Czytaj książkę: «Allgemeine Staatslehre», strona 9

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b) Reformen von „Oben“

Reformen durch die politischen Herrschaftsträger – Bruce Ackerman spricht von „Insiders“[444] – können dazu beitragen eine politisch unruhige Situation, eine Unzufriedenheit in der Gesellschaft und damit aufkommende Legitimitätsdefizite zu beheben und den Fortbestand des politischen Systems zu sichern. Im Gegensatz zum stillen Verfassungswandel läuft dieser Prozess aktiv gesteuert ab. Beispiele sind die Reformen in den deutschen Landen (keineswegs nur in Preußen) zu Beginn des 19. Jahrhunderts[445] oder die Einführung der Sozialversicherungen Ende des 19. Jahrhunderts durch Otto von Bismarck. Hintergrund solcher Reformen können eine Eigeninitiative der herrschenden Eliten (so in Preußen), eine Konzession an Protestierende (wie in Südafrika) oder die Mobilisierung bestimmter neuer Bevölkerungsgruppen sein. Um erfolgreich zu sein, müssen diese Reformen rechtzeitig die konkreten Legitimitätsdefizite angehen und beheben. Dazu kann die Einräumung eines Streikrechts ausreichen, möglicherweise sind aber umfangreichere Reformen auch der Grundstrukturen des politischen Systems erforderlich. Entscheidend ist, dass durch die Reformen die faktische Anerkennung der konkreten Herrschaftsordnung als im Wesentlichen sozial gerecht wieder erreicht wird. Wo das gelingt, können Reformen – anders als viele Revolutionen[446] – unter Umständen eine überaus lange Wirksamkeit entfalten: Die Verwaltungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts prägen in vielerlei Hinsicht die deutsche Verwaltungsstruktur bis heute. Patentrezepte lassen sich auch durch die Allgemeine Staatslehre nicht angeben. Fest steht aber: Kommen die worin auch immer begründeten Reformschritte zu spät oder gehen diese – wie etwa in Frankreich unter Ludwig XVI. – nicht weit genug, droht der Übergang in eine revolutionäre Phase. Ähnlich erging es der DDR-Führung im Jahr 1989: Die angekündigten weitreichenden Reformen Anfang November 1989 konnten die „friedliche Revolution“ nicht mehr aufhalten. In Chile scheinen die im Jahr 2019 aufkommenden Unruhen durch |78|die Einleitung eines Verfassungsgebungsprozesses vorerst beruhigt worden zu sein.[447]

c) Revolutionen

Revolutionen – der Begriff stammt aus der Astronomie[448] – hat es in der Staatsgeschichte immer wieder gegeben.[449] Als klassisch gelten die Revolutionen in England (1642–60 und die Glorious Revolution 1688), die Französischen Revolutionen (1789,[450] 1830, 1848) und die Russische Revolution (1917). Zu erwähnen sind aber auch die Chinesischen Revolutionen (nationale Revolution 1911–1927 sowie die kommunistische Revolution 1927–1949), die Kubanische Revolution (1953–1959), die Iranische („islamische“) Revolution (1979) sowie die Sawr-Revolution in Afghanistan (1978). Unter dem Begriff „Arabellion“ bzw. „Arabischer Frühling“ wird eine ganze Reihe von Protesten und Revolutionen zusammengefasst, die ab 2010 im nordafrikanischen Raum auftraten, letztlich allerdings nur bedingt als erfolgreich angesehen werden können.[451] In Deutschland sind die Paulskirchen-Revolution (1848/1849),[452] die Novemberrevolution (1918/1919) sowie die „friedliche Revolution“ in der DDR (1989) zu nennen. Ob es sich beim Abfall der britischen Kolonien und der anschließenden Gründung der USA ebenfalls um eine Revolution gehandelt hat, ist umstritten und hängt vom gewählten Begriffsverständnis ab, entspricht allerdings der gemeinen Bezeichnung dieser Vorgänge, deren zeitlicher Beginn meist mit dem Siebenjährigen Krieg[453] verknüpft wird[454] („Amerikanische Revolution“).[455] Nicht |79|zuletzt einige Marxisten bestritten den Revolutionscharakter, da es sich lediglich um den Austausch einer imperialen durch eine konservativ-koloniale Elite gehandelt habe[456] – ein Elitenaustausch also ohne gesellschaftlichen Wandel, was sich schon am Fortbestand der Sklaverei gezeigt habe. Andere hingegen mieden den Begriff gerade deshalb, um soziale Spannungen innerhalb der späteren USA zu vertuschen, die bereits im Vorfeld der Unabhängigkeit bestanden. Der Unabhängigkeitskrieg war danach keine inneramerikanische Revolution, sondern Ausdruck eines nachgerade übermenschlichen Kraftakts einer vollständig geeinten Nation.[457] Tatsächlich ging es aber, wie Carl. L. Becker später feststellte, keineswegs nur um die „home rule“, sondern selbstverständlich auch darum „who should rule at home“.[458] Und auch wenn die neue Ordnung konservativer war als sich das mancher Marxist gewünscht hätte, fanden sich mit der Idee der repräsentativen Demokratie und Gewaltenteilung sowie der Konstruktion des modernen Bundesstaates selbstverständlich „revolutionäre“ und die Gesellschaft verändernde Elemente, die die Staatenwelt fortan maßgeblich prägen sollten.[459] An diesem Beispiel zeigt sich daher vor allem die Abhängigkeit des Revolutionsbegriffs und der Einordnung bestimmter Ereignisse von den vorherrschenden Zeitauffassungen und Interessen, mithin vom politischen Kontext.[460] Gerade im Augenblick einer solchen Transformation ist die Verwendung des Begriffs „Revolution“ nur selten Ergebnis einer sachlich-objektiven Einordnung als vielmehr politische Kampfansage bestimmter gesellschaftlicher Schichten, die von anderen bewusst gemieden wird – nicht alles, was als Revolution bezeichnet wird, ist eine Revolution.

Versucht man sich unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten an einer ersten allgemeingültigen Definition des Begriffs wird man formulieren können: Eine Revolution ist der von einem Veränderungswillen getragene Umsturz herrschender Eliten durch eine neue Elite, durch den nach der Machtübernahme die bestehende Herrschafts- und Sozialstruktur fundamental (zur Erlangung der Freiheit) verändert wird; es geht mithin um die Ablösung des alten politischen Systems und die anschließende Begründung eines vollständigen politischen Neuanfangs. Im Hinblick auf den Revolutionsbegriff hält denn auch Hannah Arendt fest, dass dieser unlösbar in der Vorstellung behaftet sei, „dass sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, dass eine neue Geschichte anhebt.“[461] Und etwas später |80|schreibt sie: „Dass die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs miteinander verkoppelt sind in dem Ereignis selbst, ist für ein Verständnis der modernen Revolution entscheidend.“[462]

Ein solcher Umsturz impliziert gewalttätige Vorgänge, die man auch regelmäßig vorfinden wird. Allerdings ist Gewaltgebrauch kein notwendiger Bestandteil einer Revolution. Es gibt Beispiele friedlicher Revolutionen (Umsturz in der ehemaligen DDR 1989/1990). Allerdings werden sich auch dort meist punktuelle Gewalttätigkeiten finden – nicht zuletzt der Zusammenbruch des Ostblocks verlief nicht umfassend friedlich. Entscheidend ist dennoch weniger der Gewaltgebrauch als die Illegalität der Vorgänge nach der bestehenden Verfassungsordnung, die die Revolution zugleich von umfassenden Reformen abgrenzt.

Mit der fundamentalen und eruptiven Veränderung der Herrschafts- und Sozialstruktur unterscheidet sich die Revolution in ihrer zweiten Stufe von einem Staatsstreich, der sich in der bloßen Auswechslung der Machtinhaber erschöpft.[463] Auch die Erstürmung des Winterpalais am 24.10.1917 war daher zunächst einmal keine Revolution, sondern ein „gewöhnlicher“ Putsch. Selbst wenn es im Anschluss an einen solchen Staatsstreich zu formalen Veränderungen des Verfassungssystems kommt, haben diese auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse meist keine besonderen Auswirkungen. Für die „einfache Bevölkerung“ ändern solche Machtwechsel dann im Alltagsleben vergleichsweise wenig. Sie werden denn auch nicht selten eher achselzuckend hingenommen. Zu größerem Widerstand kommt es möglicherweise erst dann, wenn und soweit die neuen Machthaber fundamentale gesellschaftliche Veränderungen „von oben“ durchdrücken wollen. Das zeigte sich auf dem afrikanischen Kontinent, wo die Aufstände der einheimischen Bevölkerungen erst extrem wurden, als diesen bewusst wurde, dass es bei der Kolonisation keineswegs nur um den Austausch der Herrschaftspersonen, sondern um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ging.[464]

Während ein solcher Austausch der herrschenden Eliten damit ohne größere Unterstützung in der Bevölkerung gelingen kann, wird eine Revolution nur bei einer ausreichenden Massenmobilisierung einschließlich des möglicherweise bestehenden Militärs erfolgreich sein; die Macht muss, wie Hannah Arendt formuliert „auf der Straße liegen.“[465] Che Guevara ist das in Bolivien ab 1966 nicht gelungen, weshalb seine Umsturzversuche erfolglos blieben. Auch in Venezuela dürfte der im Jahr 2019 versuchte politische Umsturz des Maduro-Regimes aus diesem Grund und bis heute nicht geglückt sein – das Militär sah sich zumindest wegen der unklaren Mehrheitsverhältnisse in der |81|Bevölkerung nicht gezwungen, die Seite des Regimes zu verlassen. Die Macht blieb dadurch beim Regime. In Bolivien war das Ende 2019 anders – Präsident Evo Morales musste nach dem Vorwurf der Wahlmanipulation das Land verlassen, weil das Militär ihn nicht mehr stützen wollte (allerdings handelte es sich auch hier vorerst nicht um eine Revolution, sondern um eine Auswechslung der Machthaber). Im Zusammenhang mit der Arabellion (ab Ende 2010) glückte die notwendige Massenmobilisierung hingegen (zunächst) durch die Nutzung sozialer Medien, die allerdings vor allem im klassischen Medium „Fernsehen“ (Sender: Al-Dschasira) weltweit gespiegelt wurde.[466] Ob eine neue Verfassung in Chile zur Beruhigung führen wird, bleibt abzuwarten.

Revolutionen laufen nicht nach einem bestimmten Schema ab, sind sowohl in ihren Voraussetzungen als auch ihrem Verlauf individuelle Ereignisse, an denen unterschiedliche Persönlichkeiten und Zufälligkeiten ihren Anteil haben. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre stellt sich die Frage, inwieweit es gleichwohl möglich ist, gewisse Regelmäßigkeiten zu erkennen, die die gesellschaftliche Situation im Vorfeld der Revolution und den „typischen“ Ablauf einer Revolution markieren.[467] Betrachtet man die historischen und auch aktuellen Revolutionen (man denke an die „Arabellion“, den „Arabischen Frühling“ ab Ende 2010)[468] aus dieser Perspektive, so wird man im Hinblick auf die revolutionäre Situation Folgendes festhalten können:

 Ausgangspunkt revolutionärer Umstürze bildet meist ein beachtliches Elitenversagen, das sich entweder in einer erheblichen Uneinigkeit, Unfähigkeit oder schlicht Korruption widerspiegelt.

