch in seinem Mund.

Dann fing sein Herz wieder an zu schmerzen, und er begann sich zu dehnen. Sich auszudehnen. Die langen Dunkelheiten in den Gassen gaben ihm Gelegenheit dazu. Ohne Licht und ohne Farbe folgte ein Schritt dem nächsten Schritt, Schritt auf Schritt. Und Schritt auf Schritt überkam ihn eine Einsamkeit, von der er nur mehr fort wollte und ihr doch nicht entkam.

Sein Kind war tot und seine Frau wahnsinnig geworden. Er hatte seine Frau verlassen. Er hatte sein totes Kind verlassen. Und Judith hatte er daraufhin auch noch im Stich gelassen. Weil er zu schwach für diese harte Prüfung in ihrem gemeinsamen Leben war und als Ehemann und Vater kläglich versagte.

Daran dachte er, als er jetzt seine Schritte, Schritt für Schritt, aneinanderreihte wie bei einer bleiernen Prozession, er dachte daran, wie er seine Frau verlassen hatte, wie er sein totes Kind verlassen hatte und wie er dann Judith bei Clara, einer entfernten Verwandten, gelassen, zurückgelassen hatte.

Nur vorübergehend, wie er betont hatte, es sollte nur vorübergehend sein, dass die Kleine bei dir leben kann, nur so lange, bis das Ärgste vorüber ist, und mach dir bitte keine Sorgen wegen des Geldes, das schicke ich dir wöchentlich, nur so lange, nur so lange darf die Kleine doch bei dir bleiben, nur so lange, bis das Ärgste dann endlich vorüber ist.

Das Geld hatte er ihr wöchentlich geschickt. Aber sehr viel mehr hatte er sich nicht um Judith bemüht.

Daran dachte er, als er jetzt mit dieser Furcht im Nacken und dem Stich im Herzen durch die Gassen in seine neue kleine Mietwohnung im Stadtzentrum ging, in die er sich, nur ein paar Straßen von der alten entfernt, nach der Trennung eingemietet hatte, die ihm aber auch keine Zuflucht mehr geben konnte, weil er ein kläglicher Versager war, den niemand, nicht einmal er selbst, mehr brauchte. Daran dachte er, als er jetzt sozusagen nach Hause ging, in ein Zuhause, in dem das Schweigen so schmerzhaft an den Wänden hing. In dieses Schweigen ging er direkt hinein. Es war sein Leiden. Sein Leiden für immer.

Gisela, seine große Liebe im Leben, sie war ihm so nahe und dann auch schon fort, einfach davongeglitten, aus den Fingern geglitten wie ein Fisch, den man mit bloßen Fingern fangen will. Das war ihre Krankheit, Giselas Gemütskrankheit, die sie einander fremd werden ließ. Daraufhin hatte er sie verlassen, feige hatte er seine Frau verlassen, feige hatte er auch sein totes Kind verlassen, und noch feiger hatte er Judith bei Clara gelassen, doch am feigsten hatte er seine Frau alleingelassen, hatte sie mit ihrem schweren Kummer im Stich gelassen. Und dabei wollte er doch einfach nur bei ihr sein und mit ihr sein, so wie früher, als ihr Leben noch in Ordnung war. Ein ungeheuerlicher Schmerz bohrte sich durch seine Brust, als er nach Luft rang, um sein Leben rang.

Plötzlich zog über ihm der Abendhimmel zu, und mit einem Mal gab es ein heftiges Gewitter, eine Explosion von einem Donnerwetter, das die Erde zittern ließ und die Luft mit grellen, hellen Blitzen verbrannte. Gerade rechtzeitig konnte sich Jakob noch unter einem Vordach in Sicherheit bringen.

Sein Kind war tot und seine Frau wahnsinnig geworden. Er hatte seine Frau verlassen und hatte damit auch sein totes Kind verlassen. Dann hatte er auch noch Judith bei Clara gelassen. Was ihm jetzt noch blieb, war einzig sein eigenes Leben. Und von diesem Leben blieb ihm nichts. Nichts. Außer diesem Stechen in seinem Herzen, das immer heftiger wurde und ihn ängstigte. Schon wieder Angst. Unsagbare Angst. Warum konnte er nicht endlich einmal so stark wie ein Mann sein, warum musste er so ein schrecklicher Schwächling sein, so ein Verlierer, ein verdammter Narr.

Er war der Narr und wusste, dass er als Narr ein echter Dummkopf war.

Von diesem Zeitpunkt an hasste er sich sehr.

III.

Ein paar Kilometer weiter zurück schaukelte sich die kleine Judith in einem großen Fernsehschaukelstuhl in ihrer kleinen Welt bei Clara, dieser netten Tante mit dem lieben Lächeln im Gesicht, vor und zurück, während sie sich einen Kinderzeichentrickfilm über Tiere im Fernsehen anschaute. Es war schon richtig spät, und trotzdem durfte sie noch auf sein. Das war wunderbar, denn das hatte sie zu Hause bei ihren Eltern früher nie dürfen. Draußen trommelte Regen gegen die Fensterscheiben, und auf den hübschen Vorhängen davor blühten kleine feine Margeriten. Das sah so schön aus, fand Judith, aber noch viel schöner waren die Vorhänge im Gästezimmer, das nun ihr Zimmer war, da wuchsen nämlich große gelbe Sonnenblumen auf grünem Untergrund, und das alles sah dann aus wie eine wunderschöne Sommersonnenblumenwiese.

 

Jetzt ist er tot, rief sie entzückt aus, als der böse Straßenköter in dem Kinderzeichentrickfilm, den sie gerade anschaute, in eine Falle geriet, die zuschnappte, als er einmal kurz nicht aufpasste. Tot war er trotzdem nicht, denn tote Tiere gab es in diesen Kinderzeichentrickfilmen nicht, die Clara der kleinen Judith zu schauen erlaubte.

Clara war eine so nette Frau, dachte Judith, als sie ihr kleines Händchen in die Schüssel mit den Keksen führte, so groß und so gescheit, wenn sie mit ihrer tiefen Stimme etwas sagte, so ernst und dann wieder lustig, wenn sie lachte, denn wenn sie lachte, dann warf sie den Kopf in den Nacken zurück und lachte lauthals heraus. Am schönsten aber fand Judith Claras Haar, das locker und weich über ihren Rücken fiel, wenn sie es bürstete und Judith ihr dabei zusehen durfte. Dann würde sie sich am liebsten hineinwühlen in diese Wellen ihres weichen Haares wie in ein Wasser, das sie ja auch so sehr liebte. Denn Judith liebte viele Dinge auf der Welt, da waren ihre hübschen Spielsachen, allen voran natürlich ihre Lieblingspuppe Berta mit dem blonden Puppenkopf und den blauen Augen, da waren aber auch all die Süßigkeiten, die sie niemals essen konnte, weil es viel zu viele waren und ihr dann bestimmt übel wurde, da waren lustige Kinderzeichentrickfilme, die liebte sie heute am meisten – und da war Clara mit ihrem wunderschönen Haar, die immer so nett zu ihr war, und ihre Mutter, der es nicht so gut ging, weil das kleine Schwesterchen so plötzlich gestorben war, und da war ihr Vater, den liebte sie heute nur ein bisschen, weil er sie weggegeben hatte, das verzieh sie ihm nicht. Wenn sie daran denken musste, und das kam immerhin öfter vor, als sie wollte, dann kamen ihr die Tränen in die Augen, weil sie es als eine Gemeinheit empfand.

Richtig gemein, schimpfte sie in den Fernseher hinein und stopfte sich eine Handvoll Kekse in den kleinen Mädchenmund.

Warum ist der doofe Straßenköter nicht endlich mausetot, schimpfte sie weiter, als der doofe Straßenköter im Kinderzeichentrickfilm blöde vom Bildschirm grinste, bis ihm die Spucke aus den Mundwinkeln sabberte.

