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Ahmad Ataya

Die Bestie Alpha

Ein Thriller

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Offene Kriegserklärung

II. Luzifers Plan

III. Im Hades

IV. System „Maultier“ und „Maulwurf“

V. Die Entführung

VI. Ende eines Bühnenstücks

VII. Die Perlenkette

VIII. Am Roulettetisch

IX. Erlesene Gesellschaft

X. Höllenfahrt

Impressum neobooks

I. Offene Kriegserklärung

Die Bestie Alpha

Ein Thriller

1.

Lust am Morden, wie eine Bestie zu wüten, das wollte sie nicht. Aber es war unumkehrbar. Sie war bei Gott keine Mörderin, aber sie musste handeln; nicht als verbissene Fanatikerin, schon gar nicht als Handlanger einer höheren Macht. Ein Leben auszulöschen, auf Geheiß, das war eigentlich ihr Ding nicht. Aber heute hatte sie dafür zu sorgen. Sie hatte auf sich genommen, sich zu wehren, gegen die drohende Vernichtung der Menschen, die ihr am meisten bedeuteten. Sie musste sie beschützen, koste, was es wolle. Und wenn sie es heute nicht zu Ende bringen würde, könnte es ein anderer tun, heute oder morgen. Für sein Tun musste jeder einen Preis zahlen. Für ihn war heute Zahltag.

Sie kannte die dumpfen Pulsschläge in solchen Situationen zu Genüge. Jetzt hämmerten sie unerträglich gegen ihre Schläfen und taten ihr weh, in den Stirnhöhlen, in den Ohren, in den Augen. Schmerz in allen Knochenknorbeln, in allen Muskelknoten. Das Licht blendete sie dazu. Von der schweren Kuppel der koptischen Markuskathedrale von Kairo konnte sie nur Konturen erkennen, als schwebte da oben im Raum ein filigraner Bogen aus Staub und Sonnenflecken. Sie stand auf der Balustrade der Kirche und konnte kaum etwas sehen.

Wie alle Gläubigen hatte sie die meiste Zeit zu stehen. Dicht schlossen sich die Reihen aneinander. Ihr war nicht möglich sich etwas zu rühren, um wenigstens ein kleines Stück aus der gleißenden Sonne zu rücken. Vom koptischen Gottesdienst verstand sie kaum etwas. Endlich durften sich die Messebesucher setzen. Beharrlich wehrte sie jeden Versuch ab, mit ihr ein Gespräch anzufangen. So charmant sich die elegante alte Ägypterin links neben ihr auch darum bemühte. Zunächst sprach die koptische Christin sie auf Englisch an, dann auf Französisch, sogar auf Arabisch, und nach einer kurzen Pause, auch auf Italienisch. Es half nicht weiter. Mit demonstrativen Gesten machte sie der Ägypterin deutlich, dass sie kein Interesse daran hatte, mit ihr auch nur ein Wort zu wechseln. Hat man ihr eine verdeckte Aufpasserin nachgeschickt? Vielleicht. Und wenn schon. Sie wollte, sie werde das schon schaffen. Die Gläubigen bekreuzigten sich. Der Gottesdienst ging zu Ende. Rechts und links um sie herum, standen sie nach und nach auf. Sie bekreuzigten sich ein letztes Mal. Ohne Hast stiegen sie die schmalen Steinstufen an beiden Seiten des Kirchenschiffes herunter. Auch die feine alte Ägypterin verließ ihren Platz auf der Balustrade. Doch keine Aufpasserin? Endlich leerte sich die Kathedrale. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Geklapper der Absätze. Angelehnt an die niedrige Mauer vor ihr stand ihr Stock, als hätte ihn jemand dort vergessen.

Sie rieb sich Nacken und Stirn. Blonde Haarsträhne hingen ihr ins Gesicht. Klebrig und ungeordnet. Sie schob sie hastig zurück unter das schwarze Tuch.

Während der letzten Wochen hatte sich eine Schwelle in ihr aufgetürmt. Jeden Tag ein Stück höher. Seit dem Betreten der Markuskathedrale war ihr bewusst gewesen, dass sie gerade diese Barriere im Innern zu überwinden hatte. Dafür musste sie sich in eine Ekstase hineinsteigern. Und dafür sorgte der Schmerz ihrer seelischen Wunden. Das hatte ihr ihr Therapeut schon vor Jahren eingebläut. Um r o t zu sehen und sich durchzusetzen, bräuchte sie merkwürdigerweise keinen Hass, keine Angst, sondern Wut und Jähzorn, hatte er ihr gesagt. Sie hatte das schon einmal durchgemacht. Es war ihre Feuertaufe gewesen. Damals war sie gejagt worden. Jetzt war sie die Jägerin – aus eigenem Antrieb.

In ihren Schläfen pochte es nun heftiger. Schmerzensstiche überall, gegen die Schädeldecke, in den Stirnhöhlen, in der linken Leiste, in der linken Hüfte und im linken Schienbein.

Um durchzustehen, was ihr bevorstand, brauchte sie dringender denn je den Jähzorn. Sie bräuchte diese Ekstase, und dennoch keine Bestie zu sein. Sie überprüfte ihre Hände. Kein Zittern. Sie schaute zur Kuppel hoch. Von deren Verzierungen hinter dem Bogen aus Staub und Sonnenflecken war immer noch nichts zu sehen. Ihr war heiß unter dem Kopftuch. Schweißtropfen rannten ihr über die Wimpern, herunter auf die Wange. Mit säuerlicher Miene wischte sie sie ab.

Von weitem drangen Stadtgeräusche durch die dicken Mauern zu ihr herüber. Unter ihr schlenderten Kirchendiener zwischen den leeren Holzbänken hin und her, sahen gelangweilt nach, ob jemand etwas vergessen hatte. An manchen Stellen wurden sie fündig: hier ein Taschentuch, da eine Geldbörse, hier ein Sonnenhut, da eine Haarspange.

Nach einer Weile verschwanden sie. Unmittelbar unter ihr tauchte ein Schatten auf. Sie lehnte sich über die Balustrade vor, um nachzusehen. Ein Priester fegte den Boden. Sie erkannte ihn sofort wieder. Ein gutaussehender Mann, Anfang 50 in schwarzer Kutte und mit einem übergroßen koptischen Kreuz an einer Kette aus versilberten Zinnkugeln und Bernsteinperlen. Wie schon bei ihrem letzten Besuch war er wieder an der Reihe, die Kathedrale vom Staub der Stadt zu befreien. Er hatte die Kragenknöpfe seines Gewandes geöffnet. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Sie raffte sich auf. Auf ihren Stock gestützt, das linke Bein nachziehend, stieg sie die Steintreppe hinab. Er würdigte sie keines Blickes.

Der Stadtlärm wurde lauter. Sie näherte sich dem Priester und grinste ihn an. Ein Mondgesicht mit vergilbten Zähnen. Kein schöner Anblick. Ein grausiger Erzengel. Als er sie endlich bemerkte, blieb er wie gelähmt stehen. Seine Hand gleitete über sein Kreuz. In diesem Moment ließ sie ihren Gehstock auf den Steinboden fallen. Der Widerhall zerriss die Stille in den heiligen Gemäuern, und seine Echowellen füllten den Sakralbau bis zur Kuppel. Sekundenschnell zog sie selbstsicher eine Glock 39 mit aufgesetztem Schalldämpfer aus ihrer Tasche heraus. Sie schoss. Ein zweiter Schuss, ein dritter. Der Priester sank in sich zusammen. Er hatte nicht die geringste Chance. Ein Schritt, zwei Schritte weiter. Aus nächster Nähe leerte sie das Magazin. Sechs Patronen. Mit der Spitze ihres Schuhs tippte sie an das Bein ihres Opfers. Tief atmend betrachtete sie den niedergestreckten Mann in seiner Blutlache. Mit professioneller Gelassenheit richtete sie ihre Handykamera auf ihn. Ein Bild, dann noch ein zweites.

Mit einem Tuch hob sie die noch heißen .45er-Kaliber-Hülsen auf, nahm ihren Stock, drehte sich um, steckte Hülsen und Waffe in die Handtasche, rückte das Kopftuch zurecht, und verließ ohne Hast, hinkend, den Tatort. Ihr dicht verschlossener Umhang zeichnete eine füllige Figur ab. Draußen angekommen, verschwand sie im Menschengewühl, am dösenden Wachposten vorbei. Die tobende, staubstickige Stadt verschlang sie.

2.

Zu dieser frühen Morgenstunde war außer ihm noch kein Mensch im Morddezernat Saarbrücken am Arbeitsplatz. Er, Ende 30 und tadellos, sportlich adrett gestylt, wartete. Von draußen drang spärliches Dämmerlicht durch die Fensterscheiben. Vom Durcheinander um sich herum angewidert, ließ er die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet. Die grüne Bereitschaftslampe eines Faxdruckers flackerte. Das Gerät krächzte laut und sägte an seinen Nerven – ungehindert, auf und ab.

Mürrisch blätterte er ellenlange Papiere durch, offenbar Faxmitteilungen und E-Mail-Ausdrucke, die er nur leidlich entziffern konnte und die ihm offenbar noch mehr Verdruss bereiteten. Erbost warf er sie auf einen Schreibtisch weit von sich.

Nach einer Weile drängelten sich lärmende Beamte durch die Tür. Blanke Wut weckte den „Samurai“ in ihm. Kampfbereit und messerscharf. Erst als der älteste Kriminalbeamte das heillose Durcheinander auf dem Schreibtisch entdeckte und „Schweinerei. Wer war das?“ durch den Raum brüllte, machte er sich bemerkbar: „Ich.“

„Und wer ist hier ich?“, rief ein anderer. „Was erlauben Sie sich – verdammt noch mal? Hier ist nicht Ihr Müllplatz.“

„Und – hier – ist – seit – 35 – Minuten – Dienst“, sagte er, wobei er jedes Wort einzeln betonte. Unmissverständlich vermittelte er seinem aufgebrachten, übernächtigten Gegenüber, dass er sich nicht einschüchtern ließ. Jetzt sprang er ruckartig auf, als hätte er Feuer gefangen: „Kommen Sie alle mit in mein Büro, sofort! … Bitte.“

Dem Kerl wäre das jüngste Mitglied des Morddezernats, Kommissar Harry Freudenberg, Ende 20, am liebsten ins Gesicht gesprungen, hätte ihn eine unsichtbare Hand nicht zurückgehalten. Der seit Langem vergessene Krampf in seinem Kehlkopf meldete sich wieder. Er fürchtete sich vor einem Stotteranfall. Er brachte keinen Ton heraus. Ein leises Beben erfasste seine Glieder. Ohren und Augen liefen blutrot an. Er fing an, laut nach Luft zu schnappen. Aber keiner hatte Zeit, sich um ihn zu kümmern.

Es war nicht allein die Angst vor einer drohenden Blamage gewesen, die Harry Freudenberg davon abgehalten hatte, dem Kerl die Meinung zu sagen, sondern erstaunlicherweise auch der Auftritt des Unbekannten mit den ungewöhnlich gepflegten Manieren. Auf irgendeine Art und Weise rettete das geschliffene Verhalten des Fremden den jungen Kriminalkommissar davor, gedemütigt zu werden. Es bewahrte ihm die eigene Selbstachtung. Harry beruhigte sich und bemerkte, dass seine älteren Teamkollegen blitzschnell verstohlene Blicke austauschten. Von ihnen war nicht der leiseste Widerspruch gegen die herrische Aufforderung des Mannes zu sehen. Es galt, alles in Demut zu ertragen, auch wenn das eigene Selbstwertgefühl grob verletzt worden war.

Sein unmittelbarer Chef, der hartgesottene Erste Hauptkommissar Lukas Brandung, und alle Beamte des Morddezernats folgten dem Mann zunächst zögerlich, dann zügig den Flur entlang. Ein neuer Wind schien zu wehen.

Am Ende des Gangs betraten sie ein geräumiges, mit anthrazitgrauen Möbeln ausstaffiertes Büro. Hell erleuchtet und wohl geordnet. Mitten auf einer blank geputzten Schreibtischplatte ein kleiner Blumenstrauß – abgelegt ohne Vase. Die frisch gestrichenen Wände bar jeglicher Zierde. Kriminalkommissar Harry Freudenberg bekam so seine erste Lektion im Fach Machtentfaltung. Sie stand auf keinem Lehrplan einer Polizeischule: Geballte Macht präsentiere sich kalt, steril und nackt. Dort bot der „Samurai“ an, Platz zu nehmen, und pflanzte sich vor ihnen auf. Elektrisierend, aber ohne die leiseste Spur von Hektik.

„Wir haben eine Leiche, um die wir uns sofort kümmern müssen. Kein Wort nach draußen.“ Und bevor sie fragten, erklärte er: „Ich bin der neue Kriminaldirektor: Bornhoff, Edgar Bornhoff. Heute ist mein erster Arbeitstag. Der Tote, beziehungsweise der Sarg mit dem Toten, ist unterwegs zur Rechtsmedizin. Äußerste Diskretion bitte. Die Herrschaften haben wieder zugeschlagen. Unser Mann ist einem feigen Mord zum Opfer gefallen. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Sie kennen die Geschichte.“ Er hielt eine Akte hoch. „Es war Ihr Fall. Nun können Sie dort weitermachen, wo Sie aufgehört haben. Ich bin zu jeder Hilfe bereit. Deshalb bilden wir sofort eine Mordkommission. Uns droht eine Rie-sen-bla-ma-ge, wenn der Mord öffentlich bekannt wird. Ich fürchte, alle anderen Fälle müssen warten. Ich verlasse mich auf Sie – und nicht nur ich. Diese Tat sollten wir nicht auf uns sitzen lassen. Wir sind wieder mitten im Krieg, und diesmal müssen wir gewinnen, endgültig. Ich sage wir – nicht die anderen.“

Sein Blick glitt über die versteinerten Gesichter vor ihm. Bornhoff zog sie mit seiner Bestimmtheit in seinen Bann. Verstummt vernahmen sie den klaren Dienstauftrag. Was und wer und wie – negativ, kein Schimmer. Sie hatten verstanden: Eine Akte lag von nun an in den Händen ihres Chefs, und sie verfolgten regungslos, wie sie dort in hastiger Verlegenheit, hin und her gereicht wurde. Jungkommissar Harry entspannte sich, als ihm klar wurde, dass er in der lähmenden Ohnmacht, die um ihn herrschte, ein Gleicher unter Gleichen war. Bornhoff entließ sie, wie er sie aufgescheucht hatte: kurz und bündig.

An seinem Schreibtisch angelangt, besah der Dezernatsleiter Lukas Brandung die Fax- und E-Mail-Ausdrucke. Sie lagen nach wie vor durcheinandergewirbelt herum. Harry verkroch sich wortlos in eine der hinteren Ecken des Großraumbüros.

„Was für ein Monster, Scheißauftritt“, fluchte Brandung vor sich hin. „Verdammt noch mal“, schrie er erbost durch den Raum. Vor Bornhoff war er schon gewarnt worden; ein scharfer Hund, hatte man ihm zugeflüstert. Der Kerl machte dem Ruf, der ihm vorausgeeilt war, bereits an seinem ersten Tag alle Ehre.

Edgar Bornhoff war als Büroleiter des Innenstaatssekretärs bekannt geworden, als Inbegriff eiskalter Kompromisslosigkeit, als der „Samurai“ im Ministerium, berühmt-berüchtigt. Ein Wadenbeißer, gefühllos und distanziert.

„Diese Schweine.“ Ungläubig blickte Lukas Brandung auf das erste Blatt der Akte. „Sie haben ihn doch … Wie konnte das nur passieren?“ Mit einem Ruck wischte er den Papierkram von seinem Schreibtisch. Im vorauseilenden Gehorsam bückte sich eine Mitarbeiterin, um die Bögen aufzusammeln.

„Lass den Dreck da liegen. Hört zu! Hört alle zu! Ich will es nicht zweimal sagen. Der Neue, Bornhoff, hat es euch schon gesagt; ich wiederhole es für alle Fälle noch einmal. Kein Ton nach außen. Klar? Keine Silbe gegenüber den anderen Kollegen im Haus. Man weiß nie, wen das Syndikat gekauft hat. Ist die Tür dicht? Keine zwei Jahre konnte er das ruhige Leben genießen. Jetzt ist er wieder da – diesmal in einer Zinkkiste. Sch…“!

Er reichte ihnen die Akte. Sie begriffen sofort, um wen es sich handelte.

„Wie konnte das nur geschehen?“, sagte die Kollegin bleich und den Tränen nah.

„Wie gehen wir vor?“, fragte ein anderer Kommissar, während er aufgelöst um seinen Chef herum von der einen Ecke zur anderen des Raumes schritt.

„War seine Frau nicht bei ihm?“, erkundigte sich der nächste.

„Nein. Sie musste sich doch von ihm fernhalten, woanders hinziehen, damit seine Tarnung nicht auffliegt“, meldete sich das älteste Mitglied des Dezernats.

„Ist sie nicht krank?“, warf Harry bedächtig ein.

„Auch das!“ Brandung blickte hoch und vermied es, dem jungen Kommissar direkt in die Augen zu schauen.

„Müssen wir sie nicht benachrichtigen?“, legte jemand zögerlich nach.

„Schon, aber nicht jetzt. Dringender ist, zu klären, ob wir nach Kairo dürfen. Nur an Ort und Stelle haben wir eine Chance, die Umstände zu klären. Wir müssen damit rechnen, dass alles von vorne losgeht. Halt. Du hast doch recht. Wir müssen zuerst Personenschutz für seine Frau organisieren, sie warnen – wenn es nicht schon zu spät ist. Was ist mit dem Informanten? Der musste damals auch untertauchen. Ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben ist; neue Identität, neuer Wohnort. Ich muss das nachher mit Bornhoff klären. Oh Gott, warum nimmt das bloß kein Ende?!“

„Einen Kaffee?“, verschüchtert trat eine Mitarbeiterin ins Gesichtsfeld des Dezernatsleiters.

„Ja bitte, und vielleicht Wasser, ja, bitte zuerst einen Schluck Wasser.“ Lukas Brandung spürte, wie der hohe Blutdruck ihm die Kehle austrocknete. Wie Kopf und Ohren dröhnten.

In diesem Moment war er hilflos. Nach dem Tod seiner Frau vor drei Jahren mehr denn je. Und wenn er ehrlich war, dann war ihm klar, dass seine Frau es nicht mehr länger mit ihm ausgehalten hatte. Sie hatte sich bereitwillig von der Krankheit hinwegraffen und sich durch den Tod von ihm und seinen Launen befreien lassen. Aber das war ihm erst später klar geworden. Er schaute um sich, als stecke er schon wieder in einem Loch.

„Bitte schön.“

„Oh, danke.“ Brandung nahm den ersten Schluck. Harry Freudenberg fiel auf, dass sich die Gesichtszüge seines Vorgesetzten verfinsterten, so als hätte er sich fast gewünscht, am Wasser zu ersticken. Dann müsste er das Ganze nicht noch einmal durchmachen.

„Was habe ich gesagt? Kann man den Mist da unten nicht aufheben? Ist doch kein Saustall hier, mit Verlaub.“ Brandung merkte selbst, wie ungerecht er sein konnte, vor allem denen gegenüber, die ihm am meisten beigestanden hatten und jetzt bereit waren, seine Launen zu ertragen. Für den Tod seiner Frau gab er allen die Schuld, nur sich selbst nicht. Und am liebsten hätte er jeden angeklagt. Denn sie alle – seine Mitarbeiter, seine wenigen Freunde und seine vielen Feinde –, sie alle hatten ihr in seinen Augen den Todesstoß versetzt.

3.

Im Polizeiapparat galt Lukas Brandung als Star unter den Kriminalisten. Er hatte es verstanden, Klippen und Fallen der Polizeiarbeit ohne große Blessuren zu umschiffen. Ein Kraftprotz unter den Gesetzeshütern. Trotz seiner 58 Jahre konnte er es im Notfall mit mehreren Angreifern gleichzeitig aufnehmen. Dabei halfen ihm sein ausgesprochen taktisches Kalkül und sein durchdringender Verstand.

Seine großen Kriminalfälle lagen lange zurück. Ohne den politischen Rückhalt, den er sich stets zu sichern wusste, hätte er es nicht so weit gebracht: Seit 15 Jahren war er Erster Hauptkommissar des Dezernats für Tötungsdelikte. Seine Autorität war unbestritten. An ihm kam keiner vorbei – im Polizeipräsidium nicht, in der Staatsanwaltschaft und im Dezernatsleiterkollegium erst recht nicht. Brandung genoss Narrenfreiheit, behaupteten seine Neider. Doch in seinem Gesicht konnte jeder Blinde die Narben sehen, die nicht vom friedfertigen Hantieren mit einem Rasiermesser stammten. Sie spiegelten die tiefen Wunden wider, die während der letzten Jahrzehnte der kompromisslose Einsatz für den Rechtstaat in seine Seele geschrieben hatte. Leidenschaftlich, unnahbar und zuweilen auch ungerecht zu sein war sein Ruf. Dazu seine Wutausbrüche, unnachahmlich und gnadenlos. Aber Lukas Brandung stand inzwischen an der Schwelle des Rentenalters. Und jeder seiner Kollegen unter den Dezernatsleitern – alle jünger als er –wartete täglich darauf, ihn als Leiter des Mordkommissariats zu beerben. Brandung wusste das, und er wäre nicht Lukas Brandung gewesen, wenn er im Wissen darum nicht eigene Pläne geschmiedet hätte.

„Entschuldigung. Da baue ich wieder Mist. Ich meine es nicht so. Zunächst gilt es, die Frau abzusichern. Das ist das Vordringlichste. Das ist wohl das Einzige, was jetzt zählt.“

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte schrill. „Ja, Brandung? …Bin gleich da.“

Er wandte sich an seine Mitarbeiter:

„Ich muss rüber zu Bornhoff. Das BKA ist da. Bereitet euch inzwischen gründlich vor. Helga, finden Sie mal heraus, ob der Kerl, den wir damals hinter Gitter gebracht hatten, noch brummt. Ich will alles wissen: in welchen Kreisen bewegt er sich, wer besucht ihn, was treibt er so, alles, ja alles. Schaut nach, ob was Neues hereingekommen ist. Und wie gesagt: Keine Silbe nach außen. Wer fliegt nach Ägypten? Wer spricht sattelfest Englisch? Freiwillige vor! Oder Arabisch? Wohl keiner. In die Rechtsmedizin gehe ich selbst, aber später, nachdem ich bei Bornhoff war. Bis gleich.“ Und schon fiel die Tür krachend hinter ihm ins Schloss.

Bei Bornhoff saßen zwei Typen, bei deren Anblick er bleich im Gesicht wurde. Geschniegelte Karriereaffen, vermutlich aus irgendeiner Gruppe für Schwere und Organisierte Kriminalität in Wiesbaden, dachte er, während Bornhoff ihn vorstellte: „Unser Erster Hauptkommissar, Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte und der neuen MOKO, Lukas Brandung. Sie haben sicher schon von ihm gehört. Ich hatte erst heute selbst das Vergnügen. Zur Sache: Was haben Sie uns zu sagen; vor allem wann und wo ist es passiert?“

„Darf ich zunächst Ihre Dienstausweise sehen?“, schaltete Brandung sich ein. „Ich kann mich in dieser Sache nicht gründlich genug vergewissern. Sie haben, denke ich, nichts dagegen.“

„Oh, selbstverständlich nicht. Hier, mein Name ist Joseph Langenstein. Ich bin Kriminaloberrat beim BKA, seit zwei Jahren Leiter des Dezernats für organisierte Kriminalität. Und das ist von nun an in diesem Fall Ihr Gesprächspartner, mein Mitarbeiter Uwe Klausen. Klausen, zeigen Sie Ihren Ausweis vor.“

Bornhoff musterte Brandungs Gesicht, wie er die BKA-Identitätskarten leicht verächtlich hin und her wendete. Für einen Augenblick konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, Brandung mochte die Ausweise nicht wieder zurückgeben. „Brandung. Können wir jetzt weiter machen?“

„Entschuldigung. Klar. Das müssen wir sogar. Wann genau ist es passiert? Haben die Ägypter nähere Angaben gemacht?

„Nur vage Mutmaßungen“, antwortete Langenstein. „Sie signalisierten uns, wir dürften ihnen an Ort und Stelle helfen. Das ist unüblich, aber wegen der Brisanz des Vorgangs würden sie eine Ausnahme machen. Daher ist Eile geboten. Wir sollten ein Team bilden, erfahrene Kollegen – Sprachkundige bekommen wir von der Botschaft –, und selbstverständlich erscheint mir sinnvoll, dass Sie dort die Umstände zu klären versuchen, da Sie mit dem Fall seit Jahren vertraut sind.“

„Stopp“, fiel ihm Bornhoff ins Wort. „Wir sind intern noch nicht so weit. Erst müssen wir uns abstimmen. Ich glaube nicht, dass Sie Herrn Brandung so losschicken können. Vielleicht warten die anderen nur darauf. Und das können wir nicht riskieren, auch wenn er selbst Ihrer Meinung wäre. Mit dieser Bande ist nicht zu scherzen. Schnellschüsse bringen nichts. Lassen Sie mich das bis heute Mittag klären. Mehr kann ich Ihnen nicht zusagen. Nun aber zu unseren Fragen: wie und wann? Was haben Sie von den Ägyptern erfahren?“

„Trotz turbulenter Zeiten in ihrem Land waren sie sehr offen und hilfsbereit. Sie fanden die Leiche in der Markuskirche, niedergestreckt von sechs Schüssen. Am hellsten Sonntagnachmittag. Mitten in der koptischen Fastenzeit. Das Patriarchat bestand darauf, dass der Leichnam schleunigst nach Deutschland geflogen wird, noch bevor die Presse davon Wind bekommt. Wohl deshalb, weil der ›Anba‹ der Koptischen Kirche befürchtet hat, dass sein Gotteshaus als Unterschlupf für Kronzeugen ausländischer Sicherheitsorgane in Verruf geraten könnte, gleich ob wir, andere europäische Behörden oder die Amis dahintersteckten. Die Kirchenleitung war über die Geschichte erbost, gerade drei Tage vor dem hohen koptischen Fest, wie nennen sie es noch? Hier ist meine Notiz: die ›Entschlafung der hochheiligen Meisterin unser, der Gottesgebärerin, der Mariaaufnahme in den Himmel‹. Im Innenministerium in Kairo war man entsetzt darüber, dass es überhaupt dazukommen konnte; dass wir unseren Mann nicht schützen konnten. Der Innenminister lenkte aber ein und ordnete an, ohne viel Staub aufzuwirbeln, das Ganze in unserem Sinne anzugehen. Wir baten um die Genehmigung, bei den Ermittlungen vor Ort dabei zu sein, vielleicht lassen sich dadurch Anhaltspunkte über die Attentäter und die Tat gewinnen. Zuerst äußerten sie Widerwillen, am Ende stimmten sie unserem Wunsch jedoch zu. Das war genau“, er schaute auf die Uhr, „vor elf Stunden.“

Langenstein holte tief Luft. Ermüdet wandte er sich an seinen Mitarbeiter: „Klausen machen Sie weiter.“

„Ja. Wir haben die Faxmitteilung der Ägypter übersetzt und heute früh an Sie weitergeleitet. Der Mord ist am Sonntagmittag geschehen, vermutlich unmittelbar nach dem Gottesdienst. Neben dem Toten lag ein Besen, mit dem er den Boden gefegt hatte. Sechs Schüsse. Keine Patronenhülsen, keine Spuren und – für uns verwunderlich – bisher auch keine Zeugen. Nicht ein einziger Mensch will die Schüsse in der Kirche gehört haben. Selbst der Wachposten hat in seinem Holzverschlag, kaum 100 Meter vom Geschehen entfernt, nichts vernommen. Vielleicht hat er gedöst. Da unten ist es zu dieser Jahreszeit besonders schwül und heiß. Sie wissen nicht, ob es einer oder mehrere Täter waren. Nach den ersten forensischen Untersuchungen in Kairo soll es sich um eine einzelne Waffe handeln, die die tödlichen Schüsse abgegeben hat, eine Faustfeuerwaffe, Großkaliber. Das lässt den Schluss zu, dass nur einer geschossen hat. Ob mit Deckung, Begleitung, Fahrrad, Auto, Eselskarre oder zu Fuß … keine Angaben.“

Brandung ließ sich die Anspannung nicht anmerken. Auch am Rande des Abgrunds konnte er hinter dem vernarbten Gesicht seinen Gemütszustand verbergen. Er blickte an den zwei BKA-Ermittler ihm gegenüber vorbei aus dem Fenster in die Leere des verhängten Himmels. „Der Amtsleiter hat Ihnen soeben deutlich gemacht: Wir haben noch Klärungsbedarf. Bis Mittag, spätestens 13 Uhr, wissen Sie, wie wir vorgehen werden. Ich denke, das ist schnell genug, damit Sie auch Ihren Senf dazugeben können. Jetzt muss ich an die Arbeit. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Ihre Telefonnummer, bitte. Ach, noch etwas. Wir brauchen dringend Personenschutz für die Frau des Toten, vielleicht befindet sie sich auch dort unten. Um unser Sorgenkind im Zeugenschutzprogramm, unseren früheren Informanten in diesem Fall, kümmern wir uns selbst. Wem es gelang, unseren Kollegen in Kairo ausfindig zu machen, der wird den Helfer, ohne den wir die Hintermänner des Syndikats nie aufgespürt hätten, auch auf dem Mond jagen können. Das Ganze war ja auf Ihrem Mist gewachsen. Es war doch Ihre glorreiche Idee, der absurde Einfall Ihrer Leute, unseren Kollegen in Kairo unterzubringen. Getarnt als Kopte! Hurra, wie schlau! Da haben wir es. Hoffentlich ist es für seine Frau nicht auch schon zu spät.“

Er sprang auf, warf seinen Stuhl um und erstickte damit jeden Widerspruch im Keim; dabei würdigte er sie nicht eines Blicks. Er nickte Bornhoff kurz zu und verließ eilig die Runde.

4.

Draußen waren die Gänge wie leer gefegt. Keine Menschenseele. Er hastete in sein Büro, als jagten sie ihm nach, um ihre Entrüstung über seine letzte Bemerkung loszuwerden. Was soll’s, dachte er. Der Teufel soll sie holen, diese Dummköpfe. Wer kommt nur auf so was? Alles Amateure! Sie haben ihn auf dem Gewissen. Bei den Kopten – die spinnen doch in Wiesbaden! Grenzenlose Wut erfasste ihn, es brummte in seinem Schädel.

Brandung war gerade erst an seinem Schreibtisch angekommen, da stellte sich Hauptkommissar Gustav Lindenberg neben ihn. „Chef, wir haben soeben erfahren, dass die Frau längst nicht mehr dort wohnt, wo wir sie vermutet haben. Nachbarn, Meldeamt, Arbeitgeber – null. Bei ihrer Arbeitsstelle hat sie sich vor Wochen krankgemeldet. Selbst ihrer beste Freundin hat sie vor einer Woche nur gesagt, dass sie mit ihrem Freund wegen ihrer Krankheit zu einem Spezialisten der Uniklinik München fahren und ein paar Tage dort für Untersuchungen bleiben will. Ihre Wohnung ist aber gekündigt und leer. Die Nachbarn erzählten, dass an einem Vormittag, da war Ulrike Schramm nicht einmal dabei, ein Umzugsunternehmen vorbeikam, und bis zum Nachmittag hatten sie alle Möbel abtransportiert. Wohin? Da wusste keiner etwas Näheres. An den Namen der Spedition konnten sie sich aber erinnern. Die Umzugsfirma bestätigte uns, das ganze Zeug sei bei ihr eingelagert worden, auf Wunsch der Kundin. Der Auftrag sei von ihr im Juni erteilt worden. Sie wollten nun wissen, wie sie weiter vorgehen sollten. Die Rechnung für den Umzug plus Lagergebühren für 180 Tage hat sie sofort bezahlt. Ihre Bank sagt, die Frau habe vor wenigen Wochen ihr Konto aufgelöst und sich ihr Guthaben komplett ausbezahlen lassen. Es waren 7.800 Euro. Am selben Tag wurden alle Daueraufträge storniert, die Scheckkarte zurückgegeben. Angaben über ihren neuen Wohnort hat sie nicht gemacht. Ihr Hausarzt hat sie an keine Klinik überwiesen. Näheres zu ihrem Gesundheitszustand wollte der Arzt wegen der Schweigepflicht nicht sagen. Es hätte uns auch nicht weitergebracht. Ihre Krankenkasse gab sich offener und hat bestätigt, dass sie nach wie vor Mitglied ist, gemeldet mit der alten Adresse. Im Moment wissen wir nur eins: Entweder ist sie untergetaucht, vorsätzlich aus eigenem Antrieb, oder sie ist wegen einer Drohung oder irgendeines Hinweises in Panik geraten und deshalb vorerst spurlos verschwunden – ohne uns zu informieren. Wenn es das schwarze Loch auch auf der Erde gäbe, dann würde sie wohl drinstecken.“

Brandung schaute Lindenberg regungslos an. Ein durchaus interessanter Typ, ehrgeizig, smart und stets auf Distanz bedacht. Wenn er selbst hier mal Platz machen würde, wäre er wohl der perfekte Nachfolger, sinnierte Brandung. Letzte Woche feierte Lindenberg seinen 40. Geburtstag, das richtige Alter, um was zu werden. Von Anfang an hatte Brandung an ihm Führungsqualitäten und Durchsetzungsvermögen erkannt.

Vor zehn Jahren war Gustav Lindenberg ins Dezernat gekommen. Sein Ehrgeiz war niemandem verborgen geblieben, und er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er es als Kriminalist zu etwas bringen wollte. Dem Personalrat des Polizeipräsidiums gehörte er seit acht Jahren an, und es lag nur an ihm, dass er nicht zum Vorsitzenden des Gremiums gewählt worden war. Er hatte es abgelehnt, weil er fürchtete, seine tägliche Arbeit im Dezernat für Tötungsdelikte würde darunter leiden. Und vor allem wusste er, dass Lukas Brandung es nicht gerne sehen würde. Funktionäre, die nur von Sitzung zu Sitzung jagten, um sich in Wahrheit vor der Arbeit zu drücken, waren dem Leiter des Mordkommissariats zuwider, und Gustav Lindenberg wollte es sich von Anfang bei ihm nicht verscherzen. Beide Männer waren sich noch näher gekommen, als Brandung sich sicher gewesen war, dass Gustav Lindenberg sich an das Grundprinzip einer Männerfreundschaft hielt: Loyalität. Für Lukas Brandung war dies das A und O. Loyal, intelligent und durchsetzungsfähig. Eine Führungsgestalt eben. Gustav Lindenberg ordnete sich unter: Erst kam der Chef, dann dessen langjähriger enger Freund und Leidensgenosse Hauptkommissar Gert Schaffner und dann er. Und es wagte niemand, an dieser Hackordnung zu rütteln. Weder im Präsidium noch im Dezernat.

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