Czytaj książkę: «Aufwind»
AUFWIND
ALEXANDER POINTNER
ANGELA POINTNER
unveränderte eBook-Ausgabe
© 2022 Seifert Verlag
1. Auflage (Hardcover): 2021
ISBN: 978-3-904123-61-7
ISBN Print: 978-3-904123-08-2
Umschlaggestaltung: Markus Haralter, Union Wagner
Umschlagfotos: © BIZCOMBURNZ/3milespictures
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Seifert Verlag GmbH
Ungargasse 45/13
1030 Wien
INHALT
Danksagung
Einleitung
1. Wenn Anpassungsfähigkeit gefragt ist
2. Verstehen hilft
2.1 Wenn Trauer-Vorbilder fehlen
2.2. Allein mit Stärke zurück zum Glück?
3. Wenn der Körper nicht mehr mitkommt
3.1 Was (Körper-)Wahrnehmung mit Stress zu tun hat
3.2 Was es bedeutet, sich selbst und andere »regulieren« zu können
3.3 Selbstregulation (wieder-)erlernen
3.4 Sicher durch Krisen führen
4. Die Sprache der Gefühle lernen
4.1. Emotionale Stressverstärker erkennen
4.2. Trauer als Superkraft
Quellen und weiterführende Literatur
Interessante Instagram-Accounts
Webseiten
Für unsere Kinder
EINLEITUNG
Was in Krisenzeiten zur Tragfläche wird – so könnte ein Untertitel zu diesem Buch heißen. Die Tragfläche, ein Flügel – neben dem »Aufwind« eine weitere Hommage an das Skispringen. Jenem Sport, in dem mein Ehemann und Mitautor, Alexander Pointner, als Trainer über Jahrzehnte so erfolgreich war. Diese Zeit liegt gefühlt eine Ewigkeit zurück, denn sie lag vor dem großen Schicksalsschlag, der unsere Familie traf. Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was Eltern zustoßen kann, heißt es. Und doch gibt es für jedes Leid noch Steigerungsstufen, und auch »kleinere« Krisen können Menschen aus der Bahn werfen. Wir wollen hier berichten, wie es uns gelang, einen Weg zu finden zurück zum Glück. Wir führen kein durch und durch glückliches Leben, Tod, Trauer und auch Depressionen begleiten uns nach wie vor. Auch die Angst vor weiteren Verlusten lässt sich nicht abschütteln. Doch wir führen ein geglücktes Leben, das in vielerlei Hinsicht freier und erfüllter ist als vor diesem Tag X, der fast alles veränderte.
Den Aufwind nutzen – das versuchten schon Alex’ Skispringer, als er noch Cheftrainer beim Österreichischen Skiverband war. Wohl wissend, dass diese Phase, in der mit ein bisschen Wind von unten alles unendlich leichter wird, schnell wieder vorbei sein kann. Dieser Vergleich mit jener Sportart, die unser aller Leben über so lange Zeit maßgeblich beeinflusst hat, zeigt auch: nach der Krise ist vor der Krise. Das Leben ist ein Auf und Ab. Nur weil man einen schweren Schicksalsschlag gemeistert hat, ist man nicht vor einer weiteren manifesten Krise gefeit. Und wenn eine akute Krise vorbei ist, heißt das noch lange nicht, dass mit einem Schlag alles beim Alten ist. Die Nachwehen einer Krise sind oft eine eigene Krise für sich – so wie die mentalen gesundheitlichen Folgen, die nach der Corona-Pandemie zu erwarten sind.
Vielen wird es beim Lesen jetzt den Magen zusammengezogen haben – ja, das Leben ist manchmal sehr schwer, über lange Strecken lässt es uns verzweifeln. Dennoch hält es gleichzeitig so wundervolle Glücksmomente bereit, dass es sich lohnt, weiterzumachen. Trotz des Wissens, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren. Trotz der Angst, dass es noch einmal passieren kann. Was, wenn noch ein Kind oder der Partner schwer erkrankt oder frühzeitig verstirbt? Die schon fast naive Leichtigkeit, die wir bis zum Suizidversuch unserer Tochter verspürt hatten, ist ein für alle Mal dahin. Verdrängen funktioniert nicht mehr. Katastrophen, Krankheiten, Leid und Tod treffen nicht nur die anderen, sondern auch uns selbst.
