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Alex Lefrank
In der Welt – nicht von der Welt
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ
und Martin Müller SJ
Band 52
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuiten-orden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Alex Lefrank
In der Welt – nicht von der Welt
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© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de Umschlag: Peter Hellmund Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03429-0 (Print) ISBN 978-3-429-04613-2 (PDF) ISBN 978-3-429-06015-2 (Epub)
Inhalt
Einführung: Was heißt weltoffen?
1. Biblische Grundlagen
Schöpfung und Reich Gottes
Die Welt im Johannes-Evangelium
Der Mensch dieser Welt-Zeit nach Paulus
Christus und der Kosmos nach dem Epheser-und Kolosser-Brief
Der Sieg des Lammes in der Offenbarung des Johannes
2. Gesellschaftliche Systeme
Mythos oder Wirklichkeit?
Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts
Unser gegenwärtiges Gesellschafts-System
Die Akteure hinter den Kulissen
3. Die Konzils-Aussagen von Gaudium et spes
4. Ignatius und sein Welt-Verhältnis
5. Die Exerzitien – Schule für das Wirken in der Welt
Entscheidungs-Freiheit als Ziel
Die Bedeutung von Herkunft und Autorität
Wie Christus in der Welt
Als Glieder eines Leibes wirken
Anmerkungen
Einführung: Was heißt weltoffen?
Die Jesuiten gelten als weltoffen. Ignatius und seine Gefährten wollten in die Welt hinein wirken. Sie wollten kein Ordensgewand, kein Chorgebet und keine Häuser außerhalb der Städte. Sie wollten mitten in der Welt präsent sein. Sie wollten Menschen dazu gewinnen, die Welt im Sinne des Evangeliums zu gestalten. Die Pariser Magistri, wie man sie in Rom nannte, gehörten zu den Reformkräften ihrer Zeit. Weil Bildung ein entscheidendes Feld der Welt-Gestaltung ist, gründete Ignatius schon bald die ersten Kollegien. In den folgenden Jahrhunderten hatte der Orden fast eine Monopol-Stellung für höhere Bildung in Europa. Dies war nur in Kooperation mit den Fürsten möglich. Jesuiten dienten ihnen als Hofbeichtväter. Schon Ignatius hatte sich dafür entschieden, trotz der Gefährdungen. In den Marianischen Kongregationen, den ignatianischen LaienGruppen, suchte der Orden Menschen zu befähigen, in der Welt im Sinne des Evangeliums zu wirken. Durch all dies hatte der Orden wesentlichen Anteil an der Gestaltung der europäischen Gesellschaft des 16. bis 18. Jahrhunderts.
Diese weltoffene Haltung prägt den Orden auch heute noch. Auch heute versucht der Orden auf die Bewegungen einzugehen, die die Geschichte der Welt prägen. Als Johannes XXIII. symbolisch das Fenster öffnete und zum »Aggiornamento« der Kirche aufrief, gehörten Jesuiten zu denen, die diese Aufforderung engagiert aufgriffen. Die Öffnung zur modernen Welt, die die Konzils-Konstitution Gaudium et spes formulierte, wurde geradezu zur Leitlinie für die Arbeit der Jesuiten. Um diese Arbeit konkret auszurichten, gingen die letzten Generalkongregationen des Ordens von der Frage aus: Was brauchen die Menschen heute? In welche Situation sind wir gesandt? Dialog wurde zum zentralen Begriff, mit dem das Apostolat des Ordens charakterisiert wurde. Das bezeugt die Zusammenfassung der Sendung des Ordens in einer seiner letzten Generalkongregationen: »Heute sind wir uns darüber im Klaren: Kein Dienst am Glauben ohne Förderung der Gerechtigkeit, Eintritt in Kulturen, Offenheit für andere religiöse Erfahrungen. Keine Förderung der Gerechtigkeit ohne Glauben mitzuteilen, Kulturen umzuwandeln, mit anderen Traditionen zusammenzuarbeiten. Keine Inkulturation, ohne sich über den Glauben auszutauschen, mit anderen Traditionen in Dialog zu treten, sich einzusetzen für Gerechtigkeit. Kein Dialog, ohne den Glauben mit anderen zu teilen, Kulturen zu untersuchen, Sorge zu tragen für Gerechtigkeit.«1 Für Laien heißt das, sich zu befähigen, die Einheit zwischen dem Glauben und ihrem beruflichen und familiären Engagement zu suchen. Stehen sie doch in der vordersten Front als Christen mitten in der Welt. In der GCL (Gemeinschaft Christlichen Lebens, wie die erneuerten Marianischen Kongregationen heute heißen) ist so eine apostolische Gemeinschaft herangewachsen.