 Es zeigen sich meist bedeutende politische, soziale und/oder wirtschaftliche Diskriminierungen, die im Ergebnis zu nachgerade unlösbaren Gegensätzen zwischen sozialen Schichten führen.[469] Die Verfügung über die Ressourcen ist sehr ungleich verteilt, bisweilen kommt es zu Hungersnöten oder sonstigen humanitären Krisen.[470] Die alte Herrschaft fällt in eine fundamentale Legitimitätskrise, bei der gerade der Unterschied zwischen Arm und Reich, mithin die soziale Frage, eine zentrale Rolle spielt.[471] Anders gewendet: Die Revolution knüpft an einen existierenden Autoritätsverlust des bestehenden Systems an, ist aber nicht dessen Ursache.

 |82|In der gesellschaftlichen Stimmung offenbart sich ein allgemeines Krisengefühl und ein Gefühl des Niedergeschlagenseins.

 Es existiert eine passende neue Ideologie, die sich in der Gesellschaft verbreitet und hinter der sich die Revolutionäre versammeln können.

Frei nach Lenin handelt es sich also um eine Situation, in der „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“[472] Konkreter Auslöser für die ersten (gewalttätigen) Unruhen können dann ausländische Interventionen oder aber – wie etwa in Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg oder in China ab 1911 – kriegerische Niederlagen sein. Der vollständige Niedergang der nationalen Armee bildet dann den Ausgangspunkt für eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung. Bisweilen können aber auch auf den ersten Blick eher marginale Ereignisse das „revolutionäre Fass“ zum Überlaufen bringen – in Chile kam es Ende 2019 zu Unruhen, nachdem die Preise für den öffentlichen Nahverkehr um wenige Cent erhöht wurden. Schon die Schilderung dieser gesellschaftlichen Zustände im Vorfeld von Revolutionen lässt im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in manchen westlichen Demokratien aufhorchen – ohne dass damit eine baldige Revolution prognostiziert wäre. Das Ausmaß sozialer Spaltung und der Umgang der Eliten miteinander mahnen hier aber zu einer erhöhten, historisch fundierten Wachsamkeit.

Im Hinblick auf den Ablauf einer Revolution lassen sich folgende Stufen unterscheiden, wobei sich Regelmäßigkeiten vornehmlich bei solchen Revolutionen zeigen, die letztlich in einer autoritären Ordnung, jedenfalls aber keiner demokratischen Verfassungsordnung enden. Historisch zeigt sich dabei, dass erfolgreiche Revolutionen in diesem Sinne ohnehin die Ausnahme sind; zu Recht hat daher Hedwig Richter zuletzt angemahnt, den vielfältig gelungenen Reformprojekten größere historische Aufmerksamkeit zu schenken, um dadurch gewonnene Erkenntnisse auch für die heutigen Herausforderungen nutzen zu können.[473] Im Folgenden ist vor diesem Hintergrund der Ablauf der Englischen, Französischen, Russischen und Chinesischen Revolution skizziert, Ähnlichkeiten zeigten sich aber auch bei einzelnen Teilrevolutionen des Arabischen Frühlings:

 In einer Situation eines geschwächten Staates, der häufig nur noch durch wenige alte Oberschichten repräsentiert wird, erzwingt die Gemeinsamkeit der Gegner dieser Elite den politischen Umsturz. Es ist dies die Phase, in der sich angesichts des gemeinsamen Gegners die größte Einigkeit der Revolutionäre zeigt. Im unmittelbaren Anschluss an die „Revolution“ wird nicht selten gemeinsam ausgelassen gefeiert.