Aber – und das ist entscheidend – wir führen kein ängstliches Leben. Wir führen ein zufriedenes und erfülltes Dasein, auch wenn wir nicht immer glücklich sind. Keiner von uns möchte als Persönlichkeit in die Zeit vor den 5. November 2014 zurück. Natürlich wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass Nina noch gesund leben würde, doch persönlich sind wir in den letzten Jahren so gewachsen, haben uns so verändert, dass wir mit unserem alten Ich (und mit unserem alten Wir) nicht mehr tauschen möchten.
Das klingt auf den ersten Blick jetzt sehr klar und vielleicht auch zu nüchtern; in Wahrheit befinden wir uns in einem hochemotionalen Prozess, der andauert und immer noch einen unklaren Ausgang hat. Die Trauer um unsere Tochter wird niemals abgeschlossen sein, sie ist Teil unseres Lebens. Die Krankheit Depression bleibt weiterhin unsere Begleiterin: Wir lernen immer mehr dazu, versuchen weiterhin offen damit umzugehen und sind nach wie vor Betroffene (ein weiteres Kind bekam im Teenageralter die Diagnose). Doch Depression, Krankheit, Tod und Trauer sind für uns keine Tabus mehr, all das ist ein selbstverständlicher Teil unserer Lebenswelt geworden.
Die Idee zu diesem Buch entstand drei Jahre nach dem Tod unserer Tochter, die nach ihrem Suizidversuch 13 Monate im Wachkoma gelegen hatte. Durch die Gewissheit, nach einem schweren Schicksalsschlag wieder Fuß gefasst zu haben, glaubten wir zu verstehen, wie das funktioniert: Woher Widerstandskraft und Freude kommen, wie das mit der Trauer ist, wo man immer wieder Kraft tanken kann. Das wollten wir erklären, und damit anderen Betroffenen helfen.
In der damaligen Hochphase wäre das Schreiben dieses Buches ganz einfach gewesen, vielleicht hätten wir uns sogar dazu hinreißen lassen, »klugscheißend« und ein wenig überheblich zu dozieren. Doch die Depression, jene Krankheit, mit der wir als Familie so sehr zu kämpfen haben, ließ dies nicht zu. Die neuerliche Erkrankung innerhalb der Familie führte uns zum wiederholten Male an unsere Grenzen, als Ehepartner, als Eltern und als Persönlichkeiten. Auch wenn unsere Grenzen heute andere und wir im Umgang mit Depression und Suizid sehr erfahren sind, so gibt es dennoch immer wieder Zeiten, in denen uns schwierige Situationen ratlos machen und uns die Kraft fast verloren geht.
So entstand dieses Buch nicht als klassischer Ratgeber, sondern als Erfahrungsbericht von Menschen, die viel erlebt haben, aber immer noch dazulernen (müssen/wollen). Wir erzählen davon, wie es uns gelungen ist, an einem schweren Schicksalsschlag nicht zu zerbrechen, sondern daran zu wachsen – ohne eine Garantie dafür abgeben zu können, ob das auch weiterhin so bleiben wird.
Das Coronavirus hat noch während der Entstehung dieses Buches dafür gesorgt, dass Themen wie Tod und Trauer, die in unserer Leistungs- und Spaßgesellschaft nur zu gerne verdrängt werden, plötzlich vielen auf der Haut brennen. Der Lockdown im März 2020 veränderte unser aller Leben auf nie gekannte Weise – zumindest für eine gewisse Zeit. Mentale Gesundheit, Resilienz und körperliche Regeneration (in Form von moderater körperlicher Bewegung) bekamen mit einem Schlag einen ungemein hohen Stellenwert.
In jeder Krise, egal ob groß oder klein, sind Anpassungsfähigkeit und Veränderungswillen gefragt. Egal ob das bisherige Leben von heute auf morgen auf den Kopf gestellt wird oder dies ein schleichender Prozess ist, irgendwann müssen die neuen Gegebenheiten akzeptiert werden. Dazu brauchen manche länger, andere kürzer – doch unserer Erfahrung nach wird wichtige Energie verpulvert, wenn zu lange mit einer neuen Situation gehadert wird. Zeitangaben sind dabei aber relativ zu sehen. Es gibt keine Normvorgaben, wie lange dieses Widerstandsstadium dauern »darf«.