Was aber heißt »weltoffen«? Jeder Mensch lebt nicht nur in der Welt, sondern ist ein Teil von ihr. Er wächst in einer bestimmten Kultur auf, nimmt damit Lebensgewohnheiten und Urteilskriterien in sich auf, die sein Leben prägen. Der Mensch gehört also zunächst und zuerst zur Welt – und nicht zum Reich Gottes. Um Bürger des Reiches Gottes zu werden, muss er umkehren: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15) Aus einer bestehenden Weltoffenheit muss er sich für das Neue, für das Evangelium öffnen. Dieser Umkehrprozess verlangt eine kritische Auseinandersetzung mit den Maßstäben und Gewohnheiten der Welt. Auch Jesuiten und ignatianische Laien waren zuerst Bürger der Welt, bevor sie sich auf das Reich Gottes zubewegten. Diese Bewegung ist ein längerer Prozess und ist niemals abgeschlossen. Er verlangt ständige Wachheit. Das entscheidende Mittel, das die ignatianische Spiritualität dafür anbietet, sind die Exerzitien. In ihnen hat Ignatius aus seinem eigenen Umkehrprozess ein Instrumentarium entwickelt, um sich für das Evangelium so sehr zu öffnen, dass seine Maßstäbe und Urteilskriterien das eigene Leben durchdringen und bestimmen. Sie führen dazu, sich in einem archimedischen Punkt jenseits der Welt festzumachen. Dieser archimedische Punkt ist Christus, der von sich sagt: »Ich bin nicht von der Welt« (Joh 17,16). Mit ihm ist es möglich, in die Welt hinein zu wirken, in der man aufgewachsen ist und lebt.
Vom Evangelium her ist also »weltoffen« eine ambivalente Qualifizierung. Meint »weltoffen« eine unterschiedslose Gleichheit mit dem, was man in der modernen Welt mehrheitlich meint und tut – oder weist es darauf hin, dass man sich der geschichtlichen Situation vorurteilsfrei stellt, in der man lebt? Sind Jesuiten deshalb geschätzt, weil sie – anders als andere in der Kirche – die Tendenzen ihrer Zeit übernommen und in die Kirche hineingetragen haben oder weil sie sich der Diskussion mit diesen Tendenzen stellen, um sie vom Evangelium her anzuschauen und zu werten?
Heute, fast 50 Jahre nach dem Konzil, leben wir nicht mehr in der »Moderne«, sondern in der »Postmoderne«. Ihre Kennzeichen sind: die gewachsenen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten vor allem im biologischen und medizinischen Bereich; die elektronische Kommunikation, die globale Vernetzung hervorgebracht hat; die Krise der globalen wirtschaftlichen Entwicklung; Religion als vitale Kraft, die bis in die WeltPolitik hinein wirkt. Von daher sind neue Fragen auf die Tagesordnung gekommen, denen nicht mehr auszuweichen ist: Nach welchen Kriterien sind die wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten zu beurteilen? Welche Art von Entwicklung ist sinnvoll, welche ist zerstörerisch? Welche politischen Strukturen braucht es, um die Probleme der eins gewordenen Welt wirksam zu bearbeiten: Klimawandel, Umwelt-Zerstörung, internationaler Terrorismus, Ressourcen-Verknappung, Überschuldung vieler öffentlicher Haushalte, internationaler Finanzmarkt ohne Rückbindung an reale Wirtschafts-Vorgänge, Bevölkerungswachstum in den armen Ländern – Überalterung in den reichen Ländern, extreme Ungleichheit in der Verteilung der Mittel? Nachdem die Moderne vor allem vom Streben nach individueller Freiheit bestimmt war, verlangen diese Fragen nach gemeinsamen Antworten. Und sie verlangen nach Antworten, die die Grund-Überzeugungen menschlicher Existenz berühren.
