Czytaj książkę: «Die Leben des Gaston Chevalier»
André David Winter
Die Leben des Gaston Chevalier
Roman
»Lange lernen wir an fremden Leben, irgendwann am eigenen.«
René David
Pour ma femme et mes enfants.
Inhalt
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Nachweise
Dank
Über den Autor
Impressum
I
Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Nachmittags flirrte die Luft in der Hitze. Über der Kirchturmspitze von Goussainville türmten sich schwere Gewitterwolken. Nur wenige Menschen bewegten sich, langsam. Die meisten standen unter der Platane auf der Place Hyacinthe, einige im Schatten der Markise des Café du Paradis. Der Einzige, der nicht zum Schlangenmensch hinüberlinste, war der Kolonialwarenhändler. Ungewöhnlich eilig trug er seine Waren nach drinnen, sein Sohn kurbelte das Sonnendach hoch. Ein paar Kinder saßen auf dem Randstein in der prallen Sonne, andere lehnten an Laternenpfählen. Sie fächelten sich mit Blättern Kühlung zu, die Männer mit Hüten, die Frauen mit Tüchlein. Zwei Fräuleins beschatteten ihre Gesichter mit Sonnenschirmen aus Seide. Die Glocke von Saint-Pierre-et-Saint-Paul schlug fünf, als erste Tropfen fielen.
»Enfin …«, hörte man den Wirt des Cafés sagen. Er nahm seine Brille ab und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht.
Yves Chevalier, der Kopffüßer – »artiste et céphalopode« stand auf dem Plakat –, hüpfte auf einer Hand, einen Ball auf seinen Füßen drehend, als der erste Donner durchs Val-d’Oise rollte. Gleich darauf ließ ein fürchterlicher Knall den Boden erzittern, als wäre eine der schweren Wolken heruntergefallen. Die Gläser auf den Tischen des Cafés klirrten. Ein Blitz zerriss den Himmel, schwere Tropfen prasselten auf die Blätter der Platane, auf die Markise des Cafés. Der Schlangenmensch sprang auf seine Beine und floh mit den anderen unter den Schutz. Ein Windstoß fuhr darunter und zerriss das Sonnendach, in Sekunden waren alle nass.
Yves Chevalier wand sich an feuchten Körpern vorbei ins Innere des Cafés. Jemand streckte ihm ein Glas Gros rouge, dem billigen Rotwein, hin. Merde, fluchte er und leerte das Glas in einem Zug. Wochenlang hatte dieser verwünschte Regen gewartet. Warum musste er gerade jetzt, bevor er das Geld eingesammelt hatte, losbrechen. Bald würden drei Mäuler zu stopfen sein. Albertine würde heulen, wenn er mit leeren Taschen nach Hause käme. Er drängte wieder nach draußen.
Noch einmal fuhr der Wind in die zerfetzte Markise. Gläser fielen auf den Gehsteig und zerbrachen. Ein Seidenschirm flog durch die Luft. Chevalier und der Wirt sahen die beiden zitternden Fräuleins unter der Platane stehen. Der Wirt rannte los, seine Brillengläser beschlugen augenblicklich. Bevor er den Baum erreichte, überholte Yves Chevalier ihn. Obwohl Yves klein war, packte er die beiden Frauen mit erstaunlicher Kraft und zog sie in den Schutz des Cafés. Nur kurze Zeit später schlug der Blitz in die Platane ein. Die Tropfen wurden zu Hagelkörnern, groß wie Taubeneier.
»Bravo«, riefen alle, die es gesehen hatten. Yves Chevalier zog seinen Zylinder, verneigte sich und hielt ihn dem Nächstbesten hin. Die Sous und Centimes klimperten nur so in den zerbeulten Hut. Die Fräuleins legten zwei Scheine hinein.
So plötzlich, wie er gekommen war, hörte der Hagel auf. Bald regnete es auch nicht mehr. Eigentlich wäre es für Yves Zeit, sich auf den Weg zu machen. Bis ins Quartier du Petit-Montrouge waren es ein paar Stunden zu Fuß. Vielleicht lag Albertine schon in den Wehen.