 |83|Es folgt eine idealistische Phase, die jedoch angesichts der konkreten Realitäten und Probleme bei der Neugestaltung der zu transformierenden Gesellschaft alsbald zu einer Spaltung der Revolutionsführer in Gemäßigte und Radikale führt. Während die Gemäßigten in dieser realistischen Phase für einen behutsamen und graduellen Übergang plädieren, drängen die Radikalen auf den umgehenden Wandel und werden immer rigoroser im Umgang mit vermeintlichen Revolutionsgegnern, als die alsbald auch die gemäßigten Revolutionäre eingeordnet werden. Darin zeigt sich auch eine gewisse Ohnmacht im Hinblick auf die politischen Steuerungsmöglichkeiten revolutionärer Prozesse. Die Handelnden Akteure verlieren den Zugriff auf die Geschehnisse, ein Phänomen, dass Hannah Arendt vor allem für die Französische Revolution beschrieben hat.[474] Gleichwohl bleibt die Revolution die Folge konkreter Handlungen und ist nicht das Ergebnis historischer Notwendigkeiten.

 Aufgrund ihrer kompromisslosen Methoden steigen die Radikalen in der Revolutionshierarchie auf, verdrängen die Gemäßigten und konzentrieren die Macht um einen vergleichsweise kleinen Kreis an „echten“ Revolutionären.

 Es folgen Terror und Thermidor,[475] bis sich ein neuartiges autoritäres Regime herausgebildet hat, dass im Namen der Revolution herrscht und Gegner und unliebsame Opposition mit gewalttätigen Mitteln verfolgt.

Revolutionen können auch anders und vor allem erfolgreich ablaufen. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre gilt es sich aber der Gefahr bewusst zu sein, die mit revolutionären Vorgängen einhergehen kann. Die weithin gescheiterte Arabellion mahnt hier zur Zurückhaltung und vor allem dazu, die anfangs festzustellende Einigkeit der Akteure nicht mit einer dauerhaften Einigkeit in allen zentralen Fragen der Gesellschaft und ihrer zukünftigen Ausgestaltung zu verwechseln. Der entscheidende Moment einer Revolution, der über Erfolg oder Niederlage entscheidet, dürfte der Übergang von der idealistischen zur realistischen Phase sein. Hier gilt es sicherzustellen, dass aufkommende Differenzen bei der Gestaltung des „revolutionären Alltags“ und der gesellschaftlichen Transformation nicht zu einer Spaltung und neuen Feindseligkeiten führen, die in Gewalt und Terror enden. Wege aufzuzeigen, wie dieser Übergang erfolgreich gestaltet werden kann, gehört damit zu den zentralen Aufgaben einer modernen Allgemeinen Staatslehre.

|84|d) Kriegerische Niederlage

Die kriegerische Niederlage ist als möglicher Auslöser revolutionärer Unruhen erwähnt worden. Daneben kann eine solche Niederlage aber den Ausgangspunkt für eine friedliche und möglicherweise auch extern gesteuerte Neuordnung der gesamten politischen Ordnung bilden – die Errichtung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bildet eines der erfolgreichsten Beispiele.[476] In beiden Fällen – also Revolution oder friedliche Neuordnung – zeigt sich die Integrationskraft, die von der Armee im modernen Staat ausgehen kann.[477] Gerade im Kriegsfall versammelt sich die Bevölkerung hinter der Armee. Die Kapitulation ist für große Teile der Gesellschaft dann gleichbedeutend mit dem Untergang des bisherigen Systems im Sinne einer „politischen Stunde Null“. Es entsteht Raum für eine neue politische Ordnung, die an die Stelle der bisherigen treten kann. Auch hier obliegt es der Allgemeinen Staatslehre Wege aufzuzeigen, wie aus einer solchen umfassenden kriegerischen und politischen Niederlage mit externer Hilfe ein neues und stabiles Staatswesen errichtet werden kann – historisch gesehen sind positive Beispiele allerdings selten. Das zeigte zuletzt die Entwicklung in Afghanistan, wo der Versuch der Demokratisierung nach 20 Jahren Mitte 2021 kläglich scheiterte.

e) Verfassungsgebung und Verfassungsänderung

Neue politische Herrschaftsordnungen, vor allem solche, die aus umfassenden Reformen, Revolutionen, Dismembrationen, Sezessionen oder – wie die BRD – kriegerischen Niederlagen hervorgehen, konstituieren sich formal durch den Erlass einer neuen Verfassungsordnung.[478] Diese neue Verfassungsordnung ist Ausdruck der „verfassungsgebenden Gewalt“ des Volkes, die seit der Französischen Revolution und Abbé Emmanuel Joseph Sièyes von der „verfassten Gewalt“ des Volkes unterschieden wird:[479] „Als Autor der neuen staatlichen Ordnung setzt sich das Volk selbst ein […]. Man legt kraft autonomer Selbstorganisation und reklamierter Rechtsetzungskompetenz einen neuen normativen Grund für die gesamte Rechts- und |85|Staatsordnung.“[480] Die neu errichtete Verfassung wirkt insofern herrschaftsbegründend,[481] grenzt sich bisweilen implizit oder sogar explizit von vorherigen Herrschaftsordnungen ab – besonders deutlich wird das beim deutschen Grundgesetz, das sich nachgerade als Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Terrorregime (nicht aber pauschal zur Weimarer Verfassung) versteht.[482] Moderne Verfassungen brechen insofern mit der Vergangenheit und richten den Blick in die Zukunft. Verfassungsordnungen haben mithin einen konkreten Anfang und machen dadurch zugleich ihre soziale Gesetzheit, ihre Unnatürlichkeit deutlich – es gibt keine „natürlichen“ Verfassungsprozesse[483] und erst Recht keinen historisch vorgegebenen Weg zum Verfassungsstaat. „Verfassungsgebungen waren (und sind) Transformationsprojekte ohne Anspruch auf Erfolg.“[484]

Von Volkssouveränität sollte allerdings nur für diesen Prozess der erstmaligen Verfassungsgebung gesprochen werden. Ist die Verfassung verfasst und in Geltung gesetzt, genießt im demokratischen Verfassungsstaat kein Organ – auch und gerade nicht das Volk – Souveränität.[485] Martin Kriele hat diesen Umstand treffend auf den Punkt gebracht: „Das Vorhandensein eines Souveräns in diesem Sinne einerseits und der Verfassungsstaat andererseits sind zwei polare, einander ausschließende Gegensätze, mit anderen Worten: Die Vorstellung eines Souveräns ist revolutionärer Sprengstoff gegen den Verfassungsstaat.“[486] Nach der Verfassungsgebung agiert das Volk mithin als von der Verfassung konstituiertes Organ mit spezifischen Zuständigkeiten, das wie die anderen Organe an die vorrangige Verfassung gebunden ist:[487] „Für die Figur der Volkssouveränität bleibt entgegen einer verbreiteten Ansicht in Literatur und Rechtsprechung somit wenig |86|Raum.“[488]

