Ferne Frau

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ALMA M. KARLIN • FERNE FRAU

ALMA M. KARLIN

Ferne Frau

Herausgeberin: Jerneja Jezernik

Nachwort: Jerneja Jezernik,

Dominique Bonsack

DRAVA


DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5

Telefon +43(0)463 501099

office@drava.at

www.drava.at

Lektorat: Sebastian Minkner

Das Manuskript von „Ferne Frau“ wird in der National- und Universitätsbibliothek von Ljubljana aufbewahrt (Nachlass Ms 1872).

Copyright © dieser Ausgabe 2021 bei Drava Verlag

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-957-9 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-85435-979-1 (Epub)

30. Juni 1934

Man sagt nicht umsonst: „Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus!“ Mein Schatten war klein, denn nur ein Brief warf ihn, und deshalb beachtete ich ihn nicht sonderlich. Es war ein sehr schöner Spätjunimorgen, als ich im Hause von Frau Professor S.[1] in Hamburg all die Blumen bewunderte, die mich an den Vortrag des vergangenen Abends erinnerten und über die die Morgensonne hinspielte. Meine Post lag daneben und wie immer las ich die Briefe Bekannter und Unbekannter und legte sie zur Beantwortung beiseite. Einer, der nach Cilli[2] gesandt und mir von Ort zu Ort nachgefahren war, stammte aus Wiesbaden und trug als Absender den Namen: Frank van Halen.[3] Ich öffnete und las ihn. Er zeichnete sich durch besondere Schönheit der Sprache aus und war in keiner Weise alltäglich. Es war eher der Ruf einer Seele über den Abgrund der Zeiten, als die kühle Bewunderung eines Lesers für den Verfasser. Selbst die Anrede war ungewöhnlich, sie lautete: Ferne Frau!

Mit ungewohntem Herzklopfen legte ich das Schreiben nieder, während es mir kalt über den Rücken ging. Ein alter Seelenbekannter, Freund oder Feind, doch war ich geneigt ersteres anzunehmen, trat neuerdings in mein Sein. Ich legte den Brief zu den übrigen. Er hatte mich sehr erfreut. Dennoch beantwortete ich ihn erst von Recklinghausen aus, und obgleich ich ganz nahe an Wiesbaden vorbeifahren sollte, sagte ich nichts davon. Etwas in mir warnte mich, eine persönliche Begegnung zu vermeiden. Vielleicht würde alles anders geworden sein, wenn ich der Stimme nicht gehorcht hätte …

Am 30. Juni 1934[4] verweilte ich bei lieben Freunden in Bergedorf bei Hamburg. Sie waren ebenfalls geheime Gegner des Hitlerregimes und wir verstanden uns gut. Von allem Anfang an war ich diesem System feind gewesen, weil es eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, eine Knechtung des Geistes bedeutete und weil es aus einer Anzahl von sich entfaltenden Seelen eine tote Masse machte, die zu Kriegszwecken verwendet werden sollte. Dennoch bin ich mit der Absicht ins Reich gekommen, selbst zu schauen und zu prüfen. Ein System, das mir mit meiner internationalen Einstellung und meinem Drange nach Individualität nicht lag, mochte einem Volke, das derart an Disziplin gewöhnt war und diese auch liebte, das gerne mit den Waffen rasselte und jede Uniform verehrte, vollkommen liegen. Je länger ich indessen umherreiste, die Meinungen der Leute hörte und die Auswirkungen beobachtete, desto überzeugter wurde ich, daß diese Art der Volksgemeinschaft jede wahre Kunst, jede Blüte des Geistes ersticken und ein Land in eine Festung verwandeln musste, in der beinahe schon jeder Säugling Soldat war. Ich machte aus meiner Ansicht auch kein Hehl, selbst jenen gegenüber nicht, die begeistert waren, aber ich dachte mir zum Schluß ganz richtig: Ich bin Ausländerin[5] und als solche geht mich das Tun und Treiben des Dritten Reichs nichts an. Allerdings merkte ich die Folgen damals schon auf dem Büchermarkt, denn was den Lesern in immer größerem Maße vorgesetzt werden mußte, war Kinderpapp. Nach und nach wurden meine Bücher in den Parteibüchereien[6] verboten und die meisten meiner Werke blieben unveröffentlicht liegen. Sehr kühne Verleger brachten die unbedeutendsten davon heraus und nur der große Leserkreis verhinderte den vollen Mißerfolg. Ich aber hatte es mir zum Grundsatz gemacht, das Regime nicht öffentlich anzugreifen, so lange meine Bücher geduldet wurden. Allerdings erwartete ich immer mit großem Krach vom Markt zu fliegen. Daß es nicht geschah, blieb bis zuletzt ein Wunder für mich …

