Neues Vertrauen

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Ute Dombrowski

Neues Vertrauen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

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Neues Vertrauen

Ute Dombrowski

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski mit www.canva.com

Lektorat/Korrektorat: Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Zeit geht aufrecht unter ihrer Last.“

William Shakespeare, Der Sturm, 5.Aufzug, 1. Szene, Prospero

„Ich wollte mich verabschieden. Es tut mir leid, dass ich dir so viel Stress gemacht habe.“

Robert richtete sich auf und lächelte, obwohl ihm das schwerfiel.

„Ach Susanne, einerseits kann ich dich verstehen, weil ich deine Geschichte kenne, andererseits bist du nun mal Polizistin und ein Vorbild. Weißt du, wenn wir schon nicht richtig handeln, wer dann?“

Susanne drehte sich um und ging zur Tür.

„Ich hätte mich besser im Griff haben müssen. Es ist passiert und ich kann es nicht rückgängig machen, aber es ist zu spät. Ich verspreche dir, dass ich mich in diesem Kaff am Rhein unter Kontrolle haben werde. Die Versetzung ist allemal besser als eine Entlassung.“

„Ich wünsche dir nur das Beste, nette Kollegen und einen guten Start. Im Rheingau soll es verdammt schön sein, vielleicht kommt Phillip doch noch mit.“

Susannes Gesicht verdüsterte sich und sie strich sich eine Haarsträhne, die sich aus dem dicken haselnussbraunen Zopf herausgeschummelt hatte, hinter das Ohr.

„Nein, er lehnt das kategorisch ab. Er bildet sich ein, dass eine Fernbeziehung ein spannendes Abenteuer ist. Mach‘s gut, vergiss mich nicht, Kollege.“

Susanne verließ das Polizeipräsidium und als sie sich nochmal umdrehte und ihren Blick an dem alten Haus entlangschweifen ließ, machte sich große Wehmut breit. Sie seufzte, sah hinter einigen Fenstern Kollegen stehen. Niemand winkte ihr, denn sie war zum schwarzen Schaf geworden. Sie, die einen fantastischen Weg beim Sondereinsatzkommando vor sich gehabt hätte, hatte sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Selbst ihre Kollegin und Freundin Bärbel hatte ihr den Rücken zugekehrt, als sie vor einem halben Jahr in ihre Dienststelle zurückgekommen war. Niemand stand zu ihr, sollten doch die Kollegen ihre weiße Weste brav allein weiter bügeln.

Jetzt straffte sie sich und lief zu ihrem Kombi, der schon mit ihrem Hab und Gut gepackt war. Möbel wollte sie nicht mitnehmen, auch wenn ihre Mutter wochenlang mit Klebezetteln durch ihre Wohnung gelaufen war.

„Das sind Erbstücke, die musst du mitnehmen, sonst hast du gar keine Verbindung mehr zu deiner Heimat.“

„Mama!“, hatte Susanne gerufen. „Ich will nichts mitnehmen, sondern ganz neu beginnen. Alles Alte ist Ballast. Die Erinnerungen, die es wert sind und an denen mein Herz hängt, habe ich schon eingepackt. Stell dir den Rest in dein Haus, Platz genug ist ja.“

„Ach Kind, du bist dann so weit weg. Wer weiß, ob wir uns jemals wiedersehen.“

Susanne hatte mit den Augen gerollt und abgewinkt.

„Ach was, ich besuche dich und du kommst zu mir. Da soll es sehr schön sein. Rosenstadt und so.“

Ihre Mutter war mit hängenden Schultern heimgegangen und hatte dort geweint. Susannes Vater, der seit drei Jahren tot war, hätte sie in den Arm genommen.

„Lass sie, die Susi kriegt hier keinen Fuß mehr auf den Boden. Dort wird sie das alles vergessen können. Ich hätte nichts anders gemacht an ihrer Stelle.“

Gern hätte Susanne wenigstens ihre Mutter und Phillip hinter sich gewusst und konnte den Rücken gerade halten, auch wenn die Last auf ihren Schultern von Tag zu Tag gewachsen war, aber es war schwierig. Sie konnte nicht mehr rückgängig machen, was sie getan hatte, aber eine ganz tiefe, sanfte Stimme nahe ihrem Herzen hatte ihr immer wieder gesagt, dass es nötig gewesen war.

Sie startete den Wagen und ließ ihn vom Hof rollen. Plötzlich sah sie im Rückspiegel Bärbel winken. Sie stoppte am Tor.

Die ältere Polizistin kam an das Fenster auf der Fahrerseite und klopfte.

„Ich wollte noch auf Wiedersehen sagen und dir einen guten Neustart wünschen.“

„Danke, Bärbel. Halt die Ohren steif und lass dich nicht von den Kerlen ärgern.“

Sie sahen sich an und nickten sich zu. Susanne wollte in Frieden gehen und lächelte, aber in ihrem Herzen gab es einen Stich. Bärbel hatte sich offen gegen sie gestellt, da musste sie heute auch keine Freundschaft mehr heucheln. Jetzt ging Bärbel zurück und Susanne fuhr endgültig ab.

Die Autobahn war voll und Susanne kam ihrem neuen Leben nur langsam näher. Widerwillig hielt sie an einer Raststätte, weil sie auf die Toilette musste. Beim Hineingehen kam ihr ein junger Mann entgegen und musterte sie grinsend von oben bis unten. Als sie sich die Hände wusch, fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie war zwar nicht mehr zwanzig, sah aber noch jung aus. Die Gene ihrer Mutter konnten ihre Haut immer noch faltenfrei und rosig halten. Um ihre sportliche Figur beneideten sie viele Frauen Mitte dreißig. Der Kampfsport und die viele Bewegung hatten drahtige Muskeln mit sich gebracht, aber trotzdem hatte sie schöne weibliche Formen. Sie lächelte sich zu, verließ die Raststätte und fuhr weiter, ohne auf die überteuerten Speisen zu achten.

Ab und zu regnete es, dann wieder blendete sie die Sonne und irgendwann fuhr sie hinter Wiesbaden ab. Es war dunkel und so sah sie nicht den Rhein, der neben der Bundesstraße breit und behäbig dahinfloss.

„Eltville“, murmelte sie und fuhr in den Ort. „Da werde ich also arbeiten.“

 

Sie suchte den Weg nach Erbach und fand dank ihres Navigationsgerätes die Ferienwohnung auf Anhieb. Ein Briefumschlag klebte an der Tür. Er enthielt den Schlüssel, denn Susanne hatte von unterwegs angerufen, dass sie wohl erst spät eintreffen würde.

Sie riss den Umschlag auf, nahm den Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Es roch muffig, aber es war warm. Sowieso war die Luft hier ganz und gar nicht winterlich. Wenn sie daran dachte, wie ihr vor der Abfahrt in Potsdam der Ostwind um die Ohren gepfiffen hatte, dann fühlte sich das hier an wie Vorfrühling. Dabei war es eine Woche bis Weihnachten und sie hatte noch drei Tage Zeit, sich umzuschauen und dann die Dienst-Schnupperrunde anzutreten.

Erschöpft stellte sie sich unter die Dusche und fiel nach einer Banane und dem Rest aus ihrer Wasserflasche ins Bett, wo sie aber keinen Schlaf fand.

Tausend Fragen stolperten durch ihren Kopf: Wussten die Kollegen hier Bescheid? Waren die Menschen offen für Fremde oder sah man in ihr den dummen Ossi? Gab es spannende Fälle oder würde sie am Schreibtisch versauern? Würde sie je wieder Freunde finden? Wie sollte die Beziehung mit Phillip weitergehen?

Unruhig wälzte sie sich hin und her, stand nochmal auf, um auf die Toilette zu gehen und setzte sich dann auf die Bettkante. Da fiel ihr das Handy ein und sie suchte es in ihrer Handtasche.

Sie hasste diese Handtasche, die ihre Mutter ihr zum Abschied geschenkt hatte. Susannes hochgezogene Augenbrauen hatte die alte Frau einfach ausgeblendet.

„Nimm sie als ein Zeichen, dich mal ein bisschen damenhafter zu benehmen. Du musst Anschluss finden, sonst gehst du ein wie eine Primel.“

Auf dem Handy war eine Sprachnachricht: „Frau Wescham, ich bin es, Ferdinand Waldhöft, wenn Sie angekommen sind, melden Sie sich bitte bei mir, damit wir uns vorab zu einem Gespräch treffen können.“

Gespräch, dachte Susanne, der will mir Vorhaltungen machen, was ich hier alles nicht darf. Verärgert und mit einer guten Portion Angst im Gepäck warf sie das Handy in die Tasche und ließ sich zurück ins Bett fallen.

„Morgen werde ich ihn noch nicht anrufen. Übermorgen reicht. Erstmal ankommen, die Belehrungen werde ich noch früh genug hören.“

Phillip hatte sich nicht gemeldet. Der lebte wohl schon in seinem neuen Abenteuer Fernbeziehung. Sie schloss die Augen und versuchte sich ihren Freund vorzustellen. Sicher trank er gerade ein Bier und starrte auf eines seiner Bilder.

Er war einer von diesen alternativen Künstlern gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Heute war er Galerist und malte nur aus Spaß, wie er immer betonte. Sie hatte manchmal den Eindruck gehabt, er würde nur malen, um seine Zeit nicht mit ihr verbringen zu müssen. Das war nicht immer so gewesen. Am Anfang hatten sie sich wie verrückt geliebt. Nach den zwölf Jahren war die Luft raus. Es hatte nie für einen Heiratsantrag gereicht, denn Phillip wollte sich nicht den üblichen Konventionen unterwerfen und Susanne war auch nicht scharf drauf gewesen, eine verheiratete Frau zu sein.

Den ganzen Ärger hatten sie äußerst entspannt durchgestanden, denn Phillip hatte einfach keine Stellung bezogen.

„Ich urteile nicht über dich in deiner Arbeit, das machst du ja bei mir auch nicht.“

Er war jeden Abend in seinem Atelier verschwunden und am Anfang dachte sie, dass er nur nett war. Nach und nach kam Verbitterung in ihr auf, denn er machte sich nur aus dem Staub, ließ sie mit ihren Sorgen und Nöten allein. Darum hatte es sie auch nicht gewundert, dass er nicht mit nach Eltville kommen konnte und wollte.

„Sue, ich habe hier meine Welt, meine Kunst, meine Galerie, und das alles kann ich nicht einfach sein lassen, nur weil du Mist gemacht hast. Ich brauche meine Heimat wie die Luft zum Atmen und wie du deinen Job. Von mir aus hättest du auch kündigen können. Finanziell wäre das kein Problem, aber du musst ja unbedingt Bulle sein.“

Er hatte vorgeschlagen, dass sie allein geht und sie sich nur an den Wochenenden sehen. Seit sie die Strecke gefahren war, wusste sie, dass diese Beziehung zum Scheitern verurteilt war. Mit jedem Kilometer, den sie sich von der Heimat wegbewegte, entfernte sie sich auch von Phillip.

Endlich ließen sie die Gedanken los und sie fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

2

Karin öffnete die Tür und Lia kam mit einem großen Lächeln herein. Sie schüttelte sich, zog ihre Jacke aus, und folgte der Kollegin ins Wohnzimmer, in dem es kuschelig warm war.

„Wie schön, dass es heute mal geklappt hat. Wie lange haben wir uns nicht mehr getroffen?“

Karin überlegte. Sie und Lia kannten sich seit acht Jahren und arbeiteten im selben Kindergarten. Lia war vierunddreißig und vor zehn Jahren war ihr ein Hirntumor entfernt worden. Seitdem ging es ihr meistens gut, doch ab und zu machten ihr Kopfschmerzen und Sehstörungen zu schaffen. Ihr Arzt hatte diagnostiziert, dass sie unter epileptischen Anfällen litt und führte das auf die Folgen der Chemotherapie zurück.

„Das ist bestimmt zwei Wochen her. Ich bin froh, dass du da bist. Wir müssen mal wieder richtig schön schwätzen.“

„Gibt es Neuigkeiten, von denen ich nichts weiß? Hast du jemanden kennengelernt?“

Lia, die eine ungewöhnlich große schlanke Frau war, setzte sich auf und legte die Unterarme auf die Knie. Dann schaute sie Karin mit großen blauen Augen erwartungsvoll an, doch die Freundin winkte ab.

„Wie kommst du denn darauf? Nein, ich habe beschlossen, keinen Mann mehr in mein Leben zu lassen. Die nehmen und nehmen immer nur, ich bräuchte aber mal einen, der auch gibt und mich nicht nur ausnutzt.“

„Ach, meine Liebe, ich würde dir einen netten Mann von Herzen gönnen!“

„Lass uns mal das Thema wechseln. Ich habe mir etwas überlegt und brauche deinen Rat.“

„Schieß los!“

„Mein Haus ist das Beste, was mir mein Ex überlassen hat, aber eigentlich ist es zu groß für mich allein. Manchmal fürchte ich mich, wenn ich in irgendwelchen Ecken Geräusche höre. Darum habe ich mich gefragt, ob ich nicht jemanden zur Untermiete aufnehme.“

„Ja! Ja, tu das! Das ist eine gute Idee!“

Lia hatte es sich auf der großen Couch bequem gemacht. Sie schlug sich auf die Knie der endlos langen Beine, drehte dann die schulterlangen blonden Haare zu einem Knoten zusammen und strahlte.

„Das ist super, hilft gegen Einsamkeit und Angst. Einen Mann oder eine Frau?“

„Wie meinst du?“

„Ob du lieber einen Mann oder eine Frau aufnehmen möchtest?“

„Ich dachte da an dich.“

Lia schwieg. Karin war ihre Freundin und sie mochte sie wirklich sehr, aber mit ihr zusam­menwohnen? Nein, das konnte sich Lia nicht vorstellen, denn Karin hatte ein ausgesprochenes Helfersyndrom. Sie würde Lia von morgens bis abends bemuttern und dann arbeiteten sie ja auch noch zusammen. Das würde nicht funktionieren, denn Karin würde sie mit ihrer Fürsorge erdrücken.

„An mich? Da fühle ich mich sehr geehrt, aber das ist nichts für mich. Ich brauche meine Freiheit, um mich auch mal zurückziehen zu können. Sei mir nicht böse, aber das geht nicht.“

„Warum denn nicht? Ich könnte mich um dich kümmern und wenn was ist …“

„Genau da ist der Haken. Versteh mich nicht falsch, ich mag dich sehr. Aber du sagst es: Du würdest dich kümmern und mich bemuttern und alles hinterfragen und so weiter. Ich will aber, dass du meine Freundin bist, nicht meine Mutter. Mit dir will ich Spaß haben, über andere Leute lästern, über Männer quatschen. Und ich will dir von meinen Sorgen und Nöten erzählen können, ohne dass du dich verpflichtet fühlst, mir zu helfen. Du würdest ständig fragen, wie es mir geht, ob ich was brauche … nein, Süße, das kann ich nicht. Ich bin froh, dass du mein Notfallkontakt bist und dass ