Die Leute in Baubeln

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Die Leute in Baubeln
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Alfred Rohloff

Die Leute in Baubeln

Geschichten aus einem verschwundenen Land

ATHENA

Umschlagfotos von oben nach unten:

Foto 1: »Familie Kislat, Windberge (Baubeln), bei der Feldarbeit, 1943«. Quelle: Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), »Ebenroder (Stallupöner) Heimatbrief«, 34. Folge, Dezember 1997, S. 93 (eingesandt von Emma Beyer)

Foto 2: »Ernte in Matten: beim Aufladen der Garben auf den langen Leiterwagen, Lehrmädchen auf dem Pferd«. Quelle: Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), »Ebenroder (Stallupöner) Heimatbrief«, 35. Folge, Dezember 1998, S. 64 (eingesandt von Werner Jautelat)

Foto 3: »Roggenernte in Schenkenhagen (Schinkuhnen), Kornaust 1932: vorweg Bauer Wilhelm Demant als Hauer, dahinter seine Frau als Rooper«. Quelle: Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), »Ebenroder (Stallupöner) Heimatbrief«, 37. Folge, Dezember 2000, S. 71

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2015

Copyright der Printausgabe © 2015 by ATHENA-Verlag,

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2015 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-599-6

ISBN (ePUB) 978-3-89896-870-6

Baubeln und die Baubler

Sicher möchte der geneigte Leser gleich zu Anfang eine wenigstens entfernte Vorstellung von dem gewinnen, was Baubeln denn nun eigentlich ist oder war; und eine »entfernte« Vorstellung kann in der Tat auch nur gegeben werden, liegt doch dieses kleine Dörfchen sehr weit hinten, – ja noch weit hinter den Wäldern und Wiesen des Ostens. Auch hätte der geneigte Leser eine Reihe mittlerer und großer Flüsse zu überqueren, wollte er dieses kleine Örtchen mit seiner Hauptstraße, seinem Dorfplatz und seinen fünf Feldwegen persönlich in Augenschein nehmen. Hinzu kommt, daß die Spuren, die einst Kastenwagen und Leiterwagen, ja manchmal sogar Kutschen und womöglich ein hupendes Benzinungeheuer hinterließen, heute längst durch Schnee und Regen, durch den Wind und die neuere Geschichte verweht sind, so daß es schwer sein dürfte, dieses Fleckchen Erde wiederzufinden. Ja, es gibt Leute, die völlig vergeblich danach gesucht haben.

Aber dies alles im Einzelnen persönlich zu besichtigen, wird sich auch erübrigen, wenn der geschätzte Leser sich der ihm hier vorgehaltenen Lektüre hingibt, so daß er bald selber das helle Rascheln der Kornfelder, die Baubeln umgeben, wird vernehmen können, ganz zu schweigen von dem eher dunklen Rauschen der wenigen Kastanien, die den Dorfplatz säumen, oder dem Gekläff der beiden hell gefleckten Köter, die rastlos die meist leere Dorfstraße kontrollieren und hin und wieder von einem der großen Hofhunde eine dumpfe, eher abweisende Antwort erhalten.

Da Baubeln nicht genug, wie man so zu sagen pflegt, »Seelen« hat, um eine Kirche sein eigen nennen zu können, wird sein Zentrum durch die Gestalt einer kleinen Gastwirtschaft, der »Lindenkrone«, gebildet, die sich am Dorfplatz dahinstreckt und ihren Namen auf einem gemalten Holzschild dem müden Wanderer entgegenhält, sofern es denn einen solchen gelüsten sollte, nach Baubeln zu kommen.

Und die Leute von Baubeln?

Der aufmerksame Leser wird sogleich verstehen, wie wichtig der eingangs gegebene Hinweis auf die östlichen Ebenen für die Beurteilung der räumlichen Lage von Baubeln gewesen ist, könnte man doch, ausgehend vom Klang der Namen seiner Bewohner, schwerlich auf einen bestimmten geographischen Raum schließen. Denn in Baubeln da gibt es die Paletzkes, die Kaschuweits, die Griegels, die Feuersengers, die Sanitzkis, die Florimonts, die Petritzkis, die Seuterdiiks, die Demangès und Richters, die Schimkats und Seidels, um nur die wichtigsten Personen des Dorfes hier zu nennen. Allerdings habe ich mit dieser kleinen Aufzählung auch schon alle erwähnt. Auch der namenkundigste Leser müßte angesichts dieser irritierenden Namensliste ohne den wichtigen Hinweis auf die östlichen Ebenen ziellos auf einer Landkarte über ganz Europa herumirren, ohne irgendwo entschieden Halt finden zu können.

