Czytaj książkę: «Fern von hier»

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Über dieses Buch

Adelheid Duvanel ist eine Meisterin der kleinen Form. ­Die radi­kale poetische Kraft ihrer Sprache macht sie zu einer der bedeu­tendsten Stimmen der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts.

Ihre kurzen Erzählungen sind Momentaufnahmen aus dem Leben von meist versehrten Existenzen, die sich aber in ihren fatalen Verhältnissen mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegen. In ihrem eigensinnigen Beharren auf ihrer Sicht der Welt be­­wahren sie sich ihre Würde gegen die Zumu­tungen des Lebens. Ja, sie finden gerade in der Abweichung vom Verlangten eine Kühnheit, die den Texten ihre umwerfende Energie gibt. Die Er­­zählungen sind von hoher poetischer Präzision, jede Figur «in Einzelanfertigung». Trotz ihres manchmal finsteren Inhalts leben die Texte von überraschenden, absurden Wendungen und einer wunderbaren hintergründigen Komik.

Diese Ausgabe vereinigt erstmals sämtliche in Buchform sowie in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien erschienenen Erzählungen Adelheid Duvanels in einem Band, der ­dieser grossartigen Autorin wieder den Platz in der Literatur einräumt, der ihr gebührt.

«Unabweisbar bleibt die Frage, warum die deutsch sprachige Literaturkritik nicht zu Lebzeiten Adelheid Duvanels die Einzigartigkeit dieser Schweizer Erzählerin bemerkt hat.» Peter Hamm

«Adelheid Duvanels Erzählen ist von einer unheimlichen Einmaligkeit. Kein Satz ist bei ihr vorhersehbar, und doch wirkt jeder zwingend notwendig. Was sie schreibt, sind Komödien der Einsamkeit. Zwielichtig. Den Namenlosen gibt sie einen Namen, den Abseitigen ein unverwechselbares Gesicht.» Peter von Matt

«Wenn für diese schon beim Lesen seltsamen Kürzest-Erzählungen fast ohne Handlung, die nach der Lektüre in der Phantasie des Lesers zu arbeiten beginnen, eine Gattungs-Bezeichnung gesucht werden soll, so hat Adelheid Duvanel sie mit dem Titel ihres ersten Bandes schon gefunden: ‹Windgeschichten›. Sie jagen vorbei wie ein Windstoss, schenken einen Hauch von Freiheit, von Sehnsucht anderswohin, bringen viel durcheinander, zerzausen wohlgekämmte Ansichten.» Rolf Michaelis, Die Zeit


Adelheid Duvanel, geboren 1936 in Pratteln und auf­gewachsen in Liestal, machte eine Lehre als Textil­zeichnerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Bürostellen sowie als Journalistin und Schriftstellerin. Von 1962–1981 war sie mit dem Kunstmaler Joseph Duvanel verheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte. Bis auf ein Jahr auf ­Formentera lebte sie in Basel, wo sie 1996 starb. Ihre schriftstellerische Laufbahn ­begann sie unter dem Pseudonym Judith Januar in den Basler Nachrichten, in Anthologien und literarischen Zeitschriften. Ab 1980 erschienen ihre ­Erzählbände im Luchterhand Verlag. ­Duvanel wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem ­Kranichsteiner Literaturpreis.

Adelheid Duvanel

Fern von hier

Sämtliche Erzählungen

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Elsbeth Dangel-Pelloquin

unter Mitwirkung und mit einem Essay von Friederike Kretzen

Limmat Verlag

Zürich

Windgeschichten

Der Dichter

Noch vor einigen Monaten bemühte ich mich, gesellig zu sein. Ich lockte fremde Menschen in mein Haus; wie blutige Blumen leuchtete der Wein aus den Gläsern, die ich ihnen reichte. Am frühen Morgen liefen die Augen der jungen Frauen und Männer aus, sickerten warm über ihre Hälse, hüpften über die Schlüsselbeine und rannen tiefer. Ich aber saß nüchtern wie Cellophan im zerschlissenen Sessel neben der Zentralheizung und beobachtete ihre Tänze; sie lösten sich von den Mauern, an denen sie sich festgekrallt hatten, und flatterten wie Efeu im Wind. Ich versuchte als Kind, mit Hilfe von kleinen Gesten, von andeutenden Worten mit Menschen in Kontakt zu treten, doch sie liebten das Laute, das Deutliche, das ich verabscheute. Sie konnten mich nicht verstehen. Meine ältere Schwester und ich wuchsen ohne Mutter auf. Ich erinnere mich, dass unser Vater die Worte «Enthaltsamkeit» und «Opfer» liebte; er gehörte einer abstrusen Sekte an, zu der auch wir gehören mussten, doch als ich sechzehn war, schwänzte ich die gottesfürchtigen Versammlungen, die mir Magenschmerzen verursachten. Litt ich während des Essens an Durst, sprach Vater: «Iss Salat»; das Trinken, selbst von Wasser, betrachtete er als Ausschweifung; unsere Gaumen und Herzen hatten trocken zu bleiben.