Immer wenn sie an ihren Vater und an diese große Gemeinheit von ihm denken musste, wurde sie zornig auf sich und auf die ganze übrige Welt, und immer kamen diese Gedanken so ganz plötzlich in ihren Kopf. Sie kamen ohne Vorwarnung, sie waren einfach da. Sie kamen, wenn sie fernschaute, sie kamen, wenn sie naschte, sie kamen, wenn sie Clara beim Haarebürsten zuschaute, und sie kamen, wenn sie mit ihren vielen hübschen Spielsachen spielte. Und das empfand sie dann auch wieder als eine große Gemeinheit, weil sie diese Wut in sich ja gar nicht mochte, sie fühlte sich schlecht dabei und würde viel lieber froh und heiter über lustige Dinge lachen und nicht mehr wütend sein.

Alles war so eine große Gemeinheit, und doch liebte sie die »Tante« sehr, so nannte sie Clara nämlich insgeheim, obwohl Clara ihr erklärt hatte, dass sie keine Tante sei, bloß die Clara, so hatte sie gesagt, aber Judith gefiel der Gedanke an eine liebevolle Tante, das gab ihr eine gewisse Sicherheit, nachdem sie ihr Vater im Stich gelassen hatte.

Und auch ihre Mutter.

Aber die war ja krank, weil ihr ja schließlich Judiths Schwesterchen im Schlaf einfach gestorben war. Ihr Vater jedoch – was hatte der schon damit zu tun, der wusste ja nicht, was das bedeutete, wenn einem das Schwesterchen einfach so von einer Minute auf die andere wegstirbt und man keine Spielgefährtin mehr hat zum Puppenspielen oder zum lustige Hüpfliedersingen, obwohl die kleine Schwester eigentlich noch viel zu klein war zum Puppenspielen und zum Hüpfliedersingen, aber trotzdem war sie da und schaute Judith zumindest aus ihren Babyaugen zu, wie diese mit den Puppen spielte und ihre Hüpflieder sang. Was wusste ihr Vater schon, was Judith das bedeutete! Feige war er, jawohl! Und ein feiger Mann ist ein Narr. Er war der Narr. Weil er als Narr der Dummkopf war.

Judith wollte nicht mehr länger den Kinderzeichentrickfilm über Tiere im Fernseher anschauen, sie wollte lieber rausgehen und mit den anderen Kindern draußen auf der Straße spielen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass es schon viel zu spät dafür war und es immer noch vom Himmel regnete wie aus vollen Kübeln. Sie ging zum Fernseher und legte einen anderen Kinderfilm ein, der von einem kleinen Mädchen handelte, das nicht in die Schule gehen wollte und stattdessen viele Abenteuer erlebte. Das war spannend. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Judith die Geschichte von dem abenteuerlustigen Schulmädchen auf dem Fernsehbildschirm. Dabei vergaß sie ganz, im Fernsehschaukelstuhl zu wippen.

Unwillkürlich musste sie daran denken, wie ihr Vater, kurz nachdem ihr Schwesterchen am Tag der Sommersonnenwende auf die Welt gekommen war, ihr die Geschichte von der klugen Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht erzählt hatte, wie diese den persischen König Schahrayâr durch ihre Erzählungen von Sindbad, dem Seefahrer aus Bagdad, von Ali Baba und den vierzig Räubern mit ihren kostbaren Schätzen, vom Kalifen Harun al-Raschid mit seinem indischen Elefanten und von Aladin mit der Wunderlampe über tausend und eine Nacht hindurch überlistete und auf diese Weise überlebte.

Das hatte so unglaublich spannend geklungen, so etwas wollte auch Judith unbedingt einmal erleben, wollte einen Geist wie Dschinn von Aladins Lampe haben, der ihr immer half, wenn sie Hilfe brauchte, und wollte vierzig Räuber wie Ali Baba haben, die ihr ebenfalls halfen, wenn sie Hilfe brauchte, wollte dann unbedingt irgendwann einmal einen knallebunten Elefanten aus Indien haben und dabei wollte sie so schlau wie Scheherazade sein, die bestimmt genauso schönes Haar wie Clara hatte.