Schon seit Urzeiten hatten sich hier in Baubeln die verschiedensten Völkerschaften guten Tag gesagt, waren sich hier manchmal mehr freundschaftlich begegnet bei Kümmel oder Bärenfang, wie dies eher den Wünschen dieser Völkerschaften entsprach, häufig aber auch bei Kanonendonner und Schwarzpulverdampf, wie es eher den Vorstellungen der Obrigkeiten dieser Völkerschaften gemäß war.

Jedenfalls war da in der Gegend von Baubeln einiges an Völkern zusammengelaufen, mitunter aus Neugierde und Abenteuerlust, mitunter aber auch aus Not und Verfolgung; und ohne näher in die so schwierigen Fragen der Geschichte einzudringen, sei hier nur festgestellt, daß man aus diesem Grunde in dem kleinen Dörfchen Namen hören kann, die sonst nur weit verstreut in verschiedenen Teilen Europas auftreten.

Nun ja, die Leute von Baubeln, das sind schon Erdenbewohner ganz besonderer Art. Da haben sie, um es nur an einem Beispiel zu zeigen, Wörter in ihrem Gebrauch, die in anderen Ländern entweder verpönt oder längst ausgestorben sind. Ich denke jetzt nur daran, daß sie ihre Waren zwar alle, wie anderswo auch, mit »Mark« und »Pfennigen« bezahlen, aber um keinen Preis dazu zu bewegen sind, diese Valuta auch so zu benennen. Nein, nein, für die Baubler sind dies »Gulden« und »Dittjes«, da mögen die anderen doch sagen, was sie wollen. Den süßen Fladen, den sie backen und der besonders zur Kaffeepause auf den Feldern geschätzt wird, nennen sie »Pierak«, und dem kleinen Häuschen mit dem Herzchen in der Tür haben sie den vornehmen Namen »Portemang« gegeben.

Oder, lieber Leser, nehmen wir die Eigenwilligkeit dieser Leute, auch noch das »Nichts« zu steigern, was doch wohl jeder ordentlichen philosophischen Theorie zum Spott gereichen muß. Sie, lieber Leser, sind doch wohl auch der Meinung, daß dies ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wie soll man dort, wo nichts ist, noch etwas steigern können? Woher denn? Und in welche Richtung denn auch?

Nicht so aber diese Baubler!

Sie sind in der Lage, auch noch das »Nichts« zu steigern. Da mögen irgendwelche eingebildeten Philosophen doch sagen, was sie wollen.

Denn ein einfaches »Nichts«, das bei ihnen schlicht »Nuscht« heißt, ist ihnen nicht »Nichts« genug! Nein, sie erfanden dazu noch die Steigerung: »Nuscht nich«, oder jene andere Form: »Gar Nuscht«, ganz zu schweigen von dem Superlativ: »Rein Nuscht nich« oder dem höchsten der Superlative: »Rein Nuscht nich gar Nuscht«!

Ja, es ließen sich lange Abhandlungen über manche ihrer seltsamen Ausdrücke schreiben. Um aber den geneigten Leser nicht allzu sehr in eine sprachliche Verwirrung zu stürzen, die selbst noch die babylonische in den Schatten stellen könnte, wollen wir dieses Durcheinander an Tönen und Bedeutungen lieber den ordnenden Händen der Wissenschaftler überlassen, denen sich hier ein weites Feld eifriger Tätigkeit eröffnen könnte.

Erwähnen sollte man aber noch, daß in Baubeln, wie kaum anderswo, eine Unmenge von Lehren und Irrlehren befolgt wird, heidnische wie auch christliche, und daß die verschiedensten Sitten und Gebräuche sich dort einer aufmerksamen Pflege erfreuen. So buntscheckig wie im Sommer ihre Felder, sind auch ihre Versuche, sich dem Göttlichen zu nähern. Darum hält man zwar auch Verbindung zum Heiland, aber auch zu den Göttern, und nicht bloß zu jenen, die man Baldur oder Wotan nennt, sondern auch zu solchen, die Namen wie Perkunus, Perkullus und Patrimpus tragen – letztere eine freundliche Hinterlassenschaft längst eingemeindeter Ursprungsvölker, mit denen man sich, sozusagen auf diesem Umweg über die Götter, noch weitläufig verbunden weiß.