Meine Schwester verließ den Vater früher als ich, aber als ich dann aus der Kälte meines Elternhauses fortging in die Kälte der Welt, war ich noch nicht flügge. Ich verrannte mich, blieb hängen, wurde zum Spielball und fiel tief; ja, ich heiratete beinah. Heute treibe ich auf einer Eisscholle immer weiter von jenem Ufer fort, das sich flach und freudlos in der Ferne abzeichnet und nicht undeutlicher wird. Die Stille um mich ist von Angst gespannt, aufgebläht wie eine Riesenwolke.

Jeden Tag spaziere ich mit meiner Hündin, die auf die genau gleiche Weise hinkt wie ich (ich bin mir des lächerlichen Anblicks bewusst), durch das Vorstadtquartier; wenn ich stehen bleibe, verhält auch das Tier den Schritt und blickt zu mir auf. Auf einem dieser Spaziergänge geschah es, dass ich zum Dichter wurde: Am Straßenrand stand ein Auto, das der Frost vielleicht unsichtbar machen wollte, denn es schien in ein weißes, dünnes Seidenpapier verpackt. Auch der Himmel, der zwischen den weißen Dächern baumelte, war weiß. Als ich das Auto beinah erreicht hatte, sah ich, dass der Finger eines Kindes es mit Buchstaben, mit einem Wort zurückholen wollte aus dem Versteck, es zugleich verwandelte, ihm seine Bedeutung als Auto, die durch die weiße Verkleidung schon in Frage gestellt war, noch einmal und mit Nachdruck wegnahm. Auf der Kühlerhaube stand etwas geschrieben, ein Wort, das mein Interesse weckte; nahe vorbeigehend, entzifferte ich: ZORN. Ich war erregt, eigenartig aufgewühlt, als teile mir das nackte Gesicht einer weiß verhüllten Braut etwas mit, als läse ich in ihrer Miene eine Botschaft, die mit ihrer Eigenschaft als Braut nicht in Zusammenhang stand. Seit jenem Augenblick frage ich mich, ob nicht Worte über der großen Leere, über dem Abgrund, in den mein Leben ge­­­fallen ist, eine neue Welt schaffen können. Ich schreibe nun Tag und Nacht Wörter, male mit ihrem Klang die Fluten des Himmels, die einen tollwütigen Fisch vor mein Fenster treiben; ich baue Türme und Brücken, lasse die Sonne mit blitzendem Besen die Schatten aus den Schluchten kehren und schüttle den Kopf, wenn der Wind, den ich beschreibe, wie ein Vagabund in einem Winkel alte Zeitungen liest; hastig, mit lachhafter Neugier, blättert er um.

Das Getüm

Durch die offene Balkontür, vor der Wotanek am Tisch sitzt, sehe ich am Geländer einen zusammengeklappten, gelben Plastikliegestuhl. Wotanek massiert mit dem kleinen Finger der linken Hand seinen abgebrochenen Schneidezahn mit einer Inbrunst, die vermuten lässt, dass er sich von dieser Massage eine Wirkung erhofft. Ich kenne Wotanek schon lange; die zusammengekrümmte Haltung ist für ihn typisch. Als er ein kleiner Springumsquartier war, wollte niemand mit ihm spielen, da er den Ball immer fallen ließ. «Bewe­gungs­trottel» nannte ihn, später, seine Gattin Helga, eine wahre Eisheilige; am Hochzeitstag küsste sie ihn auf die Nasenspitze, worauf diese erfror. Helga kenne ich erst seit kurzem, weiß also nichts über ihr früheres Leben; sie ist eine großgewachsene Frau mit behaarten Beinen, die stets weiße Turnschuhe trägt.