Die Ältere der beiden Fräuleins verabschiedete sich. Auf dem Schoß der Jüngeren vergaß Yves Chevalier die Zeit, seine Frau, ihre besonderen Umstände, alles. Zudem tat der Gros rouge seine Wirkung, schon bald schmiegte das Mädchen sich an ihn wie ein Kätzchen. Verliebt schaute sie ihm in die Augen:
»Ist alles an dir so winzig?«
»Lass uns nachschauen.«
Als Yves Chevalier endlich im Petit-Montrouge anlangte, lag seine Frau schon in den Wehen und schrie ihn an:
»Hol endlich die verfluchte Hebamme.«
Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, ihr Gesicht war schneeweiß. Er schaute sie verdutzt an, seine sonst so flinken Hände hingen hilflos herab.
»Geh, so geh doch endlich«, schrie sie ihn nochmals an.
Yves rannte los. Doch die Hebamme war außer Haus, bei einer Gebärenden in der Rue Didot. Als er dort ankam, war sie bereits wieder weg.
»Wissen Sie, wo sie ist«, fragte er den frisch gebackenen Vater.
Der zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Sie sagte nur, nach dieser Plackerei brauche sie einen Schluck.«
Daraufhin suchte Chevalier sie in jeder Kneipe im vierzehnten Arrondissement. Sie war nirgends zu finden. Aber alle, die er auf die Hebamme ansprach, spendierten ihm ein Glas.
»Auf die Vaterschaft, copain!«
Bis er die Vaterschaft vergaß.
Eine Nachbarin, die die Schreie der Gebärenden hörte, rief eine Ambulance, die sie in letzter Minute ins nahe gelegene Hôpital brachte.
Im Geburtsregister des Pariser Stadtteils Montparnasse und dem Klinikprotokoll des Hôpital Cochin war zu lesen:
Gaston Chevalier, Sohn der Albertine Chevalier, geboren am 16. Juni 1929, fünf Uhr morgens, Hôpital Cochin, Rue du Faubourg Saint-Jacques 27, in Abwesenheit des Vaters Yves Chevalier.
Letzteres zumindest stimmte. Gastons Vater war meist abwesend. Sein unstetes Akrobaten- und Wanderleben führte ihn durch ganz Frankreich. Immerhin schickte er von Zeit zu Zeit etwas Geld, doch zum Leben reichte es nicht. Gastons Mutter tat, was sie schon vor seiner Geburt getan hatte, sie arbeitete als Modistin in der kleinen Herrenhutmanufaktur »Les beaux chapeaux pour les beaux« und brachte den Jungen einer Nachbarin, die sich mehr schlecht als recht um ihn kümmerte.
Wenn sie ihn abends abholte, tingelten sie manchmal alle zusammen durch die Bistros und Cafés von Montparnasse. Sie tanzte mit Gaston im Arm zu den Klängen eines Accordéoniste zwischen anderen Nachtschwärmern oder setzte ihn einer Fremden auf den Schoß, die betrunken mitschunkelte.
Immer fand sich einer, der sie zu einem Glas Gros rouge einlud. Die Einladungen zum Tête-à-Tête, die dem Gros rouge oft folgten, schlug sie zu Beginn alle aus, irgendwann nahm sie sie doch an, sie zwangen sie jedoch, Gaston zu Hause zu lassen. Zum Trost durfte er in ihrem großen Bett liegen. Ins Fläschchen, das sie ihm gab, hatte sie ein paar Tropfen Wein getan. Alle im Quartier taten das. Wein gab warm, Wein gab Kraft! Und der Junge schlief durch.
Meist kroch sie erst im Morgengrauen zu ihm ins Bett. Manchmal musste sie aber auch zuerst in irgendeiner Absteige ihren Rausch ausschlafen.
Gaston wurde älter, und es wurde schwieriger, ihn allein zu lassen. Sie überließ ihn den Kindern auf der Straße und steckte ihnen ein paar Karamellen zu. Wenn die fertig gelutscht waren, vergaßen die Kinder den Bub. Irgendeine Mutter fand den plärrenden Jungen und passte widerwillig auf ihn auf. Wenn Gastons Mutter zurückkam, fauchte die Frau sie an.
»Hier, nehmen Sie ihren Balg, ich plage mich schon genug mit meinen eigenen.«
Albertine packte den Jungen und brachte ihn ein paar Straßen weiter zu ihrer Tante und versprach, für ihre tägliche Ration Wein zu sorgen. Sie hatte lange gezögert, diesen Schritt zu tun, aber sie sah keinen anderen Ausweg. Sie brauchte Geld.