Wer sich den realen Prozess der Verfassungsgebung allerdings in Form einer sozial-romantischen Zusammenkunft aller BürgerInnen an einem Ort vorstellt, die nach anregender Debatte die neue gemeinsame Verfassungsordnung verabschieden, wird von der (historischen) Praxis enttäuscht – schon angesichts der großen Zahl an BürgerInnen in größeren Gemeinwesen wäre eine solche Zusammenkunft undenkbar.[489] Hinzu kommt der Umstand, dass die komplexe Ausarbeitung einer Verfassungsordnung eine begrenzte Anzahl an Personen voraussetzt.[490] Sieht man von einer oktroyierten Verfassung ab – wie in Preußen im Jahr 1850 – erfolgt die Ausarbeitung der neuen Verfassung daher meist in einer verfassungsgebenden Versammlung, die ihre Geburtsstunde in den amerikanischen „constitutional conventions“ Ende des 18. Jahrhunderts hatten.[491] Schon hier zeigt sich ein erstes kaum lösbares Problem des modernen Verfassungsstaats: Es liegt in der Legitimation dieser die Verfassung ausarbeitenden Versammlung. Die Zusammensetzung ergibt sich in Zeiten revolutionärer Unruhen nur selten aus vollständig freien und gleichen demokratischen Wahlen, hängt von Zufälligkeiten oder den Vorstellungen eventueller Siegermächte ab. Teilweise greift die verfassungsgebende Versammlung auch auf Vorarbeiten von Verfassungskommissionen (Herrenchiemseer Konvent, Verfassungskommission der Paulskirchenversammlung) oder gar Einzelpersönlichkeiten zurück (Weimar: Hugo Preuß), wodurch sich die Legitimationsfrage noch einmal verschärft. Insofern findet sich im Rückblick kaum eine Verfassungsordnung, die im Hinblick auf ihre Entstehung nicht gewisse Legitimationsdefizite aufweist,[492] schon weil der politische Körper und damit auch die Zugehörigkeit zu diesem erst mit der zu vereinbarenden Verfassung begründet werden.[493] Günter Frankenberg spricht von den „autoritären Gründungsmomenten“ demokratischer Verfassungen, die allzu oft hinter glorifizierten Entstehungsnarrativen versteckt werden: „Empirisch war und ist das Konstituieren überwiegend also nicht Selbstbindung des demokratischen Souveräns ‚Volk‘ im Singular oder Plural, sondern Fremdbindung durch Vertreter*innen, die für das Volk sprechen und entscheiden.“[494] Die Verabschiedung der neuen Ordnung durch eine solche „undemokratische“ Versammlung wird für sich daher kaum die Legitimität |87|erzeugen können, derer es für ihre Stabilität bedarf. Ihren eigentlichen „Legitimationsschub“ erhalten (demokratische) Verfassungen daher auf zweierlei Weise: Einerseits indem der Verfassungstext dem Volk zur Zustimmung vorgelegt wird. So verhielt es sich etwa mit der Verfassung der fünften Französischen Republik, die nach ihrer Ausarbeitung durch die Regierung unter Beteiligung eines aus Parlamentariern besetzten beratenden Verfassungsausschusses in einem Plebiszit vom Französischen Volk angenommen wurde. Etwas anders, im Hinblick auf die Legitimation allerdings kaum weniger, vielleicht sogar stärker ausgeprägt, erfolgte die Annahme der ausgearbeiteten Verfassung in den USA (1787) und in der Schweiz (1848) durch Plebiszite in den Einzelstaaten. Ein geringeres Legitimationsniveau wies die Ratifizierung des Grundgesetzentwurfs in den einzelnen Landtagen der Bundesländer auf – eine Volksbefragung wurde weder in den Ländern noch auf Bundesebene durchgeführt.[495] Aufgefangen wurde dieses Legitimationsdefizit durch den zweiten Legitimationsstrang moderner Verfassungen: Zeit.[496] Die politische Ordnung gewinnt mit jedem Tag, an dem sie von der Bevölkerung als auch vom politischen Betrieb als neue Grundordnung des Gemeinwesens anerkannt und geachtet wird an zusätzlicher Legitimationskraft: „Die erfolgreiche Revolution aber streift irgendwann den Makel ihrer Herkunft ab und erwächst in Legitimität.“[497] Für das deutsche Grundgesetz hält Christoph Möllers fest: „Die Legitimation des Grundgesetzes ergibt sich nicht aus der historisch anfechtbaren Behauptung, es sei vom demokratischen Volk gemacht, sondern aus dem demokratischen Anspruch des Grundgesetzes, das in praktischen Vollzug gesetzt wurde, namentlich aus der Tatsache, dass das Grundgesetz freie und gleiche Wahlen anordnet und diese so stattgefunden haben.“[498] Eine besondere legitimatorische Bedeutung kommt hier dem ersten friedlichen Regierungswechsel zu, der sich in Deutschland etwa im Jahr 1969 vollzog. Spätestens mit dieser gelungenen, weil friedlichen Übergabe der Macht von der Regierung an die bisherige Opposition wird man von legitimatorischen Defiziten mit Blick auf die Bundesrepublik nicht mehr sprechen können[499] – im Jahr 2022 gilt das erst Recht. Legitimitätsschwankungen, |88|ablesbar etwa in sinkenden Wahlbeteiligungen, sind dadurch nicht ausgeschlossen, da die Legitimation immer nur einen notwendigen aber nicht hinreichenden Faktor für die Legitimität einer demokratischen Ordnung darstellt.[500] Voraussetzungen und dogmatische Einordnung der Verfassungsgebung bleiben gleichwohl umstritten.[501]

