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Czytaj książkę: «Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1», strona 51

Czcionka:

»So fern?«

»Es ist nur zwei Schritte, überdies führt mich mein Wagen nach Bougival; ich nehme Sie mit. Wir gehen den Chemin-de-la-Princesse nach Luciennes hinauf und erreichen von dort Marly. Botaniker halten jeden Augenblick an; unser Verwundeter trägt unsere Feldstühle; Sie und ich, wir sammeln beide Kräuter, und er wird leben.«

»Was für ein liebenswürdiger Mann sind Sie, mein theurer Gelehrter!« sprach Rousseau.

»Lassen Sie mich gewähren, ich finde mein Interesse hiebei. Sie haben, wie ich weiß, eine große Arbeit über die Moose vorbereitet, und ich, ich tappe hierin etwas im Finstern: Sie werden mich leiten.«

Oh!« machte Rousseau, der seine Freude nicht zu verbergen vermochte.

»Dort.« fügte der Botaniker bei, »dort ein kleines Frühstück, Schatten, herrliche Blumen, das ist abgemacht?«

»Es ist abgemacht  . . .«

»Am Sonntag die reizende Partie!«

»Köstlich, Es ist mir, als wäre ich erst fünfzehn Jahre alt; ich genieße zum Voraus das ganze Glück, das mir zu Theil werden wird,« sprach Rousseau mit der Wonne eines Kindes.

»Und Sie, mein kleiner Freund, stärken Sie Ihre Beine bis dahin!«

Gilbert stammelte eine Art von Dank, den Herr von Jussieu nicht hörte, und die beiden Botaniker überließen ihn seinen Gedanken und besonders seinen Befürchtungen.

LXXI.
Das Leben kehrt zurück

Während Rousseau seinen Kranken völlig beruhigt zu haben glaubte und Therese allen ihren Nachbarinnen erzählte, durch die Vorschriften des gelehrten Arztes, des Herrn von Jussieu, sei Gilbert völlig außer Gefahr, während dieser Periode allgemeinen Vertrauens lief der junge Mann gerade der schlimmsten Gefahr entgegen, der er durch seine Hartnäckigkeit und seine beständigen Träumereien preisgegeben war.

Rousseau konnte nicht so vertrauensvoll sein, hätte er nicht im Grunde seiner Seele ein auf ein philosophisches Raisonnement fest gestütztes Mißtrauen gehabt.

Da er wußte, daß Gilbert verliebt war, da er diesen bei einer Rebellion gegen die ärztlichen Verordnungen auf der That ertappt hatte, so dachte er, Gilbert würde in denselben Fehler verfallen, wenn man ihm zu viel Freiheit ließe.

Als guter Familienvater schloß also Rousseau sorgfältiger als je das Vorlegeschloß der Dachkammer von Gilbert, wobei er ihm in petto an das Fenster zu gehen gestattete, ihn in Wirklichkeit aber aus der Thüre zu treten verhinderte.

Es läßt sich nicht ausdrücken, welchen Zorn und welche Pläne Gilbert diese Fürsorge einflößte, die seinen Speicher in ein Gefängniß verwandelte.

Bei gewissen Geistern wirkt der Zwang befruchtend.

Gilbert dachte nur noch an Andrée, an das Glück, sie zu sehen und, wäre es auch nur aus der Ferne, die Fortschritte ihrer Wiedergenesung zu beobachten. Nicole, welche Tisanen auf Porzellanplatten trug, Herr von Taverney, der im kleinen Garten auf und abging und dabei wüthend schnupfte, als wollte er seine Geister erwecken, dies war Alles, was Gilbert sah, wenn er mit glühenden Blicken die Tiefe der Zimmer oder die Dicke der Mauern befragte.

Diese einzelnen Umstände, beruhigten ihn indessen ein wenig, denn sie offenbarten eine Krankheit und nicht einen Tod.

»Dort,« sagte er zu sich selbst, »dort hinter jener Thüre, oder hinter jenem Windschirm athmet, seufzt und leidet diejenige, welche ich bis zur Abgötterei liebe; diejenige, welche, wenn sie sich zeigte, den Schweiß von meiner Stirne laufen und meine Glieder zittern machen würde; diejenige, welche mein Dasein an ihr Dasein festgenietet hält, und durch die ich athme, weil sie für uns Beide athmet.«

Und aus seiner Dachluke so weit vorgeneigt, daß die neugierige Chon zwanzigmal in einer Stunde glaubte, er würde sich herausstürzen, nahm Gilbert mit seinem geübten Auge das Maaß der Scheidewände, der Böden, der Tiefe des Pavillon, und setzte sich daraus einen genauen Plan zusammen: dort mußte Herr von Taverney schlafen, dort mußten die Bedientenstube und die Küche sein, dort das für Philipp bestimmte Zimmer, dort das Cabinet, welches Nicole bewohnte, dort endlich das Zimmer von Andrée, das Allerheiligste, wofür er sein Leben hingegeben hätte, wäre es ihm gestattet gewesen, einen Tag auf den Knieen an seiner Thüre zu verweilen.

Dieses Allerheiligste war nach den Ideen von Gilbert ein großes Zimmer im Erdgeschoß, mit einem Vorzimmer und durch eine Glasthüre von einem vorausgesetzten Cabinet getrennt, wo Nicole nach den Anordnungen von Gilbert ihr Bett hatte.

»Oh!« sagte zu sich selbst der Verrückte in seinen Anfällen neidischer Wuth, »glücklich sind die Wesen, welche in dem Garten gehen, auf den man aus meinem Fenster und aus denen der Treppe hinabschaut! glücklich die Gleichgültigen, welche den Sand an den Blumenbeeten niedertreten! Dort muß man in der Nacht Fräulein Andrée klagen und seufzen hören.«

Vom Wunsch zur Ausführung ist es weit; doch reiche Phantasien rücken Alles näher zusammen; sie haben ein Mittel hiezu. Im Unmöglichen finden sie das Wirkliche, sie wissen Brücken über die Flüsse zu sprengen und Leitern an die Gebirge anzulegen.

In den ersten Tagen begnügte sich Gilbert mit dem Wünschen.

Dann bedachte er, diese so sehr beneideten Glücklichen seien nur Menschen, begabt wie er mit Beinen, um den Boden im Garten zusammenzutreten, und mit Armen, um die Thüren zu öffnen. Nach und nach stellte er sich das Glück vor, das man fühlen müßte, wenn man verstohlener Weise in dieses verbotene Haus dringen und das Ohr an die Sommerläden legen würde, durch die das Geräusch aus dem Innern hervordränge.

Bei Gilbert war es zu wenig, gewünscht zu haben, die Ausführung mußte unmittelbar folgen.

Seine Kräfte kehrten übrigens rasch zurück. Die Jugend ist fruchtbar und reich. Nach Verlauf von drei Tagen fühlte sich Gilbert so stark, als er es je gewesen.

Er vermuthete, Rousseau habe ihn eingeschlossen, eines der größten Hindernisse war dadurch besiegt, das Hinderniß, bei Fräulein von Taverney durch die Thüre einzutreten.

Die Thüre ging in der That auf die Rue Coq-Héron. In der Rue Plastrière eingeschlossen, konnte Gilbert in keine Straße gelangen und hatte folglich nicht nöthig, irgend eine Thüre zu öffnen.

Es blieben die Fenster.

Das von seiner Dachkammer ging abschüssig auf acht und vierzig Fuß Mauer.

Ohne trunken oder völlig wahnsinnig zu sein, hätte es Niemand gewagt, hier hinabzusteigen.

»Oh! diese Thüren sind nichtsdestoweniger schöne Erfindungen,« wiederholte er, an den Fingern nagend, »und Herr Rousseau, ein Philosoph, verschließt sie mir!«

»Das Schloß abreißen! leicht, ja; doch keine Hoffnung mehr, in das gastfreundliche Haus zurückzukehren.«

»Von Luciennes entfliehen, aus der Rue Plastrière entfliehen bleibt immer entfliehen, und das hieße einen Weg einschlagen, um es nicht mehr zu wagen, irgend einem Geschöpf ins Gesicht zu schauen, ohne den Vorwurf der Undankbarkeit oder des Leichtsinns zu befürchten.«

»Nein, Herr Rousseau soll nichts erfahren!«

Und an seiner Luke hockend, fuhr Gilbert fort:

»Mit meinen Beinen und meinen Händen, den natürlichen Werkzeugen des freien Mannes, klammere ich mich an die Ziegel an, ich folge der Dachrinne, welche allerdings sehr schmal, aber gerade und folglich der kürzeste Weg ist; ich gelange, wenn ich überhaupt ankomme, zu der mit der meinigen parallelen Luke.«

»Diese Luke ist aber die der Treppe.«

»Lange ich nicht an, so falle ich in den Garten, das macht Lärmen, man kommt aus dem Pavillon heraus, man hebt mich auf, man erkennt mich, ich sterbe schön, edel, poetisch, man beklagt mich: das ist herrlich!«

»Komme ich an, wie mich Alles glauben läßt, so schlüpfe ich unter die Luke der Treppe, ich steige mit bloßen Füßen die Stockwerke bis zum ersten hinab, das auch sein Fenster auf den Garten hat und fünfzehn Fuß vom Boden entfernt ist. Ich springe.«

»Ach! mehr Kraft, mehr Geschmeidigkeit! Es ist wahr, es ist ein Geländer da, das mich unterstützen wird.«

»Ja, aber dieses Geländer mit dem wurmstichigen Gitterwerk wird zerbrechen, ich werde hinabrumpeln, nicht mehr getödtet, edel, poetisch, sondern weiß von Gyps, schmählich und mit dem Anschein eines Birnendiebs; das ist ein abscheulicher Gedanke; Herr von Taverney wird mich vom Hausmeister peitschen oder von La Brie an den Ohren ziehen lassen.«

»Nein! ich habe zwanzig Bindfäden, welche vereinigt einen Strick bilden, nach der Definition von Herrn Rousseau: die Halme machen eine Garbe.«

»Ich entlehne von Madame Therese alle Bindfäden für eine Nacht; ich mache Knoten daran, und habe ich einmal das Fenster im ersten Stock erreicht, so hänge ich den Strick an den kleinen Balcon an und schlüpfe in den Garten.«

Nachdem er die Dachrinne besichtigt, die Fäden, um ihre Länge zu berechnen, abgenommen und die Hohe mit dem Auge gemessen hatte, fühlte sich Gilbert stark und entschlossen.

Er flocht seine Bindfäden so, daß er aus allen zusammen einen Strick machte; dann versuchte er seine Kräfte, indem er sich an den Balken des Dachstuhls anhing, und glücklich, als er sah, daß er nur ein einziges Mal bei diesen Versuchen Blut gespieen hatte, entschloß er sich zum nächtlichen Unternehmen.


Um Herrn Jacques und Therese besser zu täuschen, stellte er sich krank und hütete das Bett bis um zwei Uhr, das heißt, bis zu dem Augenblick, wo Rousseau nach dem Mittagessen sich auf seinen Spaziergang begab, von dem er erst am Abend zurückkehrte.

Gilbert sagte, er habe Lust zu einem Schlaf, der bis zum andern Morgen dauern würde.

Rousseau erwiederte, da er an diesem Abend in der Stadt speise, so mache es ihn glücklich, Gilbert in einer so beruhigenden Verfassung zu sehen.

Man trennte sich auf diese gegenseitigen Versicherungen.

Doch kaum war Rousseau weggegangen, als Gilbert abermals seine Bindfäden losmachte, die er nun kräftig zum erwähnten Gebrauche flocht.

Er untersuchte noch einmal die Dachrinne und die Ziegel, und belauerte sodann den Garten bis zum Abend.

LXXII.
Luftreise

Gilbert hielt sich so zum Landen im feindlichen Garten bereit – so bezeichnete er in der Stille das Haus von Taverney; – von seiner Dachluke aus erforschte er das Terrain mit der tiefen Aufmerksamkeit eines gewandten Strategen, der eine Schlacht zu liefern im Begriffe ist, als in diesem so stummen, so unempfindlichen Hause eine Scene vorfiel, welche die Aufmerksamkeit des Philosophen erregte.