Zu Beginn hatte Gastons Großtante Freude an dem Jungen, er brachte ein wenig Ablenkung in ihr tristes Leben. Aber schon bald ließ auch sie ihn alleine in ihrer schmutzigen Wohnung. Das bisschen Wein, das ihre Nichte ihr brachte, reichte nicht. Wein brauchte man, um zu vergessen. Und es gab viel, was sie vergessen wollte. So vergaß sie auch Gaston. Stundenlang lag oder saß er da, brabbelte etwas vor sich hin. Bald aber starrte er nur noch an die Decke. Manchmal lag ein Stück Brot neben ihm, manchmal nicht.
Albertine wurde immer unzuverlässiger. Mal kam sie nur jeden dritten Tag mit den zwei Flaschen Gros rouge, dann verstrich sogar eine ganze Woche, bis sie wieder auftauchte. Gastons Großtante hatte genug von ihrer Nichte und deren Sohn, sie entschied, ihn zurückbringen. Als sie zum Haus kam, in dem Albertine wohnte, erklärte ihr die Concierge, Madame Chevalier wohne schon seit Tagen nicht mehr hier.
»Einfach abgehauen ist sie, ohne die Miete zu zahlen, das Miststück.«
Albertines Tante schaute die Concierge verdutzt an.
»Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«
»Bien sûr, in Marseille, ist mit irgend so ’nem Großmaul dorthin abgehauen. Hat ihr wohl das Paradies auf Erden versprochen. Allen im Quartier hat sie es erzählt. Wussten Sie das denn nicht?«
»Verdammtes Luder«, lallte sie.
Gaston begann zu quengeln, als hätte er jedes Wort verstanden. Seltsam, dachte seine Großtante, er kann doch gar nicht sprechen. Einen Moment lang sann sie darüber nach, ihn ins Waisenhaus zu bringen, aber dafür steckte ihre Kindheit ihr noch zu sehr in den Knochen.
Der Junge blieb und verwahrloste zunehmend. Im Alter von drei Jahren konnte er weder sprechen noch gehen. Auch schien er nicht mehr zu wachsen. Sein Kopf rollte hin und her, seine Zunge schnellte im Mund vor und zurück. Dann wieder lag er wie erstarrt da und betrachtete stundenlang die Flecken auf der Tapete oder die Krusten auf seiner Haut. Er schlappte Wasser, Wein oder in Milch eingelegte Brotbrocken aus einer Schüssel am Boden. Manchmal blickte seine Großtante zu ihm hin und fragte sich, wie dieses seltsame Tier in ihre Wohnung gekommen war.
»Schttt, geh weg, scher dich fort«, zischte sie und scheuchte es fort.
Aber das Tier blieb, schrie sie sogar an. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
»So bleib halt, du dummes Vieh.«
Als Gastons Vater wieder einmal in Paris war und sich nach seinem Sohn erkundigte, fand er ihn nach langem Suchen in der Wohnung der Alten. Gaston lag unter einem schmutzigen Leintuch und lallte vor sich hin. Seine geschlossenen Augen waren verklebt. Yves zog die Decke weg, Gaston war nackt. Sein abgemagerter Körper war über und über mit Kot und Krusten bedeckt. Es stank bestialisch. Yves Chevalier wurde übel.
Mit Tränen in den Augen nahm er den Jungen hoch und barg ihn in seinem Mantel. Noch immer rollte der Kopf des Kleinen hin und her. Er hielt ihn fest und rannte mit ihm aus der Wohnung. Dabei stieß er einen Stuhl um, die Alte schrak aus ihrem benebelten Schlaf auf.
»Halt«, keifte sie, »das ist mein Tier, gib es mir, gib es zurück, du verfluchter Dreckskerl«.
Als Yves aus der Haustür trat, klatschte Wasser von oben auf ihn und seinen Sohn herunter. Die Alte schrie aus dem Fenster.
»Haltet ihn, er hat es mir gestohlen.«
Erschrocken blieben die Nachbarn stehen. Sie blickten nach oben und sahen die keifende Alte. In den Armen des Mannes erkannte eine Frau den Kleinen, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
»Das ist Gaston, ihr Großneffe«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf den abgemagerten Jungen.
Ein paar Gaffer stellten sich dem Mann in den Weg, umringten ihn.
Verzweifelt sah Yves den Jungen an, als könne er ihm helfen. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Plötzlich öffnete er sie und schaute seinen Vater an. Gaston, sein Sohn, er war noch da.