Aber wieweit die Verschiedenheit der Herkunft, der Abstammung und der Glaubensrichtungen bei den Baublern auch gehen möchte, so lebt man doch einigermaßen einträchtig miteinander, weil man zur Hauptsache zwei Grundsätze befolgt. Der eine besagt, daß jeder so schrullig sein dürfe, wie er denn will, der andere aber, daß sich alles, aber auch alles, »jietlich« regeln lasse.

Wie gesagt, viele Lehren und Irrlehren sind in diesem kleinen Landstrich zu Hause – nur nicht jene von der Reinerhaltung der Völker und Rassen, eine Lehre, die zugegebenermaßen in Baubeln und Umgebung völlig unbekannt geblieben ist. Wenn dann jene Lehre später über das Land und auch über Baubeln hereinbrechen wird, werden die Leute von Baubeln verständnislos dastehen, werden zusehen müssen, wie ihre beiden Grundsätze von einer anscheinend fremden Macht gewaltsam beiseite geschoben werden.

Ja, den Gang der Geschichte haben die Baubler, weiß Gott, unterschätzt. Auch hierbei huldigten sie einem Spruch, der die erwarteten Veränderungen eher klein redete: »Watt sull ware, nuscht öss nu all« (»Was soll werden, nichts ist jetzt schon«). Ja, die Baubler glaubten eher an ein festes Sein – und sei dies auch nur das Nichts – als an eine grundlegende Veränderung.

Wenn dann aber die einschlägige Geschichte mit ihren Einschlägen kommen wird, dann wird nichts mehr »jietlich« zu regeln sein, und die Hochachtung vor der Schrulligkeit wird auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrennen. Ja, Geschichte wird einen großdimensionalen Veranstaltungscharakter erhalten und weiträumig alle feineren Strukturen einebnen. Geschichte wird dann etwas sein, das Geschichten nicht mehr zuläßt. Die Leute aus Baubeln werden nichts dagegen tun; sie werden die Bewertungen irgendwelcher »Herrenmenschen« zulassen, durch die sie in verschiedene Kasten aufgeteilt werden, aufgeteilt und abgezählt. Die Leute aus Baubeln werden sich nicht dagegen wehren, und keiner wird sagen können, ob sie mit ihren zwei Grundsätzen gegenüber dem Verderben hätten etwas ausrichten können. Aber sie werden für diese Geschichte, die sie zugelassen haben und die großflächig alles ergreift und alle Unterschiede entweder einstampft oder in einem Zerrspiegel zeigt und bekämpft, schwer bezahlen müssen.

 

Aber jene Zeit ist noch nicht hereingebrochen und wird erst nach unseren Geschichten in die Geschichte eintreten. Kehren wir darum in unsere Gegenwart zurück, in die Gegenwart der Geschichten, und wenden wir uns wieder Baubeln zu.

Was man in diesem Dörfchen eigentlich noch, außer einer Kirche, vermißt – was sonst aber in vielen Ortschaften dieses Landstrichs anzutreffen ist – das ist ein Gutshof. Allerdings haben einige der Baubler es mit dem Gutshof eines Nachbardorfes zu tun; einige in der Weise, daß sie auf demselben ihre Arbeit verrichten, sich gegen etwas Geld und Naturalien für ihre »Herrschaften« abrackern, andere aber in der Weise, daß sie seit mehr als zwanzig Jahren um dieses oder jenes gegen einen Gutsbesitzer prozessieren und zwar mit wechselndem Ausgang.

Letzteres tut auch Jan Kaschuweit, wobei der Anlaß ein kleines Wäldchen ist, das – wie Wäldchen dieser Art es häufig an sich haben – gerade auf der Grenze zwischen den Feldern des Jan Kaschuweit und jenen des Gutsbesitzers gelegen ist. Und immer wieder pflegt Jan Kaschuweit in der »Lindenkrone« beschwörend auszurufen, daß das Recht niemals das Recht der Großen sein dürfe, um sich dann wütend in die nächste Verhandlung zu stürzen.

Aber jetzt habe ich fast schon zu viel verraten, denn von den Baublern soll ja erst in meinen Geschichten die Rede sein.

Vielleicht möchte mich der geneigte Leser nun noch fragen: Wozu denn jetzt diese Geschichten?

Nun gut, zugegeben: Diese Geschichten haben sich einmal schon selbst erzählt, – damals, als sie geschahen. Immer hängen doch Geschichten wie Kletten an den Geschehnissen. Was immer auch geschieht: es geschieht ja nicht so einfach »mir nichts dir nichts«, sondern es geschieht ja, geradezu – ganz im Gegenteil – »mir etwas und dir etwas«, eben »für mich und für dich«, anders gesagt: eben als eine Geschichte.

Aber müssen wir nicht auch das Umgekehrte annehmen, lieber Leser: daß die Geschichten auch ebenso die Geschehnisse mit sich herumtragen, indem sie immer sagen, wie alles so geschah, oder doch so, wie es fast geschah, oder doch zumindest: wie es so und nicht anders hätte geschehen können.

Wie gesagt: Einmal haben sich diese Geschichten schon selbst erzählt. Aber wer hat ihnen denn damals schon zugehört? Viel zu wenige, meine ich, – denn Baubeln, dort wo diese Geschichten damals geschahen, hatte ja kein großes Auditorium aufzubieten, selbst wenn man die Hühner, Enten und Hunde mitzuzählen beliebte. Ja, und auch die Baubler selbst hatten ja nicht die Zeit, dauernd das Auditorium zu spielen, wenngleich sie es auch mitunter zu gerne getan hätten.

Sicher mag dieses oder jenes von den Geschichten über Baubeln hinaus gedrungen sein, aber doch nur spärlich auf den wenigen Lehmwegen, die aus Baubeln hinausführten, denn die Baubler selbst hatten ja anderes zu tun, als ihre Geschichten über die Dörfer zu tragen.

Nun frage ich Sie, lieber Leser, zuletzt: Sind das nicht Gründe genug, sie noch einmal zu erzählen? Man mag mir verzeihen, wenn ich, selbst ein Baubler, sie hier noch einmal so berichte, wie sie sich fast zugetragen haben.

So wie ich nun von den Geschichten sagen kann, daß sie sich fast so zugetragen haben, wie sie hier erzählt werden, so kann ich auch von den vorkommenden Personennamen sagen, daß es sie so oder so ähnlich gegeben hat, wenn sie denn auch heute nicht mehr eindeutig bestimmten Personen zuzuordnen sind.

Für die Ortsnamen hingegen kann ich mich verbürgen. Sie hat es einmal so gegeben, wenn denn auch die »Herren der Geschichte« sie mitunter nach ihrem Gusto verändert haben.

Das Geheimnis der Heide

Baubeln lag, wie gesagt, auf einem großen Bergrücken, der sich nach Süden wie eine Zunge in die Ebene erstreckte. »Groß« war dieser Bergrücken eben nur in dem Sinne, wie die Bewohner des küstennahen Flachlandes dieses Wort in den Mund nehmen. Von diesem Hügel dehnten sich nach allen Seiten die Wiesen und Felder, die sich im Frühjahr, wenn die Saat noch grün war, sich den Anschein einer weiten, vom Menschen noch unberührten Graslandschaft gaben, während sie in den Sommermonaten, da jedes Feld sich in seiner Eigenfarbe vom anderen abhob, den Eindruck erweckten, als habe hier der Mensch das Land zu einem von geometrischen Figuren durchwirkten Flickerteppich geknüpft.

Südlich von Baubeln aber zog sich der Wald hin, den man die Rominter Heide nannte. Er lag doch so weit von Baubeln entfernt, daß er den vom Dorfhügel schweifenden Blick nicht behinderte, aber wiederum doch so nah, daß er sich wie eine schöne, ruhige Kulisse vor dem Horizont lagerte und sich besonders des Abends schwarz und verschlossen wie ein großes Geheimnis in Erinnerung brachte.

Im Winter, wenn die Feldarbeit ruhte, schlugen dort die Leute aus Baubeln bei klirrender Kälte ihr Holz, was eine harte Arbeit war und darum auch nur unter nicht geringem Aufwand von Korn und Speck zu bewältigen war.