Für Alex war es in der akuten Krise, als unsere Tochter im Wachkoma lag, enorm wichtig, dass er dank professioneller Hilfe lernte, seine rückwärtsgewandten Denkspiralen zu beenden. Warum ist das ausgerechnet uns passiert? Warum habe ich an diesem Unglückstag nicht anders gehandelt? Solche und ähnliche Fragen sind quälend und gleichzeitig lähmend und helfen nicht, die akute Situation bestmöglich zu meistern. Aber – sie sind normal.
Wir haben nun versucht, strukturiert aufzuarbeiten, wie es uns gelungen ist, uns an ein beinahe untragbares Schicksal »anzupassen« – mit dem nachhaltigen Willen, aus dieser Situation, die unser Leben so dramatisch veränderte, Stärke zu gewinnen. Wir greifen dafür nicht nur auf ganz persönliche Erfahrungen mit der Erkrankung Depression und dem Suizid unserer Tochter zurück, sondern auch auf unzählige (Therapie-)Gespräche mit Fachleuten verschiedenster Disziplinen und anderen Betroffenen. Auch unsere Arbeit als Trainer bzw. im Rahmen der audiovisuellen Wahrnehmungsförderung fließt in dieses Buch mit ein. Nicht zuletzt spielen auch Bücher, Artikel und andere Medien eine Rolle, die wir in Anspruch genommen haben, um uns selbst weiterzubilden.
In unseren Augen lassen sich drei wesentliche Themenkreise ausmachen, in denen sich bei uns ein wertvoller Anpassungs- und Veränderungsprozess abgespielt hat. An erster Stelle steht jener Aspekt, den wir als kognitiven Bereich bezeichnen möchten. Wir verstehen darunter die rationale Auseinandersetzung mit Themen wie Depression, Suizid und auch Trauer. Die Erkrankung, ihre Ursachen, ihre Folgen zu verstehen, das hat in der Akutphase und darüber hinaus sehr geholfen. Es ging darum, Worte zu finden für das, was uns passiert ist, und darum, das öffentliche und ureigene Tabu zu brechen.
Das zweite Themenspektrum, mit dem wir uns beide beruflich bereits viel auseinandergesetzt hatten, betrifft den körperlich-biologischen Bereich. Wie reagiert unser autonomes Nervensystem auf Stress, was sind die körperlichen Folgen dauerhafter Anspannung, und was kann man für eine effektive Regeneration tun? Das waren Fragen, auf die wir bereits vor unserem Schicksalsschlag Antworten suchten. Und dennoch fällt es in einer so tiefen Krise schwer, dieses Wissen in konkretes Tun umzusetzen. Es dauert unter Umständen sehr lange, bis man für sich selbst ein gleich guter Coach ist wie für andere.
Der dritte Punkt, der uns sehr wichtig erscheint und mit dem wir uns erst in jüngerer Vergangenheit bewusst auseinandergesetzt haben, ist das Thema Emotionen. In unserer nach stetigem Glück strebenden Gesellschaft scheinen »negative« Gefühle, wie Wut, Angst, Traurigkeit, Scham oder Neid, unerwünscht. Trauer sollte möglichst bald überwunden, Wut nicht zugelassen und Angst, Scham oder Neid verdrängt werden. Doch wenn man in einer so allumfassenden Krise steckt, wie wir das erleben mussten, drängen sich alle Gefühle mit unbändiger Macht auf – die positiven wie die negativen. Und dann gesellt sich irgendwann die Scham darüber hinzu, dass es nicht länger gelingt, die vermeintlich negativen Emotionen zu unterdrücken. Es war für uns beide der letzte befreiende Schritt, uns von diesen in frühester Kindheit erlernten Denkmustern zu lösen. Unser emotionales Erleben hat wie unsere Beziehung dadurch absolut an Qualität gewonnen.
In allen drei Bereichen befinden wir uns noch immer in einem Entwicklungsprozess, Rückschritte keinesfalls ausgeschlossen. »Alte« Themen drängen sich stets wieder auf, gerade wenn eine neue Krise (wie etwa Corona) dazukommt. Alle drei Bereiche hatten und haben, abhängig vom Zeitpunkt, immer wieder eine andere Qualität. Wir werden in unserer Erzählung auch die Unterschiede zwischen der akuten Phase einer Krise und den mittel- und langfristigen Folgen derselben hervorheben.