»Vergib mir, mein Kleiner, bitte vergib mir.«
Mit Tränen in den Augen hielt Yves ihn hoch:
»Schaut, was passiert, wenn ein Vater sein Kind im Stich lässt. Schaut ihn euch an, meinen Sohn.«
Angewidert blickten die Gaffer auf den verschorften Körper des Kleinen und traten zurück. Sie ließen den Mann vorbei und schüttelten die Köpfe. Sie hatten schon viel gesehen, aber an so etwas konnten sie sich nicht erinnern.
II
Yves wusste, den Kleinen konnte er nicht, noch nicht auf seine Tourneen mitnehmen. So brachte er ihn in die Normandie, nach Castillon zu seiner Mutter Yvonne, die dort eine Maison de passe betrieb. Sie war nicht sehr erfreut, als sie das Telegramm las:
»Komme Montag – bringe Sohn mit – geht ihm schlecht – weiß sonst nicht wohin – Yves«
Bis dahin hatte sie gar nicht gewusst, dass sie einen Enkel hatte.
Mein Haus ist ja nun wirklich nicht der richtige Ort für ein Kind, dachte sie. Als sie jedoch den elenden Zustand des Kleinen sah, klatschte sie entsetzt in die Hände und war bereit, Gaston aufzunehmen.
»Aber nur, bis wir etwas Passenderes für ihn gefunden haben.«
»Mais bien sûr, Maman«, stimmte Yves ihr zu.
»Du schickst mir Geld für ihn.«
»Immer, wenn ich welches habe.«
»Du kommst ihn regelmäßig besuchen.«
»Ich verspreche es.«
Die jungen Frauen, die im Etablissement arbeiteten, waren entzückt, als sie den Kleinen sahen. Hatte Gaston vorher keine Mutter, so hatte er nun acht – und es schien, als ob seine Entwicklung sich verachtfachte. Einige der Frauen hatten eigene Kinder, die ihnen pflichtbewusste Fürsorgerinnen weggenommen hatten. Sie ließen Gaston all die Liebe zukommen, die sie ihren eigenen nicht geben konnten. Gaston wurde gebadet, gepflegt, gefüttert, verwöhnt. Seine Sœurs, wie er sie nannte, zogen ihm nur die schönsten Kleider an, nahmen ihn auf den Schoß, hätschelten ihn. Er nahm zu, seine Haut erholte sich, langsam begann er auch wieder zu wachsen.
Es war, wie Yves gesagt hatte, Gaston war noch da. Wie durch ein Wunder hatte er seine Jahre als Tier überlebt. Und nun war immer jemand für ihn da, spielte, tanzte, sang mit ihm. Rasch lernte er laufen und sprechen, ja sogar lesen. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis. Mit vier las er bereits einfache Kinderreime und plapperte oder sang sie seinen Sœurs vor:
Un, deux, trois, nous avons un gros chat.
Quatre, cinq, six, il a de longues griffes.
Sept, huit, neuf, il a mangé un œuf.
Dix, onze, douze, il est blanc et rouge.
Großmutter Yvonne schloss ihn ebenfalls ins Herz, auch wenn sie dies nach außen hin selten zeigte. Sie brachte ihm Tischmanieren bei und sorgte dafür, dass er ein gepflegtes Französisch sprach.
»Auch an ihren Worten werdet ihr sie erkennen«, hob sie jeweils mahnend den Zeigefinger, wenn Gaston ein schlüpfriges Wort entfuhr, das er von den Mädchen gehört hatte. Sie war auch die Einzige, die streng mit ihm sein konnte, wenn es ihr zu wild wurde.
»So, Schluss jetzt, er ist nicht euer Spielzeug. Hier geht es ja zu wie im Bordell. Zeit für dein Schläfchen, Gaston.«
Die Mädchen kicherten.
»Nur noch ein bisschen, Mémère.«
»Was habe ich gesagt, Gaston?«
»Oui, Mémère.«
Mit gesenktem Köpfchen stieg er auf seinen Beinchen die Stufen zum Zimmer hoch.
Zu den Mädchen gewandt, meinte sie:
»Ihr verzärtelt ihn zu sehr, bald kommt er in die Schule. Dort wird es anders zu- und hergehen, das wisst ihr selbst.«
»Oui, Madame Yvonne«, sagten auch sie folgsam und zwinkerten Gaston zu, der sich auf der Treppe noch einmal umgedreht hatte.