Wotanek streikte als Kind mit einer Ausdauer, die erstaunlich ist; seine Absage an die Spielregeln unserer Welt bewirk­te, dass sogar seine Gesichtsmuskeln den Dienst versagten; so kam es, dass er gleichsam zugemauert, unerkannt, ganz im Verborgenen lebte. Ich vermute, diese Daseinsart entwickelte sich aus einer außerordentlichen Empfindsamkeit. Er war Heimzögling und hatte seinen Vater nicht gekannt, einen Apotheker, der in seiner Freizeit kilometerlange Papierstreifen mit Lösungsversuchen eines mathematischen Pro­blems vollschrieb und schließlich, sich den Misserfolg seiner Bemühungen zu Herzen nehmend, Selbstmord verübte. Die Mutter war schon vorher aus Gram über diesen Mann gestorben. Da Wotanek den Tod seiner Eltern nicht beweinen konnte, trauerte er heimlich beim Anblick kahler Äste, die der Wind wie Teile eines zerrissenen Netzes vor dem Himmel schwang – um nichts zu fangen; gab es eine Beute außer dem kleinen Wotanek? Auch die immerwährende Melancholie der Katze, die zum Heim gehörte, verstörte ihn, und es gab niemanden, den er an seinen Seelenschmerzen teilneh­men ließ.

Des Knaben scheinbar steinerne Gelassenheit reizte seine Erzieher; er begriff ihr Unverständnis, betrachtete sie aber mit Wonne als seine Feinde und vermochte sie insgeheim zu hassen. Manchmal verließ ihn aber diese einzige Freude, dann glaubte er, er sei eine Warze, die man wegätzen müsse.

Als Helga, die junge Erzieherin, ins Heim eintrat, hatte Wotanek sich eben in seinem Innern ein zärtliches Getüm erschaffen, das ihn zu Tode biss, ein Loch für seinen Leichnam grub und aus Verzweiflung über seinen Tod die Nächte mit Geheul sprengte. Wotanek war reif für die Liebe und beinah glücklich, was sich nicht änderte, als Helga ihn am Tage seiner Volljährigkeit heiratete. Sie hatte zwar ihre Stelle als Erzieherin verloren, doch da sie tüchtig war, arbeitete sie in verschiedenen Berufen zur Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber. Sie verwöhnte und demütigte Wotanek, der nun kränkelte und in wenigen Jahren zu einem schönen Skelett wurde, das meist lesend in einem Lehnstuhl kauerte. Wenn Helga nach der Arbeit mit strammen Schritten die Wohnung durchmaß, summte sie: «Auf, du junger Wandersmann», was aber Wotanek nicht zu irritieren schien. Er lebte nun sozusagen hinter doppelten Mauern; hinter der Wand seines Gesichts und hinter den Deckeln der Bücher – und auch vor sich selber hatte er sich versteckt: So gestand er sich nicht ein, dass er von seiner Gattin, die er in jugendlicher Verstiegenheit mit dem Getüm verwechselt hatte, enttäuscht war; er verstummte, führte nicht einmal mehr Selbstgespräche.

Ich trete im Zimmer des Kurhauses, in dem Wotanek nach einer Operation die letzten Tage seines Lebens verbringt und mit den Boten des Todes, den Schmerzen, geduldig umgeht, leise näher. Jenseits des Balkons sehe ich Wiesen, auf denen sich wie Reste einer Krankheit Schneegeschwulste erheben, und über einem Abgrund, die Füße von Stechpalmen bewachsen, einen Nadelbaum, der sich streckt, um den verschlossenen Himmel zu berühren. Weit unten bewegt sich die Schuppenhaut des atmenden Sees. Ich neige mich über Wotaneks kurzes, bleifarbenes Haar und flüstere: «Wotanek, ich, das Getüm …» Er wendet mir langsam das starre Gesicht mit der Nase ohne Spitze zu; sein Blick, nur bereit für das geschriebene Wort, buchstabiert mich mühsam, dann öffnen sich die Augen weit. Ich lege die Hände an seine Ohren, verbeuge mich tief und durchbeiße seine Kehle. Nun werde ich ein Grab schaufeln und schreien.

Der Flügel

Im sich schließenden Kelch des Himmels schimmert wie ein Wassertropfen der Mond; das Lied einer Amsel schlingt Girlanden aus Duft um die Stadt. Dunkel kauern Bäume in den Gärten, der Lärm einiger Autos und Motorräder fällt vorbei und löst sich auf in der Finsternis am Ende der Straße.