Aber auch im Sommer pflegten die Baubler einmal die Rominter Heide zu besuchen, – dann nämlich, wenn die Beeren herangereift waren. Dann war eines Tages im Morgengrauen ein großes Treiben auf der Dorfstraße zu bemerken, weil man mit mehreren Gespannen den Weg in die Rominter Heide antrat, beladen mit Eimern, Milchkannen und Kindern jeder Größe, die alle gefüllt sein wollten oder sollten mit dem köstlichen aromatischen Überfluß der Natur.

Noch heute, da die Baubler irgendwo verstreut in der Welt leben, denken sie jedesmal, wenn sie eine Flasche Saft in einem Supermarkt erstehen, an ihren Wald und ihren selbstgekochten Himbeersaft zurück; und wenn sie auch nicht genau wissen, was sie damals falsch gemacht haben, als die Zeit des Schreckens hereinbrach, – nicht genau in dem Sinne, daß sie mit Bestimmtheit hätten sagen können, was sie damals an diesem oder jenem Tage hätten anders machen müssen – so wissen oder ahnen sie heute doch, daß sie es in irgendeiner Weise mitzutragen haben, daß ihnen der Wald genommen ist.

Aber zurück nach Baubeln: Denn hier war im Laufe der vielen Sonnentage der Beerentag geradezu herangereift, so daß sich des Morgens, als der Tau noch silbern auf den Wiesen lag, auch Jan Kaschuweit mit seinen Leuten am hohen Kastenwagen zu schaffen machte, um alles Nötige, zumal Eimer und Kannen, aber auch Getränke und Eßbares, für die Tagesreise zu verstauen.

Zu »seinen Leuten« gehörten, da die Kinder der Kaschuweits in die Stadt gezogen waren, neben seiner Frau Renate, nur noch die auf ihrem Hofe angestellten Gehilfen Erwin und Hildegard, beide schon einige Jahre über Vierzig und in allen möglichen auf dem Hofe anfallenden Arbeiten sehr erfahren.

Mit Renate Kaschuweit, der Bäuerin, hatte es nun eine besondere Bewandtnis. Denn obgleich sie nicht gerade unter sehr vielen Menschen ihr Leben verbracht hatte – und wer konnte das in Baubeln schon von sich sagen –, hatte sie doch die Gabe, oder vielleicht sollte man besser sagen: meinte sie die Gabe zu besitzen, Beziehungen der Menschen untereinander schon nach flüchtigem Beobachten richtig einschätzen und beurteilen zu können.

Diese ihre Gabe hatte sie nun in letzter Zeit besonders auf das Verhältnis von Erwin und Hildegard geworfen, und so lag sie nun schon seit einigen Wochen mit ihrem Ergebnis dem Jan Kaschuweit in den Ohren.

»Du, die beiden, das sag ich Dir, die haben was zusammen«, meinte sie immer wieder, auch wenn Jan, das Resultat solcher Recherchen mißachtend, meist daraufhin nur brummte oder gar den Kopf schüttelte und bemerkte: »Wieso? Das glaub ich nicht.«

»Siehst Du denn nicht, daß sie dauernd zusammensitzen?«, fragte dann Renate besserwisserisch zurück.

»Na, mit wem sollen sie denn auch sitzen? – Es ist ja sonst niemand da«, wies Jan sie daraufhin meist zurecht – aber abbringen konnte er sie weiß Gott nicht von diesem Gedanken.

So beobachtete sie denn auch heute ziemlich unverhohlen die beiden, um möglicherweise eine sichere Gewißheit über dieses Verhältnis zu erlangen – eine Gewißheit, der gegenüber sich dann auch Jan zu beugen hätte.

Allerdings machte dies die Sitzordnung auf der Hinfahrt einigermaßen schwierig.

Ohne daß Jan auch nur die geringsten Anstrengungen unternommen hätte, die stillen Wünsche seiner Frau zu erraten, hatte er sich auf das vordere Brett gesetzt, das über die beiden Seitenwände des Wagens gelegt war, und hatte – dieser Ahnungslose! – seine Frau auch noch aufgefordert, neben ihm Platz zu nehmen. Erwin und Hildegard hatten auf eben einem solchen Brett im hinteren Bereich des Wagens Platz gefunden.

Wie nun diese beiden beobachten, wenn man hierzu doch den Kopf hätte wenden müssen? Nein, das ging nun nicht: Die würden das doch bemerken.