Denn die nächste Albernheit wartete schon. Nach dem Schläfchen.
Mit Kindern konnte er nur selten spielen, manchmal besuchte Mémère mit ihm seinen Vetter Maxime, der eine Halbtagesreise entfernt, in Bayeux, wohnte. Meist streifte er alleine oder mit Paulette, die er von allen Mädchen am liebsten hatte, durch die Felder oder badete seine kleinen Füße im Bach. Er schaute den Forellen und Schmetterlingen zu oder den fetten normannischen Kühen beim Grasen. Manchmal, wenn sein Blick lange auf ihrem Fell verweilte, erkannte er darin plötzlich die Flecken, die er stundenlang angestarrt hatte. Er wusste nicht mehr, wo das war, aber die Flecken hier machten ihm Angst. Er hatte vor vielem Angst. Davor, was hinter Türen lauerte. Vor seinen schlimmen Träumen, den tiefen Stimmen der Männer. Vielleicht waren sie gar nicht wegen der Mädchen hier, sondern waren gekommen, um ihn zu holen. Gaston war ständig auf der Hut.
Um sich von seinen dunklen Gedanken abzulenken, half er Madame Taillard, der alten Wirtschafterin, oft beim Wäscheaufhängen und versteckte sich zwischen den frisch gewaschenen weißen Laken. Er liebte es, auf ihrem Schoß zu sitzen und ihr ein Gedicht aufzusagen oder ein Lied vorzusingen, bevor er ihr in der Küche zur Hand ging. Oder er legte sich, wenn die Männer fort waren, zu Paulette ins Bett und weinte, und Paulette weinte mit ihm.
»Alles wird gut, Jacques«, flüsterte sie ihm schlaftrunken ins Ohr. Sie nahm ihn in den Arm, streichelte seine Wangen mit ihren zarten Händen, wischte seine Tränen weg.
Es machte Gaston nichts, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte, solange sie ihn nur festhielt und er ihren Duft einatmen durfte.
Paulette las als Einzige der Mädchen leidenschaftlich gern. In ihren freien Stunden saß sie oft mit einem Buch auf einer Decke unter dem alten Birnbaum hinterm Haus.
»Darf ich bei dir sein?«, fragte Gaston.
»Nur, wenn du mucksmäuschenstill bist.«
»Das werde ich, versprochen.«
Gaston saß neben ihr und las in seiner Fibel. Er schielte zu ihr hinüber, sah ihr blondes Haar in der Sonne glänzen, ihre Sommersprossen, das kleine Muttermal auf ihrer linken Wange. Er sah sich das Buch an und las den Titel: Nana. Das Buch war alt und abgegriffen, sein Rücken zerbrochen. Es passte nicht zu Paulettes Schönheit.
»Warum ist es so alt?«, fragte er plötzlich.
»Bitte, sag es mir.«
Sie blickte ihn nachdenklich an.
»Weil in alten Büchern mehr Geschichten sind.«
Er verstand nicht.
»Mehr als in neuen?«
»Sicher, schau selbst.«
Sie hielt ihm das offene Buch hin. Einzelne Sätze waren unterstrichen. Am Rand hatte jemand etwas hingeschrieben. Er konnte es nicht lesen.
»Die Menschen, die es schon gelesen haben, haben ihre Gedanken, ihre Geschichten hineingeschrieben. Ich liebe es, mir vorzustellen, wann und wo und warum sie das getan haben. Was sie sich dabei dachten. Siehst du, viel mehr Geschichten als in einem neuen Buch.«
»Bitte, lies mir vor.«
»Du hast versprochen, still zu sein.«
»Das bin ich wieder, wenn du mir vorliest.«
»Das ist nichts für Kinder.«
»Bitte, bitte.«
Eine Träne rollte über seine Wange.
»Du erzählst keinem ein Sterbenswörtchen.«
»Niemandem.«
»Unser Geheimnis.«
Er nickte.
»Schwöre es.«
Er hielt drei Finger in die Luft.
»Ich schwöre.«
Sie begann zu lesen. Er schmiegte sich an sie und lauschte. Noch nie war er so glücklich gewesen.
An Regentagen lagen sie zusammen auf dem Bett in Paulettes Zimmer. Wenn sie fertig vorgelesen hatte, schwiegen sie eine Weile. Danach machten sie meist einen Spaziergang auf der geblümten Tapete, gingen von Blume zu Blume, sprachen mit ihnen.