Werner, ein rundlicher Mann mit einem Faultiergesicht, sitzt auf dem Bett in der Ecke – knapp einen Meter vom glänzenden Flügel entfernt – und erinnert sich: Im Saal der Musik­schule, wo es nach Bodenwichse riecht und die Luft abge­standen ist wie im Theatersaal eines Mädcheninternats (die Schülerinnen sprechen dort, zwischen den Stuhlreihen am Boden kniend, ihre Abendgebete), gab Esther ihr Diplomkonzert. Werners Herz formte sich zu einem spitzen, harten Kern, und der Magen schien wie ein Fetzen Tuch in einer schlecht geschlossenen Schublade eingeklemmt; er hatte Angst um sie, fürchtete, sie könne versagen, obwohl er sie nicht kannte, aber sie schien so zart. Sie hatte krauses Haar und Augen von einem erschreckenden Gasflammenblau, wie er es noch nie gesehen hatte. Während der Pause, als alle Leute hinausströmten, blieb Werner im Saal sitzen; eine Hummel irrte im Zickzack durch den hohen Raum; ihr Schatten huschte als grauer Fleck vorbei, ihr eintöniges Surren ging in unregelmäßigen Abständen in ein ersticktes Zischen über, wenn sie gegen eine Wand stieß.

Werner besucht Konzerte, weil er Musikkritiken für eine mittelgroße Zeitung schreibt. Stets bangt er um die Musiker; er bewundert ihren Fleiß, ihre Hingabe und ihren Mut und ist froh, dass sie nicht in Ohnmacht fallen. Der Applaus des Publikums entzückt ihn, und wenn Blumen überreicht werden, weint er beinah. Er lobt die Interpreten in schwülstiger Sprache, beschreibt die mutmaßlichen Empfindungen des Publikums während des Konzerts und berichtet Anekdoten über die Komponisten, die er aus seinen in Buchantiquariaten erstandenen Musikerbiografien abschreibt. Er möchte seine Leser unterhalten, an den Strängen ihrer Gefühle ziehen und in ihren Herzen frommes Sonntagsgeläute erklingen lassen.

Am Tag nach jenem Konzert sandte er Esther eine Kopie seiner Besprechung und kaufte für sie den Flügel; er ließ ihn in den einzigen Raum seiner Sozialwohnung stellen, in der er seit vielen Jahren haust, und zahlt ihn in Raten. Der Flügel wohnt im Zimmer wie ein düsteres Tier in einem zu engen Käfig. Werner benützt ihn, da er seinen Tisch aus Platzman­gel verkaufen musste, als Esstisch, Toilettentisch und Arbeitstisch und telefoniert Esther in regelmäßigen Abständen; sie antwortet ausweichend mit einer netten Kinderstimme. An einsamen Abenden stellt er sich vor, wie sie ihre kleinen, hellen Hände über der Klaviatur auf und ab würfe; flink paddelte sie durch den Strom der Melodien, so dass es im Zimmer strudelte und plätscherte und Werner, auf dem Bett sitzend wie Noah in der Arche, die Füße anzöge und über seine Rettung lächelte.

Nun ist Esther tot, ohne Werner kennengelernt, ohne am Flügel gespielt zu haben, der sich in ihren Sarg und in ihr Denkmal verwandelt hat. Heute Morgen hat Werner die Todes­anzeige in der Zeitung gelesen, während er, am geschlossenen Instrument sitzend, seinen Kaffee trank; ein Unfall hat die junge Pianistin ihren trauernden Angehörigen entrissen. Werner, der über ihr Spiel eine Rezension wie ein Gedicht verfasst hatte – so blumentraurig, so zärtlich und bewegend –, hat man mit keiner Zeile erwähnt; er gehört nicht in den schwarzen Rahmen, in dem die gottergebene Familie sich in der Zeitung ausgestellt hat, grollend, weil sie von der Tochter, Nichte und Enkelin verlassen worden ist. Aber auch Werner ist von Esther im Stich gelassen worden; sie ist davongegangen in eine unüberprüfbare Welt, hat rücksichtslos Kunde gegeben von einer Bedürfnislosigkeit, die Werner zutiefst beleidigt.