Fünf Wagen hatten sich an diesem Tage auf den Weg in den Wald gemacht, die anfangs noch in einer Kolonne fuhren, wobei manches Hallo, mancher Scherz und einmal gar eine Branntweinflasche von Wagen zu Wagen ging. Letzteres geschah, weil der lange Feuersenger gemeint hatte, daß man eine Erwärmung jetzt in der Morgendämmerung, da der Himmel noch sonnenlos sei, sehr nötig habe.

Nachdem man aber den Wald erreicht hatte, machten sich Individualismus und Wetteifer bei den Baublern in der Weise bemerkbar, daß jedes Gespann in ein anderes Gebiet des Waldes strebte, um schneller die Gefäße oder gar mehr Gefäße als die anderen zu füllen, denn jeder meinte besser als der Nachbar zu wissen, wo denn die überbordenden Beerenstellen des Waldes in diesem Jahr zu finden seien.

So waren denn auch Jan und Renate auf einer Lichtung des Waldes angelangt, deren übermannshoher Bewuchs zur Hauptsache aus Himbeersträuchern gebildet wurde, wobei sich allerdings – sehr zum Nachteil der Baubler Beerenleser – große und kleine Dornbüsche eingeschlichen hatten, was denn auch den Jan Kaschuweit veranlaßte, zu einer stets paraten Lebensweisheit zu greifen und sie brummend, mit ernstem Gesicht, nach außen zu tragen:

»Ich sag ja immer, es ist doch alles in dieser Welt gegen den Menschen gemacht.«

Aber trotz der augenscheinlich vorhandenen Dornen machten sich dann auch die Leute von Kaschuweit an die schwierige Aufgabe des Beerenlesens. Jan Kaschuweit selber hatte sich allerdings, wie er das nannte, »dazu eingeteilt«, bei den Pferden zu wachen, was man sommers im Walde manchmal tat, weil man fürchtete, die Pferde könnten, von Hornissen und Bremsen gepeinigt, »durchgehen«.

Natürlich wußte man im vorliegenden Falle nicht so genau, was alles denn den Jan Kaschuweit zu dieser Maßnahme veranlaßt haben könnte, ob es mehr die Sorge um die Pferde, der Widerwille gegen die bereits zur Genüge wahrgenommenen Dornen oder sein Hang zum Philosophieren war. Jedenfalls fühlte er sich viel wohler, nachdem er die Pferde ausgeschirrt und »seine Leute«, einschließlich Renate, in verschiedene Himmelsrichtungen in das Dickicht der Dornen und Beeren geschickt hatte. Und, den Blick auf seine beiden Braunen gerichtet, war er dann auch gleich zu Gedanken gekommen.

Diesmal war es ein Wunsch, der sich in seinem Kopf festgesetzt hatte. Er wünschte sich, den Schädel eines toten Pferdes über der Toreinfahrt zu befestigen. Am liebsten würde er einen solchen irgendwo im Innern des Hauses aufhängen, aber das würde Renate, darin war er ganz sicher, nicht zulassen.

Wie er auf so etwas kommen konnte?

Nun, er hatte an das Bild über seinem Bett denken müssen. Dort hing ein Druck des Dürerbildes »Hieronymus im Gehäuse«. Und wenn dieser weise Mann sich mit einem Schädel, dem Symbol des Vergänglichen, umgeben konnte, warum nicht auch er, Jan Kaschuweit?

Dabei schien ihm, nicht nur weil er ein Bauer war, sondern auch wegen der »ewigen Gevatterschaft des Pferdes und des Menschen«, wie er es nannte, ein Pferdeschädel das richtige zu sein.

Während der Mittagsmahlzeit, als sie alle im Grase saßen, die beiden Paare gleichsam sich gegenüber, versuchte Renate, ihn von der Seite her fortwährend anzublinzeln und mit ihrem linken Daumen in Richtung des anderen Pärchens zu zielen, so als wollte sie, sagen:

»Na, siehste, ich hab es doch gesagt«.

Aber Jan Kaschuweit, noch immer den Pferdeschädel vom Vormittag im Kopf, bemerkte »rein nuscht gar nuscht«. Das einzige, das er von der Welt wahrnahm und entgegennahm, waren die köstlichen Himbeeren und Blaubeeren, die Renate allen als Nachtisch kredenzt hatte.