»Guten Tag, liebe Hyazinthe, genießt du den Tag? Was sagst du, eine böse Larve frisst an deiner Zwiebel. Haben Sie gehört, Monsieur Gaston, ist das nicht empörend?«
Gaston nickte und schimpfte mit der Larve.
»Du böse Larve.«
»Oh, Madame Rose, was erzählen Sie mir da, Sie lassen mich erröten. Wer hätte das gedacht, in so jungen Jahren, ein veritabler Skandal. Seien Sie versichert, ich werde es niemandem erzählen, nicht einmal Monsieur Gaston. Grüßen Sie ihre Mutter von mir.«
»Was hat sie gesagt? Bitte erzähle es mir.«
»Nein, ich darf nicht, ich habe es versprochen.«
»Bitte, bitte, du darfst es mir auch ins Ohr flüstern.«
Paulette verschränkte die Arme, schüttelte den Kopf.
»Ich werde es niemandem weitererzählen, heiliges Ehrenwort«, bettelte er.
Paulette schüttelte noch immer den Kopf, schielte aber zur Rose hinüber.
Gastons Mundwinkel fingen an zu zittern, er kämpfte gegen die Tränen.
»Also gut.«
Paulette flüsterte Gaston Madames Roses Geheimnis ins Ohr.
»Oh«, sagte er nur und schüttelte ebenfalls den Kopf.
Beide schwiegen eine Weile, bis sich plötzlich Mademoiselle Tulipe einmischte.
»Nein, Mademoiselle«, gab Paulette ihr energisch zur Antwort, »wir werden Ihnen nichts verraten, nicht wahr, Monsieur Gaston.«
»Kein Sterbenswörtchen.«
Manchmal stellten ihn seine grandes Sœurs, nachdem sie ihn fein herausgeputzt hatten, auf einen der Sessel im roten Salon und ließen ihn vor den Zigarre rauchenden Männern ein Gedicht aufsagen. Dafür bekam er jedes Mal ein paar Centimes.
»Was für ein Prachtkerlchen. Wie heißt du denn, mein Kleiner?«, fragte einer der Männer.
»Ich bin Gaston, der Bär«, brummelte er.
Er fletschte die Zähne, zeigte seine Krallen und rollte mit den Augen, wie es die Mädchen ihm beigebracht hatten.
Der Mann hob seinen Champagnerkelch.
»Auf Gaston, den Bären.«
Und Gaston bekam noch ein paar Münzen. Vom selben Herrn und einem anderen mit gezwirbeltem Bart, die sich beide lachend die Bäuche hielten.
Am Abend, wenn die Mädchen ihrem Gewerbe nachgingen, spähte er gelegentlich durch die Schlüssellöcher und sah die Männer sich auf ihnen wälzen. Manchmal schrien oder stöhnten sie und Gaston wollte ihnen zu Hilfe eilen. Wenn Mémère ihn erwischte, schimpfte sie und schickte ihn in sein Zimmer. Nach einer Weile schlich er in ein leeres Boudoir, setzte sich in einen Sessel und übte vor einer Poudreuse die Grimassen, die seine grandes Sœurs ihm beigebracht hatten.
»Ich bin Gaston der Affe, schaut nur, wie ich gaffe«, murmelte er.
Oder – und wieder fletschte er die Zähne: »Ich bin ein Löwe und fresse eine Möwe.« Dazu flatterte er mit den Armen.
Wenn er vom Faxenmachen müde war, saß er manchmal vor dem Spiegel und schaute sich lange an, bis er sich nicht mehr sah. Seltsam – er sah seine Augen, aber sich selbst nicht mehr. Auch niemand anderen. Er wurde ernst und still, sein Blick leer, er selber leer. Er war nicht mehr, niemand war mehr da.
Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Maman«, sagte er, und »Papa«, und schlief weinend ein.
Wenigstens Papa kam manchmal, wenn auch nicht oft, zu Besuch. Er zeigte Gaston die Plätze, wo er als Kind gespielt hatte, oder sie machten einen Ausflug zum Schloss von Balleroy. Sein Vater kaufte ihm einen kleinen weißen Bären und, wenn er genug Geld hatte, eine Waffel zur Lait au chocolat. Nachts schlief der Vater bei ihm im Bett und wurde zu seinem großen weißen Bären. Wenn er dachte, Gaston schlafe, schlich er zu einem der Mädchen. Gaston wartete voller Angst, bis er wieder kam.
Am nächsten Tag präsentierte Yves seinem Sohn im Hof die neuesten Kunststücke und zeigte ihm das Plakat. Er jonglierte mit seinen Schuhen, wie aus dem Nichts kamen immer mehr dazu.
»Damit werde ich berühmt, du wirst sehen, alle werden es sehen.«
»Yves Chevalier – le céphalopode« stand darauf. Die Bilder zeigten ihn auf dem Kopf gehend oder in den unmöglichsten Verdrehungen. Yves erzählte seinem Sohn vom Grand Cirque Milano, in dem er auftrat und der in Wahrheit ein kleiner Wanderzirkus war, der oft nicht genug Geld hatte, um seine Artisten zu bezahlen. Er berichtete ihm von den Berühmtheiten, mit denen er zusammenarbeitete. Von Marlène etwa, der Fledermaus, die durch die Zirkuskuppel schwebte.
»Sie hängt an den Beinen ihres Mannes am Trapez, der sich nur mit den Zähnen festhält.«
Gaston hörte mit großen Augen zu, wenn sein Vater von Alceste, der menschlichen Kanonenkugel, Mireille, der Frau mit Bart, oder dem traurigen Clown Pierrot erzählte. Er sah den Mann sich mit den Zähnen am Trapez festhalten und Marlène, seine Fledermausfrau, durchs Zelt fliegen. Besonders beeindruckte ihn, dass eine menschliche Kanonenkugel ein Loch durch die Zeltwand schießen konnte.
»Nimmst du mich mit, Papa?«
»Später, Gaston, später. Zuerst wartet ein anderer Zirkus auf dich, mit vielen Clowns.«
»Wie heißt er?«
»Schule, mein Junge. Dort wirst du lernen, mit Buchstaben und Zahlen zu jonglieren. Erst dann kann ich dich mitnehmen.«
»Ich kann schon lesen.«
»Ist das wahr? Und schreiben?«
Gaston schüttelte den Kopf.
»Siehst du. Du wirst dort schreiben und auch noch anderes lernen, das du später brauchen kannst.«
»Was denn?«
»Nun, zum Beispiel, wo die Eisbären wohnen.«
Er nahm Gastons kleinen Bären, steckte ihn in die Manteltasche und zog ihn aus einem der Hosenbeine wieder heraus.
Gaston lachte.
»Außerdem gibt es dort noch andere Kinder. Du wirst viel Spaß haben, du wirst sehen.«
Mémère und seine Sœurs erzogen Gaston zu einem artigen Jungen. Zwei Jahre nach seiner Ankunft trat er in die Schule ein. Er bekam ein Heft und Stifte und lernte Buchstaben und Zahlen schreiben. Sie zu jonglieren lernte er nicht. Aber schon bald, schien ihm, jonglierten sie in seinem Kopf. Sie purzelten darin herum wie lustige Clowns. Es war ein drolliges Spiel. Er sah, wie sie zuerst kurze Wörter bildeten. Wörter, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte. Manchmal verstand er sie, manchmal nicht. Später kamen komplizierte, lange Wörter dazu. Er schrieb sie in sein Heft.
ANAL.
WAFFELN.
DALADIER.
FEIGWARZE.
CUNNILINGUS.
GALGENMÄNNCHEN.
DAMPFLOKOMOTIVE.
Als der Lehrer die Wörter sah, bekam er einen roten Kopf.
»Wo hast du das her?«
»Aus meinem Kopf.«
Er gab ihm eine Ohrfeige.
»Lüg nicht! Das hast du von den Männern in eurem Sündenpfuhl. Dort hast du es gehört.«
»Was ist ein Sündenpfuhl?«
»Ein Bordell.«
»Was ist ein Bordell?«
Noch eine Ohrfeige. Mémère brauchte das Wort manchmal, er verstand es aber nicht. Auch nicht, weshalb er dafür eine Ohrfeige bekam.
Am nächsten Tag legte ihm der Lehrer ein dickes Buch hin.
»Nimm das und schlag darin jeden Tag fünfzig Wörter nach, das wird dir die anderen schon austreiben. Du schreibst nur noch diese Wörter auf, hast du gehört. Und jeden Tag wirst du mir zeigen, was du aufgeschrieben hast.«
Gaston bat Mémère, ihm ein neues Heft zu kaufen, und schrieb darin die Wörter des Lehrers auf. Seine eigenen Wörter schrieb er in sein Heft und versteckte es. Darauf musste er nun gut achtgeben.