Wie ist die ignatianische Weltoffenheit angesichts dieser Situation zu leben? Welche Hilfen bietet die ignatianische Spiritualität zur Beantwortung dieser Fragen? Sie gründet in der biblischen Offenbarung. Deshalb muss die Antwort bei den biblischen Quellen ansetzen. Nur aus der Quelle kommt die Kraft, die den Fluss auch im neuen Terrain seinen Weg bahnen lässt.
1. Biblische Grundlagen
Schöpfung und Reich Gottes
Die biblische Botschaft von der Welt ist geprägt durch eine Dialektik: Einerseits wird Gott als der »Schöpfer des Himmels und der Erde« verkündet, andererseits wird nicht er, sondern sein Gegenspieler Satan als »Herrscher dieser Welt« bezeichnet (Joh 12,31; 14,30; 16,11). Einerseits heißt es von der Schöpfung mit dem Menschen: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut« (Gen 1,31). Andererseits heißt es: »Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben« (Gen 6,6). Was war geschehen, dass es »den Herrn reute«? Wie kann Gott, von dessen Gnaden doch alles ist, was ist, zulassen, dass es in seiner Welt Böses gibt? Wie kann es dazu kommen, dass Schöpfung nicht einfach sein Reich, sein Herrschafts-Bereich ist?
Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel hindurch. Dieser rote Faden ist wie eine brennende Zündschnur. Sie bedroht die Menschen aller Zeiten. Das ganze Alte Testament ist ein Zeugnis davon, wie sich der Jahwe-gläubige Mensch mit dieser Frage quält. »Wie lange, Gott, darf der Bedränger noch schmähen, darf der Feind ewig deinen Namen lästern? Warum ziehst du die Hand von uns ab, hältst deine Rechte im Gewand verborgen?« (Ps 74,10–11) Es ist undenkbar, dass Jahwe dem Unrecht recht gibt – und doch herrscht vielfach Unrecht in der Welt. Das Alte Testament ist ein Kampfbuch. Es schildert den Überlebens-Kampf eines Volkes, angefangen von der Befreiung aus der Hand des Pharao bis zu den Kriegen der Makkabäer. Gott ergreift Partei für sein Volk, für die Rechtschaffenen, für die Witwen und Waisen, für die Armen. Innerhalb der Geschichte muss Recht hergestellt werden. Und doch unterliegt sein Volk, die Seinen, immer wieder. In der Geschichtsdeutung der Propheten werden diese Niederlagen auf die Untreue Israels zurückgeführt. So geschieht ihnen recht, wenn sie besiegt werden. Erst allmählich kommt eine Perspektive über diese irdische Geschichte hinaus in den Blick. Zunächst zaghaft: »Da sann ich nach, um das zu begreifen; es war eine Qual für mich, bis ich dann eintrat ins Heiligtum Gottes und begriff, wie sie (die Frevler) enden. Ja, du stellst sie auf schlüpfrigen Grund … und (sie) nehmen ein schreckliches Ende« (Ps 73,16–19). Das Recht wird hergestellt, aber es dauert. Es braucht einen langen Atem, um den Sieg Gottes über die Frevler zu erleben. In den späten Texten der Bibel geht der Blick über die irdische, innergeschichtliche Perspektive hinaus. Aber der Ausgangspunkt der Betrachtung sind die Großreiche der Neubabylonier, der Meder und Perser, Alexanders des Großen und seiner Nachfolger. Sie alle gehen unter. »Zur Zeit jener Könige (der Nachfolger Alexanders) wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht.« Derselbe Begriff »Reich«, der die irdischen Großreiche bezeichnet, wird nun für ein himmlisches Reich gebraucht, »das in alle Ewigkeit bestehen wird« (Dan 2,44). Es ist nicht rein jenseitig, nicht nur im Himmel. Es löst in der Vision Daniels die Großreiche dieser Erde ab.
Von daher ist es verständlich, dass man zur Zeit Jesu sehnsüchtig erwartete, dass Jahwe eingreifen und sein Volk aus der Bedrängnis retten werde. Noch nach der Auferstehung fragen die Jünger: »Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?« (Apg 1,6) »Das Reich für Israel« – dieses Wort ruft das Bild Davids und seines Reiches wach, ein Verheißungs-Bild, aber ein durchaus innergeschichtlich-politisches. Hatte nicht Jesus selbst vom Reich gesprochen?