Die Nacht hängt ein schwarzes Tuch hinters Fenster, so dass kein Laut mehr hereintritt. Werner streckt sich auf dem Bett aus. Er weiß nun, wie Esther gestorben ist: Es waren Zündschnüre gelegt. Plötzlich stand Esther in Flammen! Sofort versprühte der Himmel seinen Saft, der hart auf Dächer, auf aufgespannte Schirme und in den Fluss sprang, ohne das wilde Feuer löschen zu können, von dem Esther beleckt und aufgefressen wurde, bis nichts mehr von ihr übrigblieb.

Aufbruch mit drei Plüschaffen

Über Nacht ist die Welt reif geworden; ein zarter, weißer Schimmel ist auf ihr gewachsen – Frühlingsschnee. Auf den Dächern gibt’s keine Spuren von Füßen und Rädern; dort oben ist die Welt jenseits der Angst. Hier unten zählen Menschen ihre Schritte, passen Stimmen sich den Stimmen an; es gibt aber Menschen, die sich nicht an das Hiersein gewöhnen können.

Im Innern der Häuser sind die Paradiese und Höllen der Menschen aufgebaut, mit Lampenlicht beleuchtet und vor Neugierde abgeschirmt. Auf der Lampe im Wohnzimmer von Tante Martha schaukeln drei Plüschaffen, die Daniel von seiner Mutter geschenkt erhalten hat; hier wohnt auch Onkel Benno. Onkel Benno ist Gitarrenlehrer; seine Vogelbeine stecken stets in weißen, mit Benzinseife gewaschenen Hosen. Der achtjährige Daniel sagt zu ihm beispielsweise: «Du bist eine schiefhängende Hausnummer» und wartet dann ab. Onkel Benno lächelt und säuselt: «Du träumst.»

Daniels Mutter hat vor einigen Jahren Selbstmord verübt; sie sprang mit dem Fotoalbum unter dem Arm aus einem Fenster, was ein peinlicher Tod ist, den man Daniel verheimlicht, doch er weiß alle Einzelheiten, als ob er ihn inszeniert hätte. Die Türpfosten von Onkel Bennos Haus sind rosa gestrichen; oben steht «guitar shop», und im Schaufenster warten die Instrumente in Reih und Glied auf Käufer.

Daniel kommt aus der Schule; die getönten Brillengläser werfen einen gelben Schatten auf seine Wangen. Die Bläue des Himmels ist zwischen die Häuser gesunken, und von den Dächern tropft Wasser. Fremd sind die Leute, die sich auf der Straße bewegen, und fremd ist Daniel; wenn ihn Tante Martha einlässt, büßt er ein wenig von seinem Fremdsein ein. Sie öffnet sonst niemandem ihre Tür; sie hat nichts zu geben und erwartet nichts.

Heute geht Daniel an den rosa Türpfosten vorbei und weiter die Straße entlang; seine Augen sind plötzlich mit grellem Sonnenlicht gefüllt. Er hat den Eindruck, sein Gesicht habe sich in diesem beißenden Licht verunstaltet; er bedeckt es mit den Händen, um die Leute nicht zu erschrecken. Alles ist in Auflösung begriffen. Er denkt, dass Tante Martha im Bett liege und über den Föhn klage, der ihr Herz zusammenpresst, während Onkel Benno mit seinen Schülern ein Frühlingslied übt. Daniel will fortgehen, um auf einem Dach zu leben; auf dem höchsten Dach der Stadt. Als seine Mutter tot war, hatte er den Eindruck, jemand habe ihn losgeschnitten, wie man die Fäden einer Marionette durchschneidet, so dass sie leblos zu Boden fällt. Er wurde liegengelassen. Nun trägt er die drei Plüschaffen in seiner Schulmappe mit sich; er wird für sie ein Reich gründen; er wird ihr Herrscher und der Herrscher der Vögel sein, die mit den Wolken über sein Dach fliegen und grüßen.

Tante Martha kommt ihm entgegen; sie geht schief, weil sie eine schwere Einkaufstasche trägt, und wirkt wie ein drohender Schatten im Gegenlicht. Daniel versucht, seinen Unterkiefer nach hinten zu drücken, um ihr nicht zu gleichen; es ärgert ihn auch, dass er wie sie einen kleinen Buckel hat, und er bemüht sich um eine aufrechte Haltung. «Wo gehst du hin?», fragt Tante Martha; ihre haferfarbenen Au­gen blicken durch ihn hindurch. Daniel lässt die Schultern nach vorn fallen und gibt seinem Unterkiefer die alte Form.

«Du hast die Affen von der Lampe genommen», sagt Tante Martha, «in der Schule spielt man nicht mit Affen.» – «Du bist ein ausgetrocknetes Tintenfass», antwortet Daniel und wartet ab, doch Tante Martha lächelt und säuselt nicht, sondern setzt ihren Weg mit kaltem Gesicht fort; er folgt ihr.

Sechs Ecken

Helen kann den Ofen, der hinter der Tür steht, nicht heizen; der Rauch kröche zwischen den zerbrochenen Kacheln hervor, und da das Zimmer im Ganzen einen recht höflichen Eindruck macht, würde es sich nicht gegen den Rauch zur Wehr setzen, wie es sich auch nie gegen die Küchendämpfe empört hat, als Wendelin – Helens Mann – noch seine Mahlzeiten in der Küche nebenan kochte und die Tür offenstehen ließ.

Die Tür steht immer noch offen; meist vergisst Helen auch, die Wohnungstür zu schließen, denn an die Leute, die dort draußen vorbeigehen und den Türspalt ins Auge fassen, verschwendet sie keinen Gedanken. Sie sind ihr gleichgül­ti­ger als der ausgestopfte Rabe, der auf der Lehne des Kanapees steht und seine Füße betrachtet. Vielleicht träumt er von der Sonne, die ihre flammenden Wangen hinter Schleiern verbirgt und immer tiefer in den Winterhimmel sinkt.

Die Wohnung liegt im Parterre; da die Rollläden morsch und auseinandergefallen sind, schützen nur isabellfarbene Vorhänge vor der Nähe der unverständlichen Tage. Eine runde Lampe – in einer Ecke des Zimmers – schwimmt im Fensterglas, schwebt zwischen innen und außen wie ein starrer, gelber Fisch. Wendelin ist nicht mitgekommen ins Neue Jahr; er ist irgendwo im Alten geblieben – dort draußen. Helen glaubt, es sei in andern Zeiten gewesen, als er sang: «Ein Fräulein freut sich im Freuhling»; Helen saß auf dem Stuhl in der Ecke, hielt ihre Brille in den Händen, hatte das gedunsene Gesicht einer kranken Füchsin darübergebeugt und putzte die Gläser mit dem Saum ihres Kleides; sie sah das Muster des Teppichs verschwommen. Schon seit einiger Zeit kann sie nicht mehr vordringen; sie bleibt an Ort, spürt Angst, auch dieser Ort beginne wegzurücken.

Helen atmet mit geöffneten Lippen; ihre Füße sind immer kalt. Sie isst sehr viel, häuft Berge von Esswaren um sich und in sich. Sie ist eine Abtrünnige, sie versteht die andern dort draußen – auch Wendelin – nicht. Sie will nichts wissen von Schlüsseln, mit denen man an Türschlössern manipuliert, um endlich die Tür aufstoßen zu können, die den Weg versperrt hat, der wegführt. Alle wollen weg, alle gehen weg – sie bleibt. Sie hat seit einiger Zeit alle Spuren zugedeckt, alle Wegkreuzungen vergessen. Sie glaubt nur an Ecken; in einer Ecke lässt sie sich nieder, den Rücken geschützt, und kann alle andern Ecken im Auge behalten. Dieses Zimmer ist sechseckig; jeden Tag rettet sie sich in die gleiche Ecke; die Zim­merecken sind Bestandteile ihres Widerstandes.

Autos stehen mit erfrorenem Motor längs der Straßen, und der Januar pumpt kalten Atem ins Zimmer. Die Vorhänge zittern, und Helen glaubt, der Rabe habe den Käse gestohlen, denn nichts Essbares ist mehr zu finden. Sie wird verhungern in ihrer Ecke und erfrieren, aber sie bleibt sitzen, holt keine Wolldecke, füllt keine Wärmeflasche und braut keinen Tee. Eine Stimme verliert sich hinter den sechs Ecken: «Ein Fräulein freut sich im Freuhling …»

Stumm hält der Rabe den Kopf gesenkt; Helen sieht sein Gesicht nicht – nur den Nacken und die Stirn. Vielleicht träumt er, die Sonne dränge sich aus den Schleiern, und das Regenwasser blitze zwischen den Pflastersteinen und funkle, als tummelten sich Tausende von Edelsteinfüßlern, Goldflöhen und Diamantkäfern in den Straßen der Stadt.

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