Einen weiteren Aspekt bildet die individuelle, ganz persönliche Betroffenheit in den jeweiligen Themenkreisen. Was macht so ein Schicksalsschlag mit mir als Persönlichkeit (privat wie beruflich), was macht er mit uns als Ehe- und Liebespaar, was als Eltern? Alle genannten Punkte und Teilbereiche sind miteinander vernetzt, lassen sich nicht linear hintereinander reihen, sondern bilden eine sich immer wieder verändernde Gemengelage.
Unser Anliegen ist es, Licht in dieses Durcheinander zu bringen, um einen Weg aufzuzeigen, der ein geglücktes Leben mit und in einer Krise möglich macht.
P.S: Dieses Buch schreiben wir gemeinsam: als Ehepaar, das an der bisher größten Krise seines Lebens gewachsen ist. Den schreibenden Part übernimmt wie schon bei »Mut zum Absprung« und »Mut zur Klarheit« Angela. (Die Ich-Form gebührt deshalb in diesem Buch ihr, während Alex mit Namen bzw. in der 3. Person genannt sein wird.)
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WENN ANPASSUNGSFÄHIGKEIT GEFRAGT IST
Nicht immer ist die Definition eines Begriffes, die auf Wikipedia zu finden ist, so einfach und treffend, dass man sich sofort etwas darunter vorstellen kann. Auch die Erklärung für den Begriff »Anpassungsfähigkeit« (mit seinen Synonymen Adaptivität, Adaptabilität oder Flexibilität) klingt etwas hölzern:
»Als Anpassungsfähigkeit (…) wird die Fähigkeit eines Lebewesens oder einer Gesellschaft zur Veränderung oder Selbstorganisation bezeichnet, dank der auf gewandelte äußere Umstände im Sinne einer veränderten Wechselwirkung zwischen (kollektiven) Akteuren untereinander (…) oder ihrer Umgebung gegenüber reagiert werden kann. Es ist die Fähigkeit, sich auf geänderte Anforderungen und Gegebenheiten einer Umwelt einzustellen.«
Tag für Tag müssen wir bei ganz alltäglichen Gelegenheiten unsere Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen: Wer den Wecker überhört hat, muss sich beeilen, um doch noch pünktlich in der Schule zu sein. Wer den Bus verpasst hat, muss auf den nächsten warten oder einen anderen nehmen. Wenn auf meinem gewohnten Weg zur Arbeit eine Baustelle eingerichtet wurde, muss ich einen Umweg fahren. Für die einen sind eben erwähnte Situationen überhaupt kein Problem, andere fühlen sich extrem gestresst.
Warum wir Veränderungsbewusstsein ins Treffen führen, wird spätestens dann klar, wenn es um größere Anpassungsleistungen geht, die nicht immer freiwillig erbracht werden. Auf Süßigkeiten zu verzichten, weil der Arzt dazu geraten hat, fällt, je länger die erwünschte Abstinenz dauert, oft schwer – vor allem, wenn sich der erhoffte gesundheitliche Erfolg nur langsam einstellt. Oft gelingt eine Umstellung des Lebensstils erst dann, wenn die Folgen unseres Tuns gravierend sind. Jemand, der eine nichtalkoholische Fettleber oder Diabetes Typ 2 aufgrund seiner Fehlernährung entwickelt hat, riskiert nicht nur seine Gesundheit, sondern auch sein Leben, wenn er damit unbeeindruckt weitermacht.
Das Bewusstsein für eine notwendige Veränderung zu entwickeln, erscheint einfach, wenn Handlung A ganz eindeutig zu Konsequenz B führt. Doch die Corona-Pandemie hat uns eindrucksvoll vor Augen geführt, was passiert, wenn mögliche Folgen nicht eindeutig festzulegen sind. Wurden im ersten Lockdown noch alle einschneidenden Regeln von den meisten Menschen befolgt, so kamen mit zunehmender Dauer der Pandemie immer mehr Zweifel auf. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden angezweifelt, Verschwörungstheorien begannen zu kursieren … Doch wir wollen hier keine Corona-Diskussion vom Zaun brechen, sondern vielmehr beispielhaft erläutern, dass es für eine persönliche Veränderung eine gewisse Einsicht braucht.
Warum sprechen wir an dieser Stelle nicht von Veränderungswillen? Weil dieser Begriff im Zusammenhang mit schweren Lebenskrisen einen zynischen Beigeschmack bekommt. Als hinge es allein von unserem »Willen« ab, ob wir von Krankheit, Tod oder finanziellem Ruin verschont bleiben. Menschen in ausweglosen Situationen fehlt oft schlicht die Möglichkeit, etwas zu verändern, und wir wollen gar nicht in die Nähe davon geraten, jemandem deshalb den Willen dazu abzusprechen. Zudem haben wir beide am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, seine Fähigkeit und zu einem großen Teil seinen Willen zur Anpassung durch Krankheit zu verlieren. Depressiv zu sein bedeutet nicht, ständig traurig zu sein, wie landläufig oft gemutmaßt wird. Eine Depression wirkt sich körperlich und seelisch aus, raubt einem jegliche Kraft und Perspektive (doch dazu später mehr).
Veränderung und Anpassung gelingen dann am schnellsten, wenn man keine Alternative mehr hat. Bei einem einschneidenden traumatischen Lebensereignis hat man keine Wahl. Als unsere Tochter nach ihrem Suizidversuch auf der Intensivstation lag, mussten wir unseren Alltag nach dieser neuen Situation ausrichten. Wir besuchten Nina jeden Tag, wobei es nur sehr reglementierte Möglichkeiten dazu gab. Wir organisierten die Betreuung der jüngeren Kinder, sagten Arbeitstermine ab, holten uns mentale Hilfe bei ÄrztInnen und TherapeutInnen, um diese dramatische Zeit durchzustehen. Gemeinsam fühlten wir uns bei den Besuchsterminen am sichersten, denn jeder Tag, jede Stunde konnte eine neue Hiobsbotschaft für uns bereithalten.
Dennoch wurde nach den ersten Wochen klar, dass wir so nicht weitermachen konnten. Unsere anderen Kinder brauchten uns ebenfalls als Eltern, gerade in dieser schweren Zeit. Und zwar nicht nur am Abend oder zwischen den Klinikterminen, sondern den ganzen Tag über. Sie brauchten uns nach der Schule, bei gemeinsamen Unternehmungen oder für den ganz normalen Alltag. Wir organisierten uns also als Familie ein weiteres Mal neu, teilten die Besuchstage bei Nina auf, wobei auch ihre Großmutter einen Tag fix und Freundinnen oft einzelne Tage übernahmen. So konnten wir für alle unsere Kinder da sein, sowohl als Elternpaar als auch einzeln. Wir waren uns bewusst, dass diese Veränderung notwendig war, und wir hatten auch die Möglichkeit dazu. Weil wir Unterstützung hatten, weil wir es uns finanziell leisten konnten, weil wir uns den beruflichen Alltag selbst einteilen konnten, weil wir keine lange Anfahrt zur Rehaklinik auf uns nehmen mussten. Wir waren uns dessen bewusst und dankbar dafür. Manch andere Familie hätte diese Möglichkeit der Veränderung wohl nicht gehabt.
Doch nicht nur im Tun, auch im Denken liefen weitere Anpassungsleistungen ab. Obwohl wir uns damals hinsichtlich der Krankheit Depression bereits erfahren glaubten, war uns das Schlimmste passiert. Unser ältester Sohn und Alex selbst hatten diese Krankheit bereits überwunden gehabt und waren wieder gesundet. Als unsere Tochter ebenfalls eindeutige Symptome einer Erkrankung zeigte, hatten wir schnell reagiert und psychiatrische Hilfe geholt. Dennoch war das Thema Suizid an sich ein Tabu geblieben. Wie sich nun dieser neuen Realität stellen? Das Schrecklichste, das, woran zu denken man sich stets verboten hatte, war geschehen.
Wir hätten das Thema Suizid auch weiterhin als Tabu verschweigen, Ninas Zustand mit einem Unfall erklären und uns vor der Wahrheit verstecken können. Doch es war uns wichtig, unseren Zugang zu diesem schwierigen Thema zu verändern. Es wurde uns bewusst, dass eine Veränderung lebenswichtig sein kann. Bis zu Ninas Suizidversuch waren wir der Meinung, wir dürften das Thema ja nicht erwähnen, um unsere Tochter nicht auf die Idee zu bringen, sich in ihrer Ausnahmesituation etwas anzutun. Auch bei unserem Sohn hatten wir das direkte Ansprechen damals vermieden, waren aber froh, dass es die Ärztin in der Klinik für uns übernahm. Heute wissen wir: Niemand, der an Depressionen leidet, wird durch das Ansprechen von Suizidgedanken erst auf die Idee gebracht. Im Gegenteil: Suizidgedanken kommen von ganz alleine, und ein Ansprechen kann für den Betroffenen eine enorme Erleichterung, ja mitunter lebensrettend sein.