Noch nicht gelöst ist damit ohnehin das zweite allgemeine Legitimationsproblem von Verfassungen, das in der Bindung kommender Generationen liegt. Wie lässt es sich rechtfertigen, dass sich eine frühere Generation über den Erlass einer Verfassung anmaßt, auch über die politische Grundordnung kommender Generationen zu entscheiden? Von einer Selbstbindung kann schwerlich gesprochen werden, wenn die aktuelle Generation an der ursprünglichen Ausgestaltung der Ordnung in keiner Weise beteiligt war: „Der Zeitfaktor macht aus Selbstbindung Fremdbindung, aus Autonomie Heteronomie.“[502] Tatsächlich wurde aus diesen Überlegungen – nicht zuletzt von Thomas Jefferson[503] – teilweise der Schluss gezogen, dass eine Verfassungsordnung stets nur für eine Generation Geltung beanspruchen könne. Jede Verfassung müsse mit einem obligatorischen Verfallsdatum versehen werden, um jeder Generation die Möglichkeit zu geben, selbst über die für sie geltenden Spielregeln des politischen Betriebs zu entscheiden. Die Verfassungstheorie entwickelte hingegen eine andere Lösung des Generationenproblems, die den Spagat zwischen notwendiger Stabilität und generationengerechter Flexibilität sachgerecht auflöste: Die Möglichkeit der Verfassungsänderung.[504] Die moderne Verfassungstheorie kennt dadurch neben der verfassungsgebenden und der gesetzgebenden mit der verfassungsändernden noch eine dritte besondere Legislativgewalt, deren Existenz von der Verfassung anerkannt und ausgeformt wird. Damit ist eine Änderung der Spielregeln jederzeit möglich, ohne die Verfassung als Ganzes ablösen zu müssen. Die konkreten Änderungsverfahren müssen allerdings einen gewissen Abstand zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren aufweisen.[505] Ist der Abstand |89|sehr groß – wie in den USA – kann die Verfassungsänderung einer formalen Verfassungsablösung nahe kommen und spielt damit im alltäglichen Geschäft keine Rolle. Ist der Abstand gering, wie in Deutschland, werden Verfassungsänderungen hingegen zu einer regelmäßigen politischen Option.[506] Das Grundgesetz ist im internationalen Vergleich daher schon (zu) häufig geändert worden.[507] Für die Allgemeine Staatslehre ist die Analyse dieser Änderungsverfahren und ihrer Auswirkungen auf die Stabilität einer politischen Ordnung von Interesse. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Rechtfertigung qualifizierter Mehrheiten für das Änderungsverfahren – das ein Vetorecht der Minderheit begründet – bis heute unter einem legitimatorischen Defizit leidet, praktisch in allen Verfassungsordnungen aber zur Anwendung kommt. Wie Diego Pardo-Alvarez gezeigt hat,[508] lässt sich die notwendige Distanz zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren auch auf eine Weise herstellen, die diese Defizite und insbesondere den nicht gerechtfertigten Einfluss von Minderheiten vermeidet.[509] Anders als zu erwarten, wird diese Diskussion aber weder in der Verfassungstheorie noch in der Allgemeinen Staatslehre gegenwärtig ernsthaft geführt.