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Die Taube
Erster Brief
5. Mai 1637.
Schöne Taube mit silbernem Gefieder, mit schwarzem Halsbande und rosigen Füßen, da Dir Dein Gefängnis so grausam scheint, daß Du Dich an den eisernen Stangen Deines Kerkers zu tödten drohest, so gebe ich Dir die Freiheit wieder. Da Du mich aber ohne Zweifel nur verläßt, um wieder zu einer Person zu gehen, welche Du mehr liebst als mich, so ist es an mir, Dich wegen Deiner achttägigen Abwesenheit zu rechtfertigen. Ich bezeuge daher, daß ich Dir den Dienst, den ich Dir erwiesen hatte, mit einer ewigen Gefangenschaft habe bezahlen lassen wollen, so sehr ist das menschliche Herz selbstsüchtig, daß es Nichts zu thun weiß, ohne für das, was es gethan hat, die Bezahlung oft nach seinem doppelten Werthe zu verlangen. So geh denn, lieblicher Bote, kehre zurück, um mit Dir selbst mein Bedauern dem oder der zu überbringen, welcher Dich trotz der Entfernung ruft, und die Du trotz des Raumes mit den Augen suchst. Dieses Billet, das ich an Deinen Flügel befestige, ist der Schutzbrief Deiner Treue. So leb denn nochmals wohl; das Fenster öffnet sich, der Himmel erwartet Dich. . . Leb wohl!
Zweiter Brief
6. Mai 1637.
Haben Sie Dank, wer Sie auch sein mögen, daß Sie mir meine einzige Gefährtin zurückgegeben haben; aber, wie Sie sehen hat Ihre fromme Handlung ihre Belohnung; wie als ob der reizende Bote, der mir Ihr Billet überbracht hat, verstanden hätte, daß ich Ihnen Dank abzustatten hätte, und daß, da ich nicht weiß, wo Sie wohnen, meine einzige Furcht war, von Ihnen der Kälte beschuldigt zu werden. Diese selbe Unruhe, welche sie bei Ihnen befallen hatte, hat sie bei mir befallen. Gestern war ihre Rückkehr ganz der Freude gewidmet, mich wiederzufinden, aber heute Morgen, sehen Sie wie veränderlich sie ist, heute Morgen war ich ihr nicht mehr genug, sie stieß mit ihrem Schnabel und mit ihren Flügeln, nicht an die eisernen Stangen ihres Käfigs, denn sie hat niemals einen Käfig gehabt, sondern an die Scheiben meines Fensters, sie will nicht mehr mir allein angehören, sie will uns beiden angehören. Es sei, gegen die Meinung vieler denke ich, daß man das, was man besitzt, dadurch verdoppelt, daß man es theilt. Wir werden also künftig, hin beide eine Iris haben, und bemerken Sie, daß ich sie ohne Zweifel in der Voraussicht Iris genannt hatte, daß sie eines Tages unsere Botin sein würde, Ihre Iris, welche Ihnen meine Briefe überbringen wird, meine Iris, welche mir die Ihrigen überbringt, denn wie ich hoffe, werden Sie wohl so gefällig sein, mir zu sagen, welches der Dienst ist, den Sie ihr erwiesen haben, und wie sie in Ihre Hände gefallen war. Es verwundert sie vielleicht, daß ich mich sogleich Anfangs und auf das erste Mal Ihnen, dem Unbekannten oder der Unbekannten hingebe. Aber Sie sind gut, da Sie mir meine Taube zurückgesandt haben, dann haben Sie mir dieselbe mit einem Billet zurückgesandt, welches den oder die, wer es geschrieben hat, als eine ausgezeichnete und geistvolle Person andeutet; nun aber sind alle erhabenen Seelen Schwestern, alle erhabenen Geister sind Brüder, behandeln Sie mich daher als Bruder oder als Schwester, wie Sie wollen, denn ich habe das Bedürfniß, Jemand diesen Namen Bruder oder Schwester zu geben, den ich Niemanden gegeben habe.
Iris, meine schöne Freundin, Du wirst dahin zurückkehren, von woher Du kommst, und Du wirst dem oder der, welcher Dich mir zurückgesandt hat, sagen, daß ich Dich ihm oder ihr zurücksende, und füge hinzu, daß ich es vorziehen würde, daß es an sie als an ihn wäre.
Geh, Iris, und bedenke, daß ich Dich erwarte.
Dritter Brief
Am selben Tage, nachdemdas Angelus geläutet.
Meine Schwester,
Sie werden weder Iris, noch mich beschuldigen, nicht wahr? Ich war nicht in meinem Zimmer, als Ihre Botin angekommen ist; nur stand das Fenster offen, um die ersten Hauche der Abendluft aufzunehmen. Iris ist hineingeflossen, und, wie als ob das reizende kleine Geschöpf verstanden hätte, daß es einen Brief zu übergeben und eine Antwort zurückzubringen hätte, hat es geduldig meine Rückkehr abgewartet, und als ich zurückgekehrt bin, ist es von dem Brette, auf das es sich gesetzt hatte, auf meine Schulter geflogen.
Ach! in dem Sturze, den ich durch die verschiedenen Stufen der menschlichen Größe gemacht habe, habe ich auf beiden Seiten des Weges gar viele traurige oder freudige Gemüthsbewegungen gefunden. Nun denn! keine ist trauriger als die gewesen, von der ich mich ergriffen fühlte, als ich, indem ich Ihnen Ihre Taube zurücksandte, von der ich nicht einmal den Namen kannte, einen vorherbestimmten Namen, wie Sie mir selbst gesagt haben, ich geglaubt habe, mich für immer von ihr zu trennen. Keine ist freudiger gewesen als die, welche ich empfunden habe, als ich, indem ich mich von ihr für immer getrennt zu haben glaubte, sie in meinem Zimmer erblickt und die Frische ihres Flügels meine Wange habe lieblosen fühlen, indem sie sich auf meine Schulter setzte. O mein Gott! Du schaffst also für den Menschen, diesen ewigen Sclaven Alles dessen, was ihn umgibt, relative Freuden und Schmerzen! und der, welcher nicht geweint hat, als er fast ein Königreich verlor, der, welcher bei dem Winde des Beiles nicht geschaudert hat, welches die Köpfe um ihn herum abschlug, der wird eines Tages weinen, indem er einen Vogel in den Raum entfliehen sieht, der wird schaudern, indem er die Bewegung fühlt, welche die bewegte Feder einer Taube in der Luft verursacht. Das ist eines Deiner Geheimnisse, o mein Gott! und Du weißt, ob Deine göttlichen Geheimnisse einen demüthigeren und inbrünstigeren Verehrer haben, als den, der in diesem Augenblicke am Fuße des Kreuzes Deines göttlichen Sohnes kniet, um Dich zu preisen und um Dich zu segnen!
Das ist also Alles, was ich mir gesagt habe, als ich die arme Taube wiedersah, die ich für verloren hielt, bevor ich nur noch das Billet gelesen hatte, dessen Ueberbringer sie war. Dann, als ich dieses Billet gelesen hatte, bin ich in eine tiefe Träumerei versunken.
– Wozu nützt es? fragte ich arme Schiffbrüchiger mich, als ich mich bereits mit dem Sturme ausgesöhnt und mit dem Tode vertraut gemacht hatte; wozu nützt es, mich, der ich in der Unermeßlichkeit des Oceans verloren bin, an diesen schwimmenden Balken zu klammern, vielleicht die letzten Trümmer eines wie das meinige zerschmetterten Schiffes, den viel eher der Zufall als die Vorsehung in den Bereich meiner Hand getrieben hat? Würde ich mich nicht, wenn ich mich von der Hoffnung ergreifen ließe, auch zugleich von der Versuchung ergreifen lassen? Hatte ich denn, ohne es zu wissen, irgend einen Schooß meines Rockes in diese Thür geklemmt, welche sich auf die Welt öffnet, und hatte mich ich nicht, wie ich es glaubte, den Eitelkeiten und den Täuschungen der Erde gänzlich entrissen?
Wie Sie sehen, meine Schwester, war das ein reichlicher Stoff um zu träumen und um zu überlegen: Gott über meinem Haupte, den Abgrund unter meinen Füßen, überall um mich herum die Welt, welche ich nicht mehr sah, weil ich die Augen verschloß, die ich nicht mehr hörte, weil ich die Ohren verschloß, die ich aber wie in der Vergangenheit brausen hören werde, die ich aber von Neuem wirbeln sehen werde. So unvorsichtig ich auch sein möge, ich öffne die Ohren und die Augen wieder.
Aber vielleicht sehe ich mit meiner Einbildungskraft über die Wirklichkeit hinaus; vielleicht habe ich einen Vorfall ohne Gewalt und ohne Belang zu der Höhe eines Ereignisses erhoben.
Sie verlangen eine einfache Erzählung, meine Schwester, ich will sie Ihnen machen. Vor acht Tagen saß ich in dem Garten, ich las, – wollen Sie wissen, welches Buch ich las, meine Schwester? – Ich las jenen Schatz von Liebe, von Religion und von Poesie, den man die Bekenntnisse des heiligen Augustin nennt. Ich las, und alle meine Gedanken waren in die des seligen Bischofs versunken, der eine Heilige zur Mutter hatte, und der gleichfalls ein Heiliger wurde.
Plötzlich hörte ich über meinem Haupte etwas wie einen Flügelschlag; ich erhob die Augen, und eine Taube, die so nahe von einem Sperber verfolgt war, daß sie bereits einige ihrer Federn in den Krallen und in dem Schnabel des Raubvogels gelassen hatte, stürzte zu meinen Füßen, indem sie mich um Hilfe bat. Gott, für dessen Majestät ein fallender Sperling gleich einem einstürzenden Reiche ist, Gott hatte diesem armen Vogel gesagt, daß in mir der Schutz läge, wie in dem Sperber die Drohung lag.
Wie dem auch sein mochte, ich nahm sie ganz zitternd und sogar ein wenig blutig; ich steckte sie in meinen Busen, wo sie sich mit geschlossenen Augen und klopfendem dem Herzen legte, dann trug ich sie bei dem Anblicke des Sperbers, der sich auf dm Gipfel einer Pappel gesetzt hatte, in meine Zelle.
Fünf bis sechs Tage lang verließ der Sperber seinen Beobachtungsplatz nur für einige Augenblicke, und ich sah ihn Tag und Nacht regungslos auf dem dürren Zweige, wo er seine Beute belauerte.
Die Taube ihrerseits fühlte ohne Zweifel seine Gegenwart, denn, traurig aber wie ergeben, ging sie während dieser fünf bis sechs Tage nicht einmal an das Fenster.
Endlich verschwand vorgestern der Sperber, und der Instinct der Gefangenen sagte ihr, daß ihr Feind es müde geworden wäre, denn fast sogleich flog sie so gewaltig gegen die durchsichtige Scheibe, daß sie dieselbe beinahe zerbrochen hätte.
Von nun an war ich für sie kein Beschützer mehr, sondern ein Kerkermeister; mein Zimmer hörte auf eine Zufluchtsstätte zu sein, und wurde ein Gefängniß. Einen ganzen Tag lang versuchte ich sie mit mir zu versöhnen, einen ganzen Tag lang hielt ich sie zurück, und sie sträubte sich. Endlich hatte ich gestern Mitleid mit ihr, ich schrieb den Brief, den Sie erhalten haben, und mit Thränen in den Augen machte ich das Fenster auf, durch welches ich sie für immer verschwinden zu sehen glaubte.
Seit dem habe ich sehr oft an diesen Sperber gedacht, der sich regungslos und lauernd auf dem höchsten Zweige dieser Pappel aufhielt, und ich sah in ihm das Symbol jenes Feindes des Menschengeschlechtes, den man brüllen hört, aber den man nicht sieht, und der beständig um uns herum schwärmt, quaerens quem devoret, indem er Jemand sucht, um ihn zu verzehren.
Und jetzt, wenn ich ein Vergnügen empfände, das mich erschreckt, diese Taube wieder zu sehen und Ihre Briefe zu empfangen, so würde ich Ihnen sagen:
Erzählen Sie mir jetzt, meine Schwester, wo ich Ihnen gesagt habe wie Iris zu mir gekommen ist, wie Iris Sie verlassen hat.
Morgen wird der Strahl des Tages mein Fenster offen finden, und nach diesem ersten Strahle wird Ihre Botin abreisen, indem sie Ihnen diese Antwort üben bringt.
Mögen bis dahin alle die geflügelten Kinder, welche man die Träume nennt, sich ehrerbietig auf Ihr Lager neigen, und Ihre Stirn mit dem Schlage ihrer Flügel erfrischen.
Vierter Brief
11. Mai, nach dem Morgengebet.
Ich habe drei Tage verstreichen lassen, um Ihnen zu antworten, wie Sie aus dem Datum meines Briefes sehen, das kommt daher, weil der Ihrige keinen Zweifel übrig ließ. Ich hoffte Sie meine Schwester zu nennen, und ich muß darauf verzichten Ihnen zu schreiben oder Sie meinen Bruder nennen.
Sie fürchten, wie Sie sagen, einen Schooß Ihres Gewandes in die Thür geklemmt zu haben, welche sich nach der Welt öffnet. Sie sind also aus der Welt in die Einsamkeit übergegangen?
Sie sind durch die verschiedenen Stufen der menschlichen Größe gefallen, sagen Sie ferner. Sie waren also auf den ersten Rang der Gesellschaft gestellt, daß Ihr Sturz so viele Zwischenräume durchzogen hat.
Sie haben fast ein Königreich verloren, und Sie haben bei dem Winde des Beiles nicht geschaudert, welches die Köpfe um Sie herum abschlug, sagen Sie gleichfalls. Sie haben also das Leben der Großen gelebt, Sie haben also Theil an den Kämpfen der Fürsten genommen?
Wie wollen Sie, daß ich alles das mit Ihrem Alter vereinige, denn Sie sind jung, mit Ihrer Demuth, denn Sie sprechen auf den Knien?
Und welches Interesse hätten Sie indessen, mich zu täuschen? Sie kennen mich nicht; Sie wissen nicht ob ich von Adel oder dienstpflichtig, jung oder alt, häßlich oder hübsch bin?
Uebrigens kümmert, es Sie eben so wenig, zu wissen wer ich bin, als mich zu wissen, wer Sie sind. Wir sind zwei einander fremde, von einander getrennte, einander unbekannte Wesen, die keins Macht materieller Weise zu vereinigen vermöchte.
Aber außer der materiellen Vereinigung gibt es die Mittheilung des Gedankens; außer dem Gefühlt und dem Gesichte des Körpers gibt es die Verbrüderung der Seelen, das geheimnißvolle Liebesmahl, bei welchem man aus demselben Becher das Wort des Herrn und die Flammenstrahlen des heiligen Geistes trinkt.
Das ist Alles, was ich Ihnen wünsche, Alles was Sie von mir wollen können.
Wenn, dieses festgesetzt, es. irgend eine Sympathie zwischen unseren Geistern, irgend eine Verwandtschaft zwischen unseren Seelen gibt, welches Unrecht kann in den Augen. des Herrn darin liegen, daß unsere Geister und unsere Seelen durch den Raum miteinander umgehen, wie es die Strahlen zweier befreundeter Sterne machen würden, die sich in den luftigen Einöden des Firmamentes kreuzen?
Hören Sie jetzt, wie die arme Iris mein Zimmer verlassen hatte.
Am Abende vor dem Tage, an. welchem Sie ihr das Leben gerettet haben, betete ich knieend; meine Lampe stand neben den Vorhängen meines Bettes. Gegen Mitternacht schlief ich betend ein. Vielleicht zehn Minuten nachher ging weine schlecht verschlossene Thür von dem Winde getrieben auf; meine aufgehobenen Vorhänge wallten, erreichten die Lampe und fingen Feuer. In einem Augenblicke war mein Zimmer, welches klein ist, voller Flamme und Hitze. Ich erwachte halb erstickt. Meine arme Taube flatterte an des Decke, indem sie sich in Mitte des Rauches abkämpfte. Ich eilte nach dem Fenster und machte es auf. Kaum war das Fenster offen, als sie hinausflog, und ich sie sich in der Dunkelheit an die Zweige wohlbekannter Bäume stoßen hörte, auf deren Zweigen sie einen Theil des Tages spielt. In der Hoffnung, daß sie mit Tagesanbruch zurückkehren würde, ließ ich mein Fenster offen; aber der Tag kam und verfloß, ohne daß ich sie wieder sah. Durch die Feuersbrunst erschreckt, war sie ohne Zweifel so lange geflohen, als sie fliegen konnte. Am folgenden Tage wird sie bei ihrer Rückkehr durch den Sperber verfolgt worden sein, gegen den sie Sie um Hilfe gebeten hat. Sie haben Sie aufgenommen, behalten, und ich hielt, sie für verloren, als ich plötzlich mit einem Flügel gegen meine Fensterscheibe habe schlagen hören. Ich habe mein Fenster geöffnet; es war die Flüchtige, welche ihre Entschuldigung mitbrachte, der aber, hätte sie dieselbe nicht mitgebracht, im Voraus. verziehen war.
Das ist die Geschichte der armen Iris? Ist das Alles, was Sie wissen wollen? und haben Sie mich um nichts Anderes mehr zu fragen? In diesem Falle wird unsere Botin ohne Brief und ohne Billet zurückkehren.
Ich werde wissen, was das bedeuten soll, und ich werde Ihnen von hier aus schreiben.
Gott befohlen, mein Bruder, der Herr sei mit Ihnen!
Fünfter Brief
Den 11. Mai, mit Tagesanbruch.
Iris ist ohne Brief oder Billet zurückgekehrt. Die arme Kleine hatte eine ganz betrübte Miene, so ihres Ranges als Botin entsetzt wieder zu erscheinen, sie hob von selbst ihren Flügel auf, wie um mich zu fragen, was das bedeuten solle.
Das will sagen, liebe Iris, daß Du mir allein angehörst, daß der Tag, der an unserem dunkeln Himmel entstanden war, erloschen ist, daß der Bruder ein Fremder, daß der Freund ein Gleichgültiger war.
Und dieses, liebe Kleine, schreibe ich für mich allein. Diese Klage meiner Seele, welche in ihrer Einsamkeit jammert, wird nicht bis zu ihm gelangen, ich sage es Dir, daß ich leide, ich sage es Dir, daß ich weine, ich sage es Dir, daß ich unglücklich bin.
Ach!ach! mein Gott, verirrt sich Deine Gerechtigkeit nicht zu weilen, und treffen nicht die Streiche, welche Du den Schuldigen vorbehältst, von irgend einem unsichtbaren und bösen Engel abgewandt, die Unschuldigen? Man sagt uns, daß die Leiden dieses Lebens die Glückseligkeit des andern vorbereiten, aber warum Leiden für die, welche nichts gethan hat, die vielleicht einen Fehltritt, die aber gewiß kein Verbrechen zu büßen hat? Warum die Verzeihung Jesus für die Magdalena? warum die Nachsicht Christus für die Ehebrecherin? warum diese Strenge gegen mich, gegen mich allein, mein Gott!
Ich habe geliebt, es ist wahr; aber indem ich liebte, habe ich einer anderen Liebe geantwortet; ich war für das Leben der Welt, und nicht für das Leben des Klosters geboren. Indem ich liebte, habe ich das von Dir den Thieren, den Menschen, den Pflanzen auferlegte Gesetz befolgt. Alles liebt auf dieser Welt, Alles sucht sich zu vereinigen, und sich in ein und dasselbe Leben zu verschmelzen; die Bäche mit den Flüssen, die Flüsse mit!den Strömen, die Strome mit dem Ocean. Diese Sterne, welche des Nachts den Himmel durchziehen, indem sie von einem Horizonte aufbrechen, das Firmament mit einer, goldenen Linie durchfurchen, und an dem entgegengesetztem Horizonte erlöschen, gehen, um in dem Schooße eines anderen Sternes zu erlöschen; selbst unsere Seelen, diese Ausströmungen Des göttlichen Hauches, suchen auf der Erde nur eine andere Seele, um sich eine Gefährtin der Liebe aus ihr zu machen, und wenn sie unseren Körper verlassen, um sich mit demselben Fluge in Dir zu verschmelzen, der Du die allgemeine Seele und die Liebe ohne Ende bist.
Nun denn! mein Gott, ich hatte mich einen Augenblick lang bei der Hoffnung gefreut, an dem äußersten Ende meines Horizontes eine unbekannte, aber schwesterliche Seele wiedergefunden zu haben, eine Schwester für das Leiden, denn bei dem ersten Klagen hatte ich gesehen, daß es der Mund des Herzens war, der sich beklagt. Warum, arme leidende Seele, willst Du nicht Deinen Antheil an meinem Kummer nehmen, wie ich meinen Antheil an Deinem Schmerze nehmen werde? Es ist das Gesetz, daß die getheilten Lasten weniger schwer sind, und daß die Last welche zwei einzelne Kräfte erdrückt, zuweilen zwei vereinigten leicht erscheint.
Da läutete es zum Gebete; Du rufst mich, mein Gott! und ich gehe zu Dir! ich gehe zu Dir in dem Vertrauen auf meine Reinheit, mit offenem Herzen, damit Du in ihm lesen kannst, und wenn ich Dich durch irgend eine That oder irgend eine Unterlassung erzürnt hätte, o mein Gott! so laß es mich durch ein Zeichen, durch eine Eingebung, durch irgend eine Offenbarung wissen, und ich werde mit der Stirn im Staube, mit ausgestreckten Händen vor Deinem Altare auf den Knieen bleiben, bis daß Du mir verziehen hast.
Du, liebe Taube, sei die treue Bewahrerin dieser Gedanken meines schwachen Herzens, dieser Regung meiner armen Seele! bedecke mit Deinem Flügeln dieses Papier, das ich zusammenfalte um es den Blicken Aller zu entziehen, und das mich erwarten wird wie die halb gefüllte Schale den Rest des bitteren Trankes erwartet, der ihm verheißen ist.
Sechster Brief
11. Mai, Mittags.
In der Tat, Sie haben richtig errathen, arme geängstigte Seele; ich hatte beschlossen, Ihnen nicht mehr zu schreiben, denn wozu nützt es, wenn man im Grabe liegt, darauf zu beharren, die Hände herauszuschrecken, wenn es nicht geschieht, um sie zu Gott zu erheben? Aber eine Art von Wunder hat meinen Entschluß geändert. Diesen Brief, den Sie für sich allein geschrieben hatten, diesen Brief, den Sie für sich allein geschrieben hatten, diesen Brief, in welchem Sie Ihre Stelle zu den Füßen des Herrn ausschütten, diesen Brief, den Vertrauen Ihrer Gedanken, den halb mit Bitterkeit gefüllten Becher, der bei Ihrer Rückkehr unter Ihrem Thränen übertreten sollte,diesen Brief hat die dies Mal ungetreue Taube mir gebracht, nicht mehr von Ihnen unter ihre Flügel gebunden, sondern von selbst, in ihrem Schnabel, wie die Taube der Arche den grünen Zweig trug,welcher andeutet, daß die Gewässer auf der Oberfläche des Erdballes abzulaufen begönnen, wie endlich die Thränen auf dem Gesichte eines Sünders versiegen,dem verziehen ist.
Wohlan! Es sei, ich nehme es an, einen Theil Ihres Schmerzes zu tragen; denn auch ich gehöre mir selbst nicht mehr an, und aus den Kräften, die Gott mir gelassen hat, muß ich einen Hebel machen, um das Unglück Anderer aufzuheben. Von diesem Augenblicke an ist meine Seele leer von meinem eigenen Mißgeschicke; schütten Sie das Ihrige darin aus, Bach, der Sie einen Fluß suchen, um sich mit ihm zu vereinigen, Meteor, das einen Stern sucht, in dem es erlösche.
Sie fragen weshalb Sie leiden, da Sie nichts gethan haben. Nehmen Sie sich in Acht! Sie fragen Gott, und von der Frage zu der Lästerung ist die Entfernung nicht weit, der Fall rasch.
Unser Stolz ist unser größter Feind hienieden. Man sagt, daß es in diesem Augenblicke einen Philosophen gibt, der die ganzes Natur in Wirbel eingetheilt hat. Nach der Rechnung dieses Philosophen wäre jeder Fixstern eine Sonne, – der Mittelpunkt einer Welt wie die unsrige, – und alle diese Welten, den Gesetzen des Gleichgewichtes unterworfen, kreiseten und drehten sich in dem Raume, jetzt um ihren Mittelpunkt herum, ohne sich zu stoßen, noch sich zu verwirren.
Nicht wahr, das ist ein System, das Gott sehr vergrößern, aber den Menschen auch sehr verkleinern würde?
Demnach also kann sich unsere arme Welt wieder in Millionen von Welten eintheilen. Unser Stolz läßt Jeden von uns glauben, daß wir eine Sonne, der Mittelpunkt eines Wirbels sind, während wir höchstens einer der Atome, einer der Sandkörner sind, welche der Hauch des Herrn zu Millionen sich um jene mehr oder minder glänzenden Sterne kreisen und drehen läßt, die man die Könige, die Kaiser, die Fürsten, die Helden, kurz die Mächtigen dieser Welt nennt, denen Gott als Zeichen ihrer Macht den Zepter oder Krummstab, die Tiare oder das Schwert gegeben hat.
Nun denn! wer sagt Ihnen, daß die unmateriellen Dinge nicht wie die materiellen Dinge abgewogen werden? Wer sagt Ihnen, daß das Unglück der einen Welt nicht zu dem Glück der anderen beiträgt? Wer sagt Ihnen, daß es nicht eines der Gesetze der moralischen Natur ist, daß die eine Hälfte des Herzens in Thränen sei, damit die andere Seite in der Freude sei, wie die eine Seite der Erde in der Dunkelheit sein muß,damit die andere in dem Lichte ist?
Sagen Sie mir doch Ihr Unglück, arme betrübte Seele, denn welches Ihr Unglück auch sein mag, ich bin überzeugt, daß es nicht die Höhe des meinigen erreicht; – sagen Sie es und ich hoffe, – daß ich einen Trost für jede Ihrer Klagen, – einen Balsam für jede Ihrer Wunden haben werde.
Aber, ich bitte Sie inständigst, trinken Sie Ihrerseits aus dem Bache meiner Worte, ohne die Quelle zu suchen, von welcher sie ausgeht, – machen Sie es wie die schwarzen Äthiopier und die bleichen Söhne Ägyptens, welche Ihren Duft an den Ufern des Nils stillen, und Sie die glauben würden, eine Gottlosigkeit zu begehen, wenn sie an dem Flusse bis zu seiner Quelle hinaufgingen.
Nach einigen Worten,die mir entschlüpft sind, haben Sie gemeint in meinem vergangenen Leben zu lesen; Sie haben aus mir einen Großen dieser Welt gemacht; – Sie haben geglaubt, daß ein Lichtstrahl meinen Sturz begleitet hätte, und daß ich wie ein vom Blitz getroffener Engel aus dem Himmel auf die Erde gefallen wäre. Enttäuschen Sie sich zuvörderst; ich bin ein geringer Mönch, der einen geringen Namen führt; – von meiner finsteren oder glänzenden, niedrigen oder stolzen Vergangenheit habe ich alles Andenken verloren, und, minder hellsehenden dem Leben, als der Philosoph des Altertums, welcher sich erinnerte bei der Belagerung von Troja gekämpft zu haben,es in der dem Tode war, erinnere ich mich heute nicht mehr des Gestern, und morgen werde ich mich nicht mehr des heute erinnern.
So will ich Schritt vor Schritt der Ewigkeit zuschreiten, indem ich jede Spur verlösche, die ich hinter mir zurücklasse, um an dem Tage meines Todes so vor dem Herrn zu erscheinen, als ich aus dem Schoße meiner Mutter hervorgegangen bin; – Solus Pauper et nudus: – allein, arm und nackend.
Gott befohlen, meine Schwester verlangen Sie nicht mehr von mir,als ich Ihnen geben kann, damit ich Ihnen immer geben kann.