Aber Gott setzt mit seiner Herrschaft nicht bei den politischen Machtträgern, bei den gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen an. Er schickt einen einzelnen Menschen, seinen Sohn, mitten in die Welt hinein – in die Welt, wie sie sich entwickelt hat. Er rettet sein Volk nicht von außen oder von oben her, sondern von innen. Im Wirken dieses einen, Jesus, ist das Reich Gottes schon in diese Welt eingebrochen. Dieses Reich ist ein Reich der Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit, die »weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer« (Mt 5,20) und die bedingungslose Liebe ist. Reiche und Institutionen können nicht lieben. Nur Personen lieben. Nicht von der Änderung der Verhältnisse kommt das Heil, sondern von der Wandlung der Herzen. Dazu kann Jesus nur einladen. Aber er verbindet diese Einladung mit Heilungen von Krankheit, Befreiung von Dämonen, Erweckung von Toten. Dadurch macht Jesus klar, dass das Reich Gottes nicht nur ein »ethisches« Reich ist; es ist die Wiederherstellung der ganzen Schöpfung zu jener Gutheit, die sie im Anfang hatte.
Dieses Reich ist zwar »nahe« und im Wirken Jesu hereingebrochen, aber es ist noch nicht einfach da. Es ist nicht so da, wie eine Gegebenheit, eine Situation, in der man sich vorfinden könnte. Noch ist die konkrete Schöpfung nicht deckungsgleich mit diesem Reich. Noch ringen die Menschen mit den Ungerechtigkeiten, Kriegen, Naturkatastrophen, Krankheiten. Jesus hat »viele« geheilt, aber nicht alle – auch wenn es alle waren, die zu ihm kamen. Er war »nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt« (Mt 15,24). Und er wurde von seinem Haus Israel – jedenfalls von seinen offiziellen Repräsentanten – verworfen und den Römern zur Kreuzigung ausgeliefert. Wenn er nicht als Auferstandener den Jüngern begegnet wäre, wäre sein Wirken und seine Botschaft eine Episode in der Menschheitsgeschichte geblieben und dem Vergessen anheimgefallen. Durch seine Jünger, den Zeugen des Auferstandenen, ist Christus in der Welt präsent geblieben und wird weiterhin präsent gemacht. Aber diese Präsenz geschieht nur durch Wort und Zeugnis, manchmal leuchtend, ja wunderbar, oft verdunkelt und unglaubwürdig. Dieses Zeugnis ist nicht unwirksam geblieben in der Geschichte der Menschheit, aber es hat die Welt nicht auf der ganzen Linie verwandelt. Diejenigen, die Christi Wort glauben und ihr Leben danach ausrichten, sind eine Minderheit, eine Minderheit, die verfolgt wird. Jesus hat diese Verfolgung vorausgesagt. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung, muss diese »kleine Herde« (Lk 12,32) trösten. Der Trost ist vor allem der Blick auf den Endsieg des »Lammes«. Dieser Endsieg ist nicht mehr innergeschichtlich; er beendet die Geschichte. Er ist ein solcher Kontrast zu dem, was jetzt zu erleben ist, dass von einem »neuen Himmel und einer neuen Erde« die Rede ist (Offb 21,1). Wie ist unter dem »ersten Himmel« und auf der »ersten Erde« zu leben, solange der »neue Himmel und die neue Erde« noch nicht geschaffen sind? Wie ist in einer Welt zu leben, in der das Reich Gottes »nahe«, aber noch nicht da ist? In einer Welt, in die das Reich in der Person und im Wirken Jesu hereingebrochen, aber eben nicht einfach vorhanden ist? Das Markus-Evangelium sagt es: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15) Umkehr und Glaube sind eins: Die Umkehr besteht im Glauben; der Glaube ist radikale Umkehr. Umkehr sowohl als Umdenken wie als neues Verhalten. Die Evangelien zeigen auf, was das heißt: nicht sorgen, sondern radikal auf die Fürsorge Gottes vertrauen (Mt 6,25–33); die Feinde lieben, Böses mit Gutem vergelten (Mt 5,38–47); klein werden wie die Kinder (Mt 18,3–4); die eigenen Anliegen vertrauensvoll Gott, dem Vater, anvertrauen (Lk 11,9–13).