Und mit dem eisernen Ehrenwort eines Kindes gab sich Judith das Versprechen, genauso tapfer und mutig und klug zu sein wie Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht und niemals so feige und dumm wie ihr Vater, dieser Narr, der sie im Stich gelassen hatte, als sie ihn am notwendigsten gebraucht hätte. Trotzdem hatte er ihr nach Nurits Geburt jeden Abend aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen, wenn sie schon schlaftrunken im Bett gelegen war, dann blieb er zuerst immer vor dem großen Bücherregal auf der linken Seitenwand im Wohnzimmer stehen, richtig geheimnisvoll war das immer, wenn er dort stand und ihn Judith durch die Verbindungstür dabei beobachtete, wie er überlegte und dann nach einem Buch im Bücherregal fischte.

Tausendundeine Nacht, sagte ihr Vater dann immer sanft zu Judith hin, und sie klatschte entzückt in die Hände und freute sich sehr.

Warum konnte es das jetzt nicht mehr geben, fragte sie sich mit einem tief gefurchten Grübeln in der Stirn, das ihr das Aussehen einer reifen Frau verlieh, die alle Erfahrungen im Leben bereits gemacht zu haben schien und die sozusagen nichts mehr erschüttern konnte. Aber, und das unterschied Judith mit dieser weltgewandten erwachsenen Frau in ihrer kleinen Stirn, sie wusste leider keine Antwort darauf, und niemand konnte sie ihr geben, die Antwort auf diese Frage, die sie so unbedingt brauchte, um zu verstehen, was ihre Eltern zu solchen Entschlüssen gebracht hatte.

Im Fernsehen spielte das kleine Mädchen, das nicht in die Schule gehen wollte, gerade mit Hasen, und unwillkürlich verfolge Judith das Geschehen am Bildschirm, vergaß ihren Ärger, ihren großen Groll und klatschte begeistert in die Hände, als ein dressierter Hase Kunststücke machte.

Irgendwann, nahm sich Judith vor, wollte auch sie kleine Hasen haben und sie dressieren wie die Äffchen im Zoo, die zu gewissen Zeiten in ihrem Gehege für die Gäste ihre Aufführungen machten. Einmal war sie schon mit Clara dort gewesen und hatte noch Tage danach davon geschwärmt, und in der Nacht hatte sie davon geträumt, wie sie selbst mit einem Äffchen in einem kleinen Haus lebte, nur sie und das Äffchen und Clara lebten in diesem Haus in ihrem Traum. Es war bis jetzt Judiths allerschönster Traum gewesen. Tags darauf hatte sie Clara gefragt, ob es denn möglich sei, so ein kleines Äffchen zu bekommen, worauf diese prompt Nein gesagt hatte, weil ihr Mann, der Peter, das sicher nicht erlauben würde.

Das war bislang das erste Mal gewesen, dass ihr Clara einen Wunsch ausgeschlagen hatte. Aber vielleicht ließ sie sich ja zu Hasen überreden? Oder zu einem Elefanten? Zu so einem knallebunten Elefanten wie in Tausendundeine Nacht, ihrem Lieblingsmärchenbuch?

Das wäre schön, weil sie sich dann fast wie eine indische Prinzessin fühlen würde.

Aber Claras Mann, der Peter, würde wahrscheinlich auch das nicht erlauben, weil ihr Mann, der Peter, nämlich auch so ein gemeiner Rüpel war, streng und laut, wenn er sprach, und so riesengroß wie ein Hüne, dass Judith insgeheim sogar ein bisschen Angst vor ihm hatte. Der Peter arbeitete tagsüber in einer Bank und brauchte am Abend seine Ruhe, hatte Clara erklärt, weshalb Judith abends immer leise in ihrem Zimmer spielen musste. An den Wochenenden war der Peter aber lieb, da nahm er sich Zeit für die Damen, da waren sie alle drei sogar schon einmal Eis essen gewesen in so einem richtig schicken italienischen Eissalon in der Stadt, das war wahnsinnig aufregend gewesen, an diesem Wochenende. Aber unter der Woche war er ein Narr. So wie auch ihr Vater einer war.