An jenem für viele Menschen so denkwürdigen Tag waren wir bei irgendeinem Volksfest und spät heimgekehrt. Ich hatte mich schon zurückgezogen, als meine Bekannte mich nochmals herausrief. Ihr Bruder war heimgekommen und hatte von der Ermordung Röhms berichtet.

„Vielleicht ist es das Ende des Regimes“, dachten wir beide. Es war indessen nur die erste blutige Frucht …

Am folgenden Tag gor es überall. Man erfuhr von der Ermordung vieler Menschen, unter anderem auch von der Generals von Schleichers und seiner Gattin, und ich beklagte sein Schicksal, nicht ahnend, daß der Tote in meinem Leben eine Rolle spielen werde. So wenig wußte ich von deutscher Politik im Allgemeinen, daß ich kaum die Namen der einzelnen Reichskanzler kannte. Nur der gute alte Hindenburg war mir eine vertraute Gestalt. Als man ihn gewählt hatte, dachte ich weit draußen in der Übersee:[7] „Nun hat das deutsche Volk einen rechtlichen Mann an der Spitze!“ Und ich freute mich darüber.

In Godesberg saß ich auf dem Stuhl, auf dem Hitler angeblich gesessen hatte, ehe er zu der ersten seiner vielen Bluttaten schritt. Meine Abneigung wuchs. Da ich aber Gott sei Dank nicht unter ihm zu leben brauchte, entschloß ich mich, nur so lange er lebte, nicht wieder ins Reich zu kommen. Ich sah seinen Sturz voraus, nur nahm ich an, daß er viel, viel früher erfolgen würde …

Ich kehrte in mein Land zurück[8] und auf dem Pfad meines Lebens lag nur der kleine Schatten eines Briefes, der mit den Jahren ins Riesenhafte wuchs …

BRIEFE

Der erste wurde mir entwendet, hier sind die folgenden.

Wiesbaden, Sonnenbergerstraße 11,[9] 4. (?) 1934

Ob mein Dankesgruß die Frau an den Gestaden der Stadt der fließenden Wasser erreicht? – Ich war dankbar für das Erlebnis eines Menschen (Ihrer Hingabe an sich selbst und die Welt), dankbarer bin ich noch für den Brief, der heute zu mir fand, erste tatsächliche Brücke zu einem (vielleicht?) Wesensverwandten und erstes Tasten nach Jahren der Abgeschlossenheit und seelischer Dürre.

Mein Leben ist lärmerfüllt und alle Tage kommt der Briefträger (schien es Ihnen nicht auch wichtig, unentbehrlich und lächerlich zugleich?) mit einem Stoß Post und – nach einer halben Stunde bist du wieder allein und alles schließt sich zusammen wie eine Wand von Glas. –

Gewiss sind gute Gedanken „Segnungen“, wenn wir nicht selbst den Sperrkreis bilden. Für Ihr Gedenken, Alma M. Karlin, ist er aufgehoben, und es findet stets zu mir. Letzte Ereignisse (30.VI.)[10] verschieben meine Ausreise (höhere Gewalt) und ich … warte. Daß Sie mir so nahe waren, während ich Sie weitab suchte! Hätte Wiesbaden Sie doch für einen Tag festhalten können! Zu dem Finden „zweier Gnaden“ sage ich nichts, denn wir wandeln uns und schreiten fort und nichts ist so zerbrechlich als der Augenblick! Aber ich freue mich – egozentrischer Mensch, der ich bin – denn dann ist uns doch anscheinend ein Stück Weges eine Gnade verheißen und dafür leben wir. Mein bester und segnender Wunsch: Mögen sich die Dinge und die andere Seele mit Ihnen weiterentwickeln. Denn nichts anderes ist der Garant für menschliche Bindung: Entwickelt Euch an-und-für-einander!