Interessanterweise ist der Begriff »Reich Gottes« fast nur in den synoptischen Evangelien zu finden. In der Apostelgeschichte, den johanneischen Schriften, den Paulus- und den übrigen Briefen kommt er nur noch selten vor. Der Grund dafür: Diese Teile des Neuen Testaments blicken auf ein Ereignis zurück, das eine neue Situation geschaffen hat: Tod und Auferstehung Jesu. War vorher das Reich Gottes »nahe« als Angebot in Jesu Wirken und Verkünden, so hat es sich in Tod und Auferstehung Jesu bereits definitiv ereignet. Mit Jesus dem Auferstandenen, dem »Ersten der Entschlafenen« (1 Kor 15,20), ist die Endzeit bereits angebrochen. Die »in Christus« wandeln, leben als »neue Schöpfung« (2 Kor 5,17; Gal 6,15) und »ziehen den neuen Menschen an« (vgl. Eph 4,24). Durch die Taufe sind sie Christus »gleich geworden in seinem Tod« und »mit ihm begraben«, damit sie »als neue Menschen leben« (Röm 6,4–5). Das Neue des »neuen Bundes« ist unüberholbar neu. Es veraltet niemals mehr. Der mit Christus Verbundene lebt in zwei Welten: »in dieser Welt« und schon in »der zukünftigen« (Eph 1,21). Er hat schon »Bürgerrecht im Himmel« (Phil 3,20).
In Bezug auf die aktive Welt-Gestaltung ist das Neue Testament eher zurückhaltend. Christus erteilt den Seinen keinen Auftrag, die Welt strukturell umzugestalten. Sie sollen »ihm nachfolgen«, d.h. arm und gewaltfrei, liebend und geduldig in dieser Welt leben und den Menschen begegnen. Die Christen werden als »Auserwählte« und »Fremde«, die »in der Zerstreuung leben« (1 Petr 1,1) angesprochen. Es gelten die Zehn Gebote und die sozialen Weisungen des Alten Testaments: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (Lev 19,18). Es gelten die Gesetzmäßigkeiten, die der Schöpfung eingeschaffen sind. Die politisch-gesellschaftliche Autorität ist zu respektieren: »Unterwerft euch um des Herrn willen jeder menschlichen Ordnung: dem Kaiser, weil er über allen steht, den Statthaltern, weil sie von ihm entsandt sind, um die zu bestrafen, die Böses tun, und die auszuzeichnen, die Gutes tun … Fürchtet Gott und ehrt den Kaiser!« (1 Petr 2,13–17) Besonders bemerkenswert sind die Aussagen zur Sklaverei. Natürlich ist klar, dass es in Christus keinen Unterschied gibt zwischen Sklaven und Freien (1 Kor12,13; Gal 3,28; Phlm 16). Aber die Sklaven werden nicht dazu aufgerufen, sich aus der Sklaverei zu befreien oder gar zu revoltieren, im Gegenteil; sie werden ermahnt: »Gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus« (Eph 6,5). Exemplarisch zeigt Jesus in der Konfrontation mit der staatlichen Macht des Pilatus, dass die entscheidende Freiheit die Freiheit für die Wahrheit ist, wenn er sagt: »Mein Reich ist nicht von hier … Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme« (Joh 18,36–37). Pilatus hat diese Stimme wohl gehört; aber die Angst um seine Stellung hat ihn daran gehindert, ihr zu folgen. Im Laufe der Jahrhunderte hat Jesu Stimme der Wahrheit immer wieder Gehör gefunden. Sie hat Menschen in die Freiheit geführt, auch wenn sie äußerlich versklavt waren. In dieser inneren Freiheit haben sie den Mut gefunden, für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten, auch wenn sie um ihr Leben fürchten mussten. Sie sind zum Samenkorn des Reiches Gottes geworden. Als solche sind nicht wenige von ihnen in die »Erde gefallen und gestorben und haben reiche Frucht gebracht« (vgl. Joh 12,24). In ihnen ist der Same aufgegangen, den Jesus ausgesät hatte.
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