 

Als sie sich dann wieder des Abends mit dem Fuhrwerk auf den Heimweg machten, schlug Renate vor, nun solle doch Erwin das Kutschieren übernehmen. Jan Kaschuweit fand das in Ordnung und dachte sich nichts dabei, als sie nun die Sitzordnung vertauschten, so daß Erwin und Hildegard vorne auf dem ersten Sitzbrett Platz nahmen, während er sich zu Renate auf das zweite Brett setzte.

Aber kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt, da ging das auch schon los.

»Du siehst wohl gar nuscht«, eröffnete Renate flüsternd, aber auch ein wenig zornig, das Gespräch.

»Was soll ich denn sehen«, fragte Jan, immer noch den blanken Pferdeschädel im Kopf, mit ahnungsloser Stimme zurück.

»Na, hast Du Dir das Gesicht von Hildegard angesehn?«

»Wieso?«

»Dann hast Du auch nicht gesehn, daß sie mitten auf der Wange zwei blaue Flecken hat.«

»Ach« – mehr brachte Jan Kaschuweit nicht hervor.

Und dann ging das Flüstern weiter, wobei der fahrende Wagen und die Sielen der Pferde so viel Geräusch erzeugten, daß die vor ihnen Sitzenden nichts davon hören konnten.

»Und ich weiß auch, was diese beiden Flecken sind«, zischelte Renate wieder, »das sind Blaubeeren, da kannst Du mir sagen, was Du willst!«

Aber Jan Kaschuweit wollte eigentlich gar nichts sagen.

»Ja, weißt du, die waren in die Blaubeeren gegangen, obwohl sie doch zuerst Himbeeren pflücken sollten«, flüsterte Renate weiter, »ja, und dann hat er sie geküßt mit seinem Blaubeermund.«

Wieder strömte nur das »Ach?« aus Jan Kaschuweits Mund.

»Aber ich bitt Dich, nu wird sich die Hildegard, eine ausgewachsene Person, beim Blaubeerenessen bekleckern? Das glaubst Du doch selbst nich.«

Eigentlich wollte Jan Kaschuweit durch sein Schweigen andeuten, daß er da an gar nichts glaubte.

Aber dies alles war noch längst nicht das Ende der Untersuchungen von Renate Kaschuweit.

»Und hast Du nicht gesehen, wie sie beide miteinander wisperten, ehe sie in verschiedene Richtungen zum Beerensuchen in den Wald gingen? Und hast du gesehen, wie sie gegen Abend genau zur selben Zeit, wenn auch aus verschiedenen Richtungen, aus dem Wald kamen? Glaubst du an solche Zufälle?«

Jan Kaschuweit wollte eigentlich an gar nichts glauben.

Renate aber flüsterte immer leiser und hatte dabei ihr Gesicht ganz nah an den Kopf des Jan Kaschuweit gebracht.

Dieser hatte allerdings so langsam seine Standhaftigkeit verloren, als er sich noch sagen hörte: »Na, vielleicht hatten sie ihre Uhren aufeinander abgestimmt.«

»Du, das müssen dann wohl schon innere Uhren bei den beiden sein – ja, weißt Du denn gar nicht, daß Hildegard überhaupt keine Uhr besitzt?«, flüsterte Renate wieder und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an.

»Na, und glaubst Du, das ist beim Küssen geblieben? Hast Du nicht gesehen, wie sie abends verdattert waren, sich gegenseitig gar nicht beachtet haben und schnell zur Seite schauten, wenn sich ihre Blicke trafen, so als seien sie ertappt worden?«

Ihr fragendes Geflüster war seinem Mund jetzt ganz nahe gekommen und drängte sich ihm fast auf die Lippen.

»Na, und siehst Du nicht, wie sie da vorne sitzen, so eng beieinander, gerade so, als wären sie bei dieser Schummrigkeit ein einziger Mensch?«

Erst jetzt bemerkte Jan Kaschuweit, als er Renate von der Seite anblickte, daß sie des Morgens ihre immer noch aschblonden Haarflechten sorgsam um den Kopf gelegt hatte, was ihrem schlanken Hals eine schöne Wirkung gab.

Darum konnte er nun nichts anderes tun, als in ihre braunen Augen zu blicken.

Bei dem Geflüster aber waren Ohr und Ohr wie auch Mund und Mund einander immer näher gekommen.

»Weißt Du, wenn man das soo sieht und die Sache richtig bedenkt, dann möchte man ja rein selber noch …«, flüsterte Jan Kaschuweit plötzlich und machte ihr einen Himbeermund.

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