Es war nicht so, wie Papa gesagt hatte. Schule war nicht lustig, Gaston musste oft weinen. Auf dem Pausenhof spielte niemand mit ihm. Viele Eltern hatten es ihren Kindern verboten. Wer es dennoch tat, wurde verspottet oder gehänselt. Ein paar Jungen aus seiner Klasse lauerten ihm auf dem Heimweg auf und riefen ihm »Hurenbalg« nach. Einmal schubsten sie ihn in den Bach, ein andermal warfen sie ihm Steine nach. Sie stahlen seine Stifte und zerbrachen sie. Gaston hatte keine Ahnung, weshalb.
Er wusste auch nicht, dass der Lehrer mit dem Pfarrer geredet hatte.
»So kann es nicht weitergehen, Euer Hochwürden. Wir müssen den Jungen retten und ihn da rausholen, sonst gerät er auf die schiefe Bahn. Er ist sehr intelligent, den Stoff der ersten Klasse hatte er in wenigen Wochen intus. Gehen Sie und holen Sie ihn aus diesem Teufelshaus. Als Vorsteher des Waisenhauses werden Sie doch noch einen Platz für ihn haben.«
Hochwürden faltete die Hände über dem Bauch.
»Die alte Chevalier wird ihn nicht einfach so rausrücken, das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Stürmen Sie dieses Hurenhaus meinetwegen mit ihren himmlischen Heerscharen. Schließlich sind Sie nicht umsonst per Du mit ihnen.«
»Mit wem?«, fragte der Pfarrer ein wenig brüskiert.
»Sie wissen schon, wen ich meine«, sagte der Lehrer und blickte ihn streng an.
So kam es, dass der Pfarrer bei Madame Chevalier vorsprach. Er war selbst regelmäßiger Gast im Haus, um den Filles de joie von Zeit zu Zeit moralischen Beistand zu leisten, wie er es nannte.
Natürlich war es Madame Chevalier nicht entgangen, wie die Leute bei ihren gelegentlichen Einkäufen im Dorf hinter ihrem Rücken tuschelten. Auch sie machte sich Gedanken. Gaston wurde älter, neugieriger, verständiger. Schon jetzt stellte er Fragen, die nicht mehr leicht zu beantworten waren.
»Warum ist der Bürgermeister, der doch schon verheiratet ist, nun auch mit Odette verheiratet?«
»Von wem hast du das?«
»Sie selbst hat es mir gesagt.«
Ein andermal fragte er, warum Monsieur Roux, der Arzt, der doch kein Kind mehr war, an Madeleines Brust nuckelte.
Gütiger – sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Wenn sie nur daran dachte, der Junge könnte etwas davon in der Schule erzählen, wurde ihr kalt und heiß zugleich. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Sie wusste, dass auch Gaston litt. Sein Lachen erklang viel seltener, er weinte nachts im Schlaf. Trotzdem würde sie ihn auf keinen Fall ins Waisenhaus geben, wie es der Pfarrer vorgeschlagen hatte. Schließlich war er nicht Waise, er hatte einen Vater.
Als Yves das nächste Mal zu Besuch kam, erinnerte sie ihn an seine Pflichten und sein Versprechen, etwas Passenderes für den Jungen zu finden. Natürlich wusste sie, dass er dafür nicht das Geld hatte.
»Mais alors – was kümmert’s mich«, gab ihr Yves zur Antwort. »So wird Gaston eben ein Zirkuskind. Wie sein Vater.« Und wie ich, als ich jung war, erinnerte sich Yvonne. Alle Chevaliers waren Zirkusleute. Sie sieht sich auf den Schultern ihres Vaters stehend durch die Manege reiten. Hört den Applaus des Publikums. Waren es nicht schöne Jahre?
In der Remise stand noch ihr alter Zirkuswagen. Sie beschloss, Yves das Geld für die Reparatur und einen Gaul vorzustrecken. Er würde es ihr so wenig zurückzahlen wie die Ausgaben für Gaston, die sie fein säuberlich auf eine Seite in ihr großes Kassenbuch eingetragen hatte. Dafür hätte sie ein Maul weniger zu stopfen.
Sie riss das Blatt aus dem Kassabuch. Es war entschieden. Für Gaston würde ein neues Leben beginnen.