Teilen Sie mir, bitte, mit, wann die „Stadt der fließenden Wasser“[11] erscheint. Heimatadresse bleibt Wiesbaden, auch wenn ich fort bin, was momentan schwierig erscheint, da jeder Reiseverkehr über See unterbunden wird. Für ihre liebe Frage, von wo ich abfahre, besten Dank, wenn, dann von Marseille nach Algier, von da nach Timbuktu, Sudan. Wenn nicht (das liegt bei den Göttern des Devisen- und Passamts), wird mein Weg bestimmt nach Cilli führen, weil ich es dann will. Und eine Stunde werden Sie Ihre leichtfertige Anfrage bereuen müssen. – Darf er? (…)

Alma M. Karlin, es widerstrebt alles andere als Anrede, drum nenne ich sie: liebe Frau vom Gestade der fließenden Wasser! Meine Gedanken sind um Sie, halten fern und ziehen herbei. Ich denke in Dingen des Lebens (was man so nennt) real und billige daher dem Denken Realität zu. Mein Gedenken soll Ihnen fernhalten: Dezentralisation, Zersplitterung und Vergeudung Ihres Selbst. Es mag sein, daß es Ihnen zur Zeit innerlich an nichts fehlt und dennoch werde ich den Gedanken nicht los, daß Sie etwas heftig bekämpfen, daß Ihr Wesen zersplittert. Vielleicht auch nur ein Reflex Ihrer Werke, in denen Sie dauernd in der Kampfstellung verharren. – Sie wünschen mir Frieden – das Beste, das ein Mensch mir wünschen kann. Wünschen Sie ihn mir, weil Sie fühlen, daß ich Frieden bin oder weil Sie ihn auch nicht fanden? Und er so auch für Sie, Nomadin ihrer Selbst, nur das Letzte, Erstrebenswerteste bedeutet. Sie meinen doch mit Frieden das „Drüberstehen“ in jeder Hinsicht? Das Gut-sein-können ohne Egoismus, das nachsichtige Urteil und das Besserwissen, ohne Recht behalten zu wollen?!

 

Wie schade, daß Sie hier durchgefahren sind und ich Ihnen die Lokomotive nicht ausspannen konnte! Für ein paar Stunden, gerade ich fand stets, daß mir die Stunden am Kilometerstein zwischen zwei Städten so viel Wertvolles brachten, Rückschauen und Erwarten, stille Besinnlichkeit vor dem Neuerleben.

Grüßen Sie Heidelberg von mir und wenn Sie daran denken, legen Sie dem Wind, der heute aus Süden weht, ein paar Grüße auf den Flügel.

Ihr neues Werk, ein Wagnis, denn solche Zeiträume und solches Denken verlangt einen vom Bestehenden gelösten Geist. Sie werden es aber schaffen! Ich glaube an Sie und an Ihr Werk.

Von Herzen sind meine Gedanken um Sie, mögen Sie Ihnen Kraft, innere Froheit (ein wenig schönes Wort, aber alles andere ist verbraucht) und das Wissen bringen: daß es Menschen gibt, die durch Sie sich selbst erleben, beinahe das Schönste, das man erreichen kann.

Mögen Ihnen die fließenden Wasser das zutragen: Wellen von Dank und dem Fühlen, daß Sie Freude machten

Ihrem Frank van Halen

Im ersten Brief hat er mir mitgeteilt, daß er beabsichtigte, nach Afrika auszuwandern und daß ihn meine Bücher[12] in die Tiefen der Urwälder, in die Stille der Wüste begleiten würden. Der kurze Hinweis auf den 30. Juni[13] ließ mich ahnen, daß er ein Gegner des Regimes und entschlossen war, sich ihm zu entziehen. Er machte mir den unbekannten Schreiber umso sympathischer …

Wiesbaden, 26. 8. 1934

Der lieben Frauen!

Briefe, die aus einer Stimmung wie der meinen heraus entstehen, vertragen keine Antwort! Ich schreibe nicht, weil ich Antwort erwarte, sondern ich schreibe in den Raum, wie ich in ein Mikrofon spreche, zum Unbekannten, zum dennoch Bekannten, und es befriedigt mich zu wissen, daß es dennoch irgendwie aufgefangen wird.

Seit Monaten erlebe ich eine Wandlung von einem Abschnitt zum anderen, vollkommen losgelöst von allen Menschen, die auch nur an der Peripherie meines Lebens entlangglitten, und verkapselt gegen meinen Zustrom. Also ein Zustand, der dem Ihren entsprach auf der östlichen Seite der Kugel. Eine Situation, die sich nur erhellen lässt, wenn man feststellt, daß mein Tod nur den Behörden auffallen würde. Sonst niemandem, denn wenn er eintreten würde, wäre es wahrscheinlich der Bäcker, der am Liegenbleiben der Brötchen mein erfolgtes „Ausscheiden“ als juristische Person konstatieren würde. Kennen Sie Peter Mendelssohns (ich sah ihn mal in Berlin, 20-jährig, gescheit, aber zu verwickelt in allerlei Banalitäten) Paris über mir?[14] Der einzige Deutsche außer Otto Flake,[15] der eine annähernd denkbare Formulierung des Geistes diesseits und jenseits des Rheins findet. Ich bin mütterlicherseits französisch, väterlicherseits deutsch,[16] in Straßburg, der Stadt romanischer Kultur und deutscher Bauernregeln geboren, also deshalb besonders interessiert. Woraus sich ergibt, daß ich mich als Angehöriger zweier Rassen fühle, eine Spaltung zu verbergen suche, und daher dem Luxemburger Otto Flake nahestehe. Wenn ich „das Maß aller Dinge und Maß an sich“ finden will, bin ich Bürger von Paris, wenn ich die beginnende Zersetzung des Individualismus, das moderne Leben und „Zivilisation“ (Konservenmusik, Tempo und Massen studieren will), lebe ich in Deutschland. Also eigentlich gehöre ich momentan nach Paris, bleibe aber hier, verbunden dem Traditionslosen dieser Badestadt, die mich nicht stört und mir nichts „zu lösen“ aufgibt. Kurgast und dadurch geschützt vor Bindungen jeder Art, ein Kurgast hat keine Pflichten und erscheint und verschwindet. (Dem inneren Prozeß und der Lage nach habe ich Afrika verschoben, denn ich wäre nicht in der Lage, notwendige Einsamkeiten zu ertragen. Die Harmonie fehlt mir, die notwendig ist zum Schlafen unter einem endlosen Wüstenhimmel, sowie die ruhige Hand zum Abschluß täglicher Mahlzeit.) – Zwischendurch bin ich von Mainz bis Rotterdam mit einem Rheinfrachtenkahn gefahren, Tage der Sonne, des Drecks und der Feststellung, daß von Holland der einzige Platz die „Boomscher“ in Rotterdam sind, der mich interessieren kann, weil nämlich da Schiffe liegen, Möglichkeiten also zur Flucht vor sich selbst. Außerdem denke ich an Lehrjahre in Argentinien, am Ende und doch am Anfang. Am Ende meiner Position als geachteter Bürger, am Anfang meiner Selbst. Ich begrüßte da die Werra, die mich einst durch die Biskaya stampfte. –

Arbeiten dementsprechend. Artikel über Gott und die Welt (man müßte sagen Weltattrappe), außerdem schreibe ich ein Buch: Die Schaukel[17], was grundverschieden vom Bisherigen ist.

Ein guter Begleiter meines Inneren Menschen war Ihr Buch (Salomoninseln und Japan wesentlich), dann die Windlichter des Todes.[18] Was für ein wunderbarer Titel!! –

Dieser Brief entstand so: Es ist Abend, draußen wunderbar, auf der Terrasse vor meinem Zimmer schwimmt der Mond in jener seltsamen Weiße. Mein Schreibtisch ist ein Gewirr von Blättern, Korrekturen und Abzügen, von Briefen längst verwehter Menschen, darunter einer, in dem meine geschiedene, wiederverheiratete Frau[19] sich wundert, daß ich noch lebe. In Berlin erzählte man sich, ich sei in Südamerika gestorben. Im Übrigen ändert das nichts an ihren Gefühlen, sie interessiert sich eben nur …

Drollig so ein Gefühl, den Leuten, die einen nun glücklich tot glauben, wieder durch Dennoch-Existenz lästig zu fallen. Im Übrigen passiert mir das schon zum dritten Mal, das man mich totsagt. (…)

Ich bin nun im Allgemeinen nicht zu sensitiv, aber plötzlich hatte ich das Gefühl des „Hinter mir steht einer“ (man gewöhnt sich an alles) und ich hörte: Schreib Alma M. Karlin, du mußt an sie schreiben, hörst du?! So schrieb ich dann, denn Herr van Halen II., mein eigenes Ich, das sich selbst kontrolliert, hatte das Gefühl, daß es nötig sei. Und da Halen II. stets weiß, was Halen I. tun sollte, ist sein Befehl ausgeführt. Ich verkehre schon so lange so mit mir, daß mich mein altes Ego nicht schreckt, wenn es neben mir sitzt (manchmal ist er mir so nah, daß ich ihm einen Whisky anbieten möchte). Also Halen II., der Kontrollgeist, sah eine Auslösung in Richtung „Celje“ für notwendig an. Darum schreibe ich!

Wenn man die Selbsttitulation „Armer kleiner Hund“ nicht mehr als Mitleid, sondern als Konstatierung empfindet, können Sie ermessen, daß Sie weit draußen nicht einsamer waren. Denn Halen II. nennt Halen I. einen armen kleinen Hund, aber ohne Spur von Mitleid, denn das kennt keiner von beiden „Ichs“. Ich darf nicht vergessen zu erwähnen, daß ich nicht weltschmerzlich bin, dazu bin ich zu alt und noch nicht vergreist, dazu bin ich zu jung. Ich stehe dazwischen oder analog: auf der Schaukel. Wenn ich eines Tages hinunterfalle, werde ich gleich auf dem Boden sitzen bleiben, die Beine kreuzen und Nabel-Beschauen! Hoffentlich! (…) Jetzt wird noch ein schöner Abendgang folgen zur Bahn, und wir werden uns (mein besseres Ich und mein müdes Ich) eingestehen, daß die Vollmondnacht überirdisch schön ist, werden uns das eingestehen, ohne uns zu schämen, in einer Zeit wie 1934 von Mond und so etwas zu reden, der doch längst Schlagerrequisit geworden. Wir können (wenn´s keiner merkt) noch „ergriffen“ sein im hellenischen Sinn, ergriffen sein aber ist, wenn die Umwelt es merkt, eine Taktlosigkeit …

Letzthin las ich: Hölle im Hirn (Van Gogh). Bleibender Eindruck. Und immer wieder Kipling, Confessiones Augustine, ein paar altargentinische Märchen, Karlin, zwei florentinische Chroniken, ein gar seltsamer Lebensablauf eines Gottsuchers (eine Monographie eines Mönchs von 1380).

Gerade schlägt die Uhr. Gerade so, wie es zu den unangenehmsten Gefühlen für mich gehört, in einem fremden Zimmer warten zu müssen, in dem eine Uhr tickt, gehört ein Uhrenschlag, den man von Kind auf kennt, zu den wenigen Dingen, die Connex herstellen von der Welt zur Erinnerung und von mir zur Welt.

Morgen früh erwartet mich meine Arbeit, die mich verlangt. Ich danke Ihnen, daß Sie so ruhig zugehört haben, Alma M. Karin, und ich zu Ihnen kommen durfte für eine Stunde. Denn während ich schrieb, hat mich der „Kontrollgeist“ verlassen, und Sie, die fremde, doch so gut gekannte Frau, sind zur Zuhörerin geworden. Ja, mehr als das! Haben Sie etwa heute Abend an mich gedacht? Ich hatte so ein Gefühl. Über mir spielte jemand von Claude Debussy Das Meer, jetzt verstummt er und alles ist still.

Die guten Geister seien um Sie!

Ihr Frank van Halen

Es ist gut, daß ein Halen den anderen aufforderte, diese Zeilen zu schreiben, denn sie zeigen heute, wie eine Seele, die bestimmt schien, dem Licht zuzufliegen – ein Falter mit leuchtenden Flügeln – durch die Unfähigkeit, die tiefverborgenen Schatten zu überwinden, erdwärts flatterten, in den Staub geriet und als häßliche Raupe enden mußte …

Beim Durchlesen dieser Briefe beschleicht mich Trauer, daß all mein Streben dieses Ende zu verhindern nicht imstande war.

Die letzte Erlösung kann eben immer nur aus sich selbst heraus erfolgen.

Kurhaus Schnepfenthal, im Thüringer Wald, Ostern 1935

Ferne Frau!

In doppeltem Sinne fern, weil auf meinen letzten Brief kein Lebenszeichen kam, in dem ich schilderte, wie sehr mir im Halbdunkel meiner Garage Ihre Zeilen Licht bedeuteten, daß ich froher von morgens bis abends bin und meine Sehnsucht den Zügen in der Nacht nachläuft, deren Lichterketten in der Ferne vorüberziehen.

Ostern findet mich im Thüringer Wald, ein paar Tage entflohen dem Gelärm und Dreck meiner täglich zu waschenden und pflegebedürftigen Autos fremder Leute.

Ostern findet mich im Wald, herrlichen Balkon vor meinem Zimmer und schweigender Blick über Berghänge, von denen die fernsten in einem sehnsüchtigen Blau sich an den Horizont schmiegen. Wozu Ihnen, ferne und unendlich nahe Frau, den Frühling schildern – wir erleben ihn ja intensiv.

Ihr esoterisches Märchen ist zutreffend, aber was hilft es, Parodie oder Komödie, gegen brutalste Tatsache. Ich schrieb Ihnen, viele viele Seiten von meinen Träumen, von meiner Sehnsucht, über blumenerfüllte Märkte zu gehen und schrieb Ihnen, daß es Träume bleiben müssen. Dank für die offene Tür, deren Schwelle ich wohl nie (?) überschreiten darf. Allein das Bewußtsein, in der freien Ferne ein Heim (!) wissen zu dürfen, ist schon Frieden.

Abgebrochen alle Beziehungen, sind Ihre Briefe, Märchenerzählerin, mir eine unendliche Freude und ein Band zu einer Welt, mit der mich alle meine besten Gedanken verbinden. Neben den harten Tatsachen schmutziger Kotflügel und reparierter Autos bleibt mir keine Stunde zum Schaffen, außer diesen wenigen gestohlenen Tagen hier, bis zum Herbst letzter Halt. Seit Wochen greife ich heute zum ersten Mal zu Papier und Feder. Man ist glücklich, daß man noch dazu kommt! Ferne Frau, heute lockt mich die Sonne, dem Wind mich zu überlassen und glücklich zu sein, Einzelfloß auf dem weiten Meer menschlicher Bindungen. Hart ist es einsam zu sein, nicht weil man es sein muß, sondern weil man es sein will, Resultat der Erlebnisse und der eigenen Seelenerkenntnis, aber Stunden wundervollster Kraft und ungebrochener Freude am Dasein erlebt man zutiefst nur allein, ferne Freundin, Märchenerzählerin und Hort und Hüterin meiner besten Stunden, für heute recht, recht, recht frohe Ostern. Frühlingsgeister über Ihnen und alle guten Wünschen segeln von mir, auf den Silberrändern zarter Wolken zu Ihnen. Ein Gebet im Wald zwischen Bäumen und singenden Gräsern für Sie, gebetet heute in früher Morgenstunde, wird Ihnen, lange bevor dieser Brief in Ihre Hände gelangt, zum Segen sein. Und das macht uns zu Menschen, daß der Flug der Gebete schneller ist als jede Post – Segnung einer im Übrigen zweifelhaften Zivilisation. Das Lied, das mir der Wald sang, sang er auch für Sie: Sei glücklich und freue dich.

 

Es denkt an Sie

Ihr Frank van Halen

Warum wäscht der Schriftsteller – denn das scheint er zu sein – die schmutzigen Kraftwagen fremder Leute? Schwebt auch über ihm, wie über so vielen, die dunkle Hand der Staatspolizei? Ich ahnte es, las es zwischen den Zeilen seiner Briefe und wurde deshalb zur „Märchenerzählerin“, weil ich in einem esoterischen Gewand[20] vom kommenden Sturm und vom Sturz des Dritten Reichs sprach …