Wie es uns als Eltern gelungen ist, Worte für das bis dahin Unaussprechliche zu finden, haben wir ausführlich in unserem Buch »Mut zur Klarheit« beschrieben. Das Geschehene nicht nur in der akuten Situation zu meistern, sondern auch langfristig positiv in sein Leben zu integrieren – darum wird es in den nächsten Kapiteln dieses Buches gehen. Anpassung verstehen wir in diesem Zusammenhang als eher kurzfristige Reaktion auf einen äußeren Umstand, während sich das Veränderungsbewusstsein auf eine längerfristig angelegte Beeinflussung der persönlichen Situation bzw. des persönlichen Erlebens bezieht.
Als Eltern waren wir in der Lage, unseren Schicksalsschlag so zu meistern, dass wir während Ninas Wachkoma allem gerecht wurden, was uns damals wichtig war: Wir kämpften um Ninas Genesung, waren für unsere anderen Kinder da, gingen offen mit den Themen Depression und Suizid um, holten uns professionelle psychologische Hilfe, organisierten die beruflichen Belange so, dass sie mit den familiären Umständen vereinbar waren, und sorgten nicht zuletzt für persönlichen Ausgleich in Form von Sport und Kultur. Nach Ninas Tod ließen wir uns auf den Prozess des Trauerns ein und suchten gleichzeitig nach einem Weg, wieder in ein »normales« Leben hineinzufinden – ohne Klinikalltag und Überlebenskampf. Wir konnten beide das, was uns zugestoßen war, gut in Worte fassen: in persönlichen Gesprächen, bei Vorträgen, bei Interviews und auch in unserem zweiten gemeinsamen Buch. Unser Umgang mit dieser schweren Lebenskrise war und ist bis heute für viele Menschen vorbildhaft. Es tat gut zu hören, wie stark wir seien und wie gut wir das alles gemeistert hätten.
Vieles von dem, was wir hier bis jetzt beschrieben haben, würden ExpertInnen wohl unter dem Fachbegriff »Resilienz« zusammenfassen. Oft vereinfacht als psychische Widerstandskraft bezeichnet, hat uns unter den vielen in Facetten unterschiedlichen Definitionen von Resilienz diese am meisten angesprochen:
Resilienz (von Lateinisch resilire, »zurückspringen«, »abprallen«) oder psychische Widerstandsfähigkeit ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.
Resilienz war auch während des Corona-Lockdowns in aller Munde. Auf allen Medienkanälen wurden Tipps gegeben, wie mit dieser völlig neuen Situation am besten umzugehen ist. Gleichzeitig war auch viel von einer sich verändernden Gesellschaft die Rede: Allgemeine Werte würden sich durch diese Krise verändern zu mehr Nachhaltigkeit und mehr Solidarität. Ob dem so ist, werden erst die nächsten Monate oder vielleicht sogar Jahre zeigen.
Was aber für uns ganz klar war, ist, dass es sehr von der jeweiligen sowohl persönlichen wie wirtschaftlichen Ausgangslage abhängt, wie gut man eine Krise wie diese bewältigt. In einem Haus mit Garten lässt es sich während der Quarantäne besser aushalten als in einer engen Wohnung ohne Balkon. Wer in der Vergangenheit Geld auf die Seite legen konnte, kann wirtschaftliche Einbußen leichter wegstecken als jemand, der jeden Cent umdrehen muss, um über die Runden zu kommen. Wer bereits Schlimmeres erlebt und dies gut überstanden hat, wird sich von Corona womöglich wesentlich weniger aus der Ruhe bringen lassen. Wer gelernt hat, wie er seine mentale Gesundheit stärkt, kann auch in Ausnahmesituationen auf diese Fähigkeiten zurückgreifen.