Ein Stein flog über die Gartenmauer und schlug im Winkel an die Mauer des Hauses.

Gilbert wußte schon, daß es keine Wirkung ohne Ursache gibt, er suchte also die Ursache, da er die Wirkung gesehen hatte.

Aber obgleich er sich weit hinausneigte, konnte doch Gilbert die Person nicht sehen, die von der Straße aus den Stein geschleudert hatte.

Nur begriff er sogleich, daß dieses Manoeuvre mit dem Ereignis; welches vorgefallen war, in Verbindung stand; nur sah er auch vorsichtig einen von den Läden eines Zimmers im Erdgeschoß öffnen, und durch die Oeffnung dieses Ladens kam der aufgeweckte Kopf von Nicole hervor.

Bei dem Anblick von Nicole fuhr Gilbert in seine Mansarde zurück, doch ohne einen Augenblick das flinke Mädchen aus dem Gesicht zu verlieren.

Nicole, nachdem sie mit dem Blick alle Fenster und besonders die des Hauses untersucht hatte, verließ ihren Halbversteck und lief in den Garten, als wollte sie sich dem Geländer nähern, an welchem einige Spitzen in der Sonne trockneten.

Auf den Weg nach diesem Geländer war der Stein gefallen, den Gilbert ebenso wenig als Nicole aus dem Auge ließ, Gilbert sah sie diesen Stein, der für den Augenblick eine so große Wichtigkeit erhielt, mit dem Fuße fortstoßen und immer vor sich her stoßen, bis er am Rande der Rabatte unter dem Geländer war.

Hier hob Nicole ihre Hände in die Höhe, um die Spitzen loszumachen, und ließ eine davon fallen, welche sie langsam aufhob; während sie dieselbe aber aufhob, bemächtigte sie sich zugleich des Steines.

Gilbert errieth noch nichts; als er aber Nicole diesen Stein schälen sah, wie es ein Gourmand mit einer Nuß macht, als er sah, wie sie eine Papierrinde, die er hatte, davon abnahm, da begriff er den Grad der Wichtigkeit dieses Aeroliths.

Es war in der That nicht mehr nicht minder als ein Billet, das Nicole um den Stein gewickelt fand.

Die Listige hatte es bald entfaltet, verschlungen, in ihre Tasche gesteckt, und brauchte dann nicht mehr nach ihren Spitzen zu schauen, die Spitzen waren trocken.

Gilbert schüttelte indessen den Kopf; mit jenem blinden Egoismus der Männer, welche die Frauen geringschätzen, sagte sich Gilbert, Nicole sei wirklich eine lasterhafte Natur, während er einen Beweis der Sittlichkeit und gesunder Politik dadurch abgelegt, daß er so ungestüm und so muthig mit einem Mädchen gebrochen, welches Billets über die Mauern empfange.

Indem Gilbert, der ein so schönes Raisonnement über die Ursachen und Wirkungen gemacht hatte, so urtheilte, verdammte er eine Wirkung, deren Ursache er vielleicht war.

Nicole ging wieder hinein, kam dann abermals heraus, und hatte diesmal die Hand in ihrer Tasche.

Sie zog einen Schlüssel heraus, Gilbert sah ihn einen Augenblick wie einen Blitz zwischen ihren Fingern glänzen; diesen Schlüssel schob das Mädchen unter der kleinen Gartenthüre durch, welche Thüre die des Gärtners war und am andern Ende der Straßenmauer parallel mit der großen Thüre lag, von der man gewöhnlich Gebrauch machte.

»Gut!« sagte Gilbert, »ich verstehe: ein Bittet und ein Rendez-vous. Nicole verliert ihre Zeit nicht, Nicole hat also einen neuen Liebhaber?«

Gilbert runzelte die Stirne mit dem Aerger eines Mannes, welcher geglaubt hat, sein Verlust müsse eine unersetzliche Leere in dem Herzen der Frau, die er aufgegeben, zurücklassen, indeß er zu seinem großen Erstaunen diese Leere vollkommen ausgefüllt sieht.

»Das könnte mir bei meinen Plänen entgegentreten,« fuhr Gilbert fort, der einen Scheingrund für seine üble Laune suchte. »Gleichviel,« sagte er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, »es ist mir nicht unangenehm, den glücklichen Sterblichen kennen zu lernen, der mir in der Gunst von Mademoiselle Nicole nachfolgt.«

Gilbert besaß bei gewissen Punkten einen vollkommen richtigen Verstand; er berechnete sogleich, daß die Entdeckung, die er gemacht, von der man aber nicht wußte, daß er sie gemacht hatte, ihm bei Nicole einen Vortheil gab, den er bei Gelegenheit benützen könnte, da er das Geheimniß von Nicole mit einzelnen Umständen wußte, die sie nicht ableugnen konnte, während sie das seinige kaum vermuthete und kein bestimmter Umstand ihrem Verdacht Haltbarkeit gegeben hatte.

Gilbert nahm sich also vor, von seinem Vortheil bei Gelegenheit Gebrauch zu machen.

Während alles dieses Hin- und Hergehens trat endlich die so ungeduldig erwartete Nacht ein.

Gilbert befürchtete nur Eines: Rousseau könnte unvorhergesehen zurückkehren, er könnte ihn auf dem Dach oder auf der Treppe ertappen, oder auch das Zimmer leer finden. Der Zorn des Genfers müßte in diesem Fall furchtbar sein; Gilbert glaubte die Streiche desselben mit Hülfe eines Billets abwenden zu müssen, das er auf den Tisch legte.

Dieses Billet war in folgenden Worten abgefaßt:

»Mein theurer und erhabener Beschützer,

Fassen Sie keine schlimme Meinung von mir, wenn Ich mir, trotz Ihrer Ermahnungen und sogar Ihrer Befehle, auszugehen erlaubt habe. Ich werde bald zurückkehren, begegnet mir nicht ein Unfall, dem ähnlich, welcher mir schon begegnet ist; doch auf die Gefahr eines ähnlichen und sogar noch schlimmeren Unfalls muß ich mein Zimmer auf zwei Stunden verlassen.«

»Ich weiß nicht, was ich bei der Rückkehr sagen werde,« dachte Gilbert; »doch Herr Rousseau wird wenigstens nicht unruhig sein und nicht in Zorn gerathen.«

Der Abend war düster. Es herrschte eine erstickende Hitze, wie dies gewöhnlich bei den ersten warmen Frühlingstagen der Fall ist; der Himmel war mit Wolken überzogen, und um halb neun Uhr hätte auch das geübteste Auge nichts mehr in der Tiefe des Schlundes unterscheiden können, den die Blicke von Gilbert befragten.

Jetzt erst bemerkte der junge Mann, daß er mühsam athmete, daß ein plötzlich hervorbrechender Schweiß seine Stirne und seine Brust übergoß – sichere Zeichen der Schwäche und der Erschlaffung. Die Klugheit rieth ihm, in diesem Zustand ein Unternehmen nicht zu wagen, wobei die ganze Stärke, die ganze Festigkeit der Organe nothwendig waren, und zwar nicht allein für den Erfolg des Unternehmens, sondern auch für die Sicherheit des Menschen; doch Gilbert hörte nichts von dem, was ihm der physische Instinct rieth.

Der moralische Wille hatte lauter gesprochen, und er war es wie immer, dem der junge Mann folgte.

Der Augenblick war gekommen: Gilbert rollte sein kleines Seil in zwölf Kreisen um seinen Hals, begann mit zitterndem Herzen seine Dachluke zu erklettern, packte fest das Gesimse dieser Luke und machte seinen ersten Schritt in der Rinne nach der Dachluke rechts, welche, wie gesagt, die der Treppe war, und von der andern durch einen Zwischenraum von zwei Klaftern getrennt sein mochte.

Die Füße in einer bleiernen Rinne von höchstens acht Zoll Breite, welche Rinne, obgleich in Zwischenräumen durch eiserne Klammern gehalten, wegen der Weiche des Bleis unter den Tritten nachgab, die Hände auf die Ziegel gestützt, von denen man nur einen Stützpunkt für das Gleichgewicht, aber durchaus keinen Anhaltspunkt für den Fall eines Sturzes verlangen durfte, denn die Finger hatten keine Handhabe: dies war die Lage von Gilbert während seiner Luftreise, welche zwei Minuten, das heißt, zwei Ewigkeiten dauerte.

Doch Gilbert wollte keine Angst haben, und die Willensstärke des jungen Mannes war so groß, daß er keine Angst hatte. Er erinnerte sich, daß er einen Aequilibristen hatte sagen hören, um glücklich auf schmalen Pfaden zu gehen, müße man nicht zu seinen Füßen, sondern zehn Schritte vor sich sehen und an den Abgrund nie anders als in der Weise des Adlers denken, nämlich man sei gemacht, um darüber zu schweben. Gilbert hatte übrigens diese Lehre schon bei mehreren Besuchen in Anwendung gebracht, die er Nicole abgestattet, derselben Nicole, welche nun so keck war, daß sie sich der Schlüssel und Thüren, statt der Dächer und Kamine bediente.

Er war oft über die Schleußen der Mühlen von Taverney und über die Balken der entblößten Dächer eines alten Schoppen gegangen.

Er kam so ohne ein einziges Zittern an sein Ziel, und sobald er dieses Ziel erreicht hatte, schlüpfte er ganz stolz auf seine Treppe. Als er aber auf dem Ruheplatz war, blieb er plötzlich stehen. Stimmen erschollen in den untern Stockwerken: dies waren die von Therese und gewissen Nachbarinnen, welche sich über das Genie von Herrn Rousseau, über das Verdienst seiner Bücher und die Harmonie seiner Musik unterhielten.

Diese Nachbarinnen hatten die neue Heloise gelesen und fanden dieses Buch schlüpfrig, was sie offenherzig zugestanden. In Erwiederung dieser Kritik bemerkte Ihnen Madame Therese, sie verstünden den philosophischen Theil dieses schönen Buches nicht.

Hierauf hatten die Nachbarinnen nichts zu antworten, wenn nicht etwa, daß sie sich für incompetent in solchen Materien erklärten.

Dieses erhabene Gespräch hatte von einem Ruheplatz zum andern statt, und das Feuer der Discussion war nicht minder heiß, als das der Herde, auf denen das duftende Abendbrod dieser Damen kochte.

Gilbert hörte also die Beweissätze klingen und die Fleischspeisen schmoren.

Mitten unter diesem Tumult ausgesprochen, erregte ihm sein Name einen unangenehmen Schauer.

»Nach meinem Abendbrod,« sagte Therese, »werde ich nachsehen, ob es dem lieben Kind in seiner Mansarde an nichts fehlt.«

»Dieses liebe Kind« bereitete ihm weniger Vergnügen, als ihm das Versprechen des Besuches Angst machte. Zum Glück bedachte er, daß Therese, wenn sie allein zu Nacht speiste, lange mit ihrer göttlichen Flasche plauderte , daß der Braten schmackhaft zu sein schien, daß die Sitzung nach dem Abendbrod auf zehn Uhr deutete. Es war noch nicht drei Viertel auf acht Uhr. Ueberdies würde sich nach dem Abendessen aller Wahrscheinlichkeit nach der Gang der Ideen von Therese verändert haben, und sie würde an etwas ganz Anderes denken, als an das liebe Kind.

Indessen verstrich die Zeit, zur großen Verzweiflung von Gilbert, als plötzlich einer von den Braten der Gevatterinnen anbrannte  . . . es erscholl ein Schrei der bestürzten Köchin, und dieser Schreckensschrei unterbrach das ganze Gespräch.

Jedes stürzte nach dem Schauplatze des Ereignisses.

Gilbert benutzte die culinarische Besorgniß dieser Damen, um wie ein Sylphe auf die Treppe zu schlüpfen.

Im ersten Stock fand er das Blei geeignet, um seinen Strick anzunehmen; er befestigte ihn daran mit einer Schlinge, stieg auf das Fenster und fing an sich sachte hinabzulassen.

Gilbert hing zwischen dieser bleiernen Rinne und der Erde, als ein rascher Tritt unter ihm im Garten erscholl.

Er hatte Zeit, sich umzudrehen, indem er sich an den Knoten anklammerte, um zu schauen, wer der Ueberlästige wäre.

Es war ein Mann.

Da er von der Seite der kleinen Thüre kam, so zweifelte Gilbert nicht einen Augenblick, es wäre der von Nicole erwartete glückliche Sterbliche.

Er concentrirte seine ganze Aufmerksamkeit bei diesem andern Eindringling, der ihn mitten in seiner gefahrvollen Absteigung aufhielt. An seinem Gang, an einem Stückchen Profil, das sich unter dem Dreispitz skizzirte, an der besondern Weise, wie dieser Dreispitz auf der Ecke eines Ohres saß, das sehr aufmerksam zu sein schien, glaubte Gilbert den trefflichen Beausire, den Gefreiten zu erkennen, dessen Bekanntschaft Nicole in Taverney gemacht hatte.

Beinahe in demselben Augenblick sah er Nicole die Thüre ihres Pavillon öffnen, welche sie auch offen ließ, in den Garten stürzen und rasch wie eine Bachstelze, wenn sie läuft, leicht wie sie, sich nach dem Gewächshause, das heißt nach der Seite wenden, wohin Herr Beausire schon ging.

Dies war offenbar nicht das erste Rendez-vous dieser Art, da weder das Eine noch das Andere das geringste Zögern hinsichtlich des Ortes, der sie vereinigen sollte, kundgab.

»Ich kann nun vollends hinabsteigen,« dachte Gilbert; »denn wenn Nicole ihren Liebhaber zu dieser Stunde empfangen hat, so ist sie ihrer Zeit sicher. Andrée ist also allein, mein Gott! allein  . . .«

Man hörte in der That kein Geräusch und sah nur ein schwaches Licht im Erdgeschoß.

Als Gilbert auf den Boden gekommen war, wollte er den Garten nicht schräge durchschneiden; er zog sich an der Mauer hin, erreichte ein Gebüsch, schlich sich gebückt durch dasselbe und kam, ohne daß man eine Vermuthung von Ihm haben konnte, bis zu der Thüre, welche Nicole offen gelassen hatte.

Geschützt durch eine ungeheure Osterluzei, welche sich bis über die Thüre hinaufrankte und diese üppig umwand, bemerkte er, daß das erste Gelaß, ein ziemlich geräumiges Vorzimmer, wie er dies errathen hatte, völlig leer war.

Dieses Vorzimmer führte in des Innere durch zwei Thüren, von denen die eine geschlossen, die andere offen war; Gilbert vermuthete, die offene Thüre wäre die des Zimmers von Nicole.

Er schlich sachte in dieses Zimmer, wobei er aus Furcht, anzustoßen, denn es war jedes Lichtes beraubt, die Hände vor sich ausstreckte.

Am Ende eines Corridors sah man indessen eine Glasthüre auf dem Lichte des anstoßenden Zimmers die Querleisten abzeichnen, welche die Glasscheiben umschloßen; jenseits dieser Scheiben hing ein Mousselinevorhang.

Während Gilbert in diesem Corridor vorrückte, hörte er eine schwache Stimme in dem erleuchteten Zimmer.

Es war die Stimme von Andrée; alles Blut von Gilbert stoß nach seinem Herzen zurück.

Eine andere Stimme antwortete dieser; es war die von Philipp.

Der junge Mann erkundigte sich voll Besorgniß nach der Gesundheit seiner Schwester.

Gilbert machte behutsam einige Schritte und stellte sich hinter eine von den, von irgend einer Büste überragten, Halbsäulen, welche in jener Zeit die Verzierung der ihrer Tiefe nach doppelten Thüren bildeten.

So in Sicherheit, horchte und schaute er, so glücklich, daß sein Herz vor Freude zerschmolz, so erschrocken, daß ebendasselbe Herz sich in einem Grade zusammenzog, daß es nicht mehr als ein Punkt in seiner Brust war.

Er hörte und sah.