Warum wir uns dennoch nicht auf den Begriff Resilienz beschränken möchten, hat damit zu tun, dass wir das, was nach einer lebensverändernden Krise zur weiteren Lebensbewältigung notwendig ist, als viel komplexer und umfassender begreifen. Zudem klingt der Begriff sperrig und sagt für viele auf den ersten Blick wenig aus. In unseren Augen muss die kognitive Komponente, die bei der Resilienz oft im Vordergrund steht, um die körperliche und die emotionale Ebene erweitert werden. Wir selbst haben nach Meinung begleitender ExpertInnen in unserer Ausnahmesituation große Resilienz bewiesen, waren für viele ähnlich Betroffene Vorbilder.
Doch wie nachhaltig unsere Fähigkeit zur Anpassung ist, sollte sich erst in den Jahren nach Ninas Tod zeigen. Denn in Wahrheit begann für unsere Familie nach der Phase der allumfassenden Trauer bereits die nächste schwere Krise. Die Nachwehen des akuten Schicksalsschlages waren so massiv, so einschneidend, dass niemand in unserer (Kern-)Familie einfach zur Tagesordnung übergehen hätte können. Die »neue Normalität« – in Corona-Zeiten zum geflügelten Wort für eine Zeit der notwendigen Einschränkungen nach dem Lockdown geworden – gilt für uns ein Leben lang. Wie sich darauf einstellen? Wie mit dieser Schwere, mit diesen einschneidenden Erfahrungen weiterleben?
Viele unserer FreundInnen, auch jene, die uns in der Akutphase großartig unterstützt hatten, glaubten, mit Ninas Tod sei das »Schlimmste« quasi ausgestanden. Wir müssten uns nicht mehr um eine schwerstbehinderte Tochter kümmern, Nina selbst sei von ihren Qualen erlöst (was den Tatsachen entspricht), jetzt nur noch die notwendige Trauer und den Verlust verarbeiten (natürlich in ein paar Monaten), und dann ist alles wieder »normal«.
Nein, ist es nicht! Wir haben bis heute mit den Folgen unseres Schicksalsschlages zu kämpfen – psychisch und physisch. Gleichzeitig ist dieser Kampf aber auch ein Weg der Heilung, der nicht nur aktuelle, sondern auch ganz alte Wunden betrifft.
Dieser Weg hat ganz viel mit Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbewusstsein zu tun bzw. lässt sich mit diesen beiden Begriffen gut umreißen. Mit jedem Jahr, das nach Ninas Tod vergangen ist, hat sich unser Erfahrungshorizont erweitert und der persönliche Zustand verändert. Es ist und war ein Prozess, der uns an den Punkt gebracht hat, dieses Buch nun zu veröffentlichen. Zu einem früheren Zeitpunkt wären wir noch nicht so weit gewesen, wie wir es jetzt sind. Und die Zukunft wird uns mit Sicherheit noch weiter verändern. Doch wir beide glauben, dass unser Dasein nun auf einem guten, tragbaren Fundament steht, so dass wir uns zu sagen getrauen: So kann es funktionieren, so kann es gelingen, nachhaltig zufrieden zu sein – egal, was war, egal, was noch kommt.
Wir werden die nächsten Kapitel dieses Buches in drei große Abschnitte unterteilen, die stellvertretend für je einen Teil unseres Weges stehen. Da ist zum einen der kognitive Zugang: Zu verstehen, was mit Nina passiert ist, was das alles mit uns macht, war einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Krisenbewältigung. Das Verstehen-Wollen hält bis heute an, oft gibt es Zusammenhänge oder Erkenntnisse, die erst nach einer gewissen Zeit zugänglich sind. Ich hätte es zum Beispiel direkt nach Ninas Tod nie geschafft, ein Buch über Trauer zu lesen. Auch ein Seminar mit dem Thema »Tabu Suizid – Wir sprechen darüber« musste ich frühzeitig abbrechen. Dieses distanzierte wissenschaftliche Befassen mit einem für mich zutiefst emotionalen Thema war mir lange Zeit nicht möglich, obwohl ich gleichzeitig offen über beides sprechen konnte.
Zum körperlichen Zugang von Krisenbewältigung hatten wir bereits vor unserem Schicksalsschlag aus beruflichen Gründen gefunden – Alex als Skisprungtrainer und ich als AVWF-Trainerin. Auf Grundlage der von Ulrich Conrady entwickelten Audiovisuellen Wahrnehmungsförderung beschäftigten wir uns mit Stressregulierung und der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges, die gerade im englischsprachigen Bereich bei immer mehr Therapieformen Beachtung findet.
Es geht um die Antwort unseres autonomen Nervensystems auf einen externen oder internen Reiz, der als Gefahr gewertet wird. Schaltet unser Körper in den Kampf- oder Fluchtmodus, so werden unbewusst blitzschnell bestimmte Prozesse eingeleitet: Unser Herz schlägt schneller, die Muskelspannung erhöht sich, das Blickfeld verengt sich. Chronische Anspannung oder ein extrem überforderndes Ereignis, das kämpfen oder flüchten unmöglich macht, führen hingegen zu einem Zustand der Erstarrung. Unser »Reptiliengehirn« wird aktiv und will uns mit dem energiesparenden Totstellreflex möglichst schadlos durch die Gefahr bringen.
Löst sich eine potenzielle Gefahrensituation schnell wieder auf, dann gelingt es einem anpassungsfähigen Organismus, sich genauso rasch wieder zu beruhigen, wie er sich zuvor erregt hat. Bleibt eine prekäre Situation aber über längere Zeit bestehen, dann verharrt unser Gehirn in erhöhter Alarmbereitschaft. Dies war für viele Menschen während des Lockdowns deutlich zu spüren. Jeden Tag musste man sich auf Neuerungen einstellen, während die Lage insgesamt im Ungewissen blieb. Angst erhöhte bei vielen zunächst die Anpassungsfähigkeit, bei manchen führte sie aber auch ganz schnell zur Erstarrung.
Diese ständige Alarmbereitschaft kostet den Körper viel Energie, zumal auch Schlafqualität und Erholungsfähigkeit sinken. Wie lange dieser Zustand aufrechtzuerhalten ist, hängt ganz von den individuellen Ressourcen und den äußeren Umständen ab. Was folgt, ist eine Phase der Erschöpfung und im besten Fall der notwendigen Regeneration. Während wir in den ersten Wochen des Shutdowns rege Betriebsamkeit entwickelten – das Haus gründlich durchputzten, im Garten neue Beete anlegten, unsere Social-Media-Kanäle bedienten –, setzte irgendwann bleierne Müdigkeit ein.
Wem wollten wir mit unserer übertriebenen Geschäftigkeit etwas beweisen? Durften wir es uns nicht erlauben, in dieser Ausnahmesituation müde zu sein? Als Nina im Wachkoma lag, verdrängten wir bewusst 13 Monate lang alle Hinweise unseres Körpers, dass es Zeit wäre, sich zu erholen. Die Hoffnung auf Genesung ließ uns durchhalten und ein immenses Arbeitspensum zwischen Klinik, Beruf und der restlichen Familie bewältigen. Genauso wie Alex jahrelang mit extrem wenig Schlaf ausgekommen war, als er auf dem Weg zum erfolgreichen Skisprungtrainer fast rund um die Uhr gearbeitet hatte. Dieser Raubbau an der eigenen Gesundheit machte sich erst später bemerkbar, als ihn die Erkrankung unseres ältesten Sohnes in die Erschöpfungsdepression führte.
Das Bewusstsein, dass es einer Veränderung bedurfte, kam also sehr spät und war zu dieser Zeit auch nicht nachhaltig. Wir beide hatten längst verlernt, auf die Bedürfnisse unseres Körpers zu hören. Mehrere Bandscheibenvorfälle bei Alex, immer stärker werdende Migräneattacken bei mir waren dank starker Schmerzmitteln als Signale immer noch zu schwach, um nachhaltig gehört zu werden. Wir beide waren getrieben von dem Gedanken, etwas leisten zu müssen, egal ob im Beruf, als Eltern oder im Privatleben. Sich zu erholen war nur kurz erlaubt, entweder als Belohnung oder aufgrund unseres schweren Schicksalsschlages, dann musste es weitergehen. Diese ungesunden Verhaltensmuster waren (und sind es teilweise bis heute) unterfüttert mit für uns negativen Emotionen: Ich habe mich geschämt, faul vor dem Fernseher zu liegen. Alex fühlte sich wertlos, wenn er nicht beruflich arbeitete. An dieser Stelle wird der Zusammenhang mit dem emotionalen Anteil von Anpassungsfähigkeit sehr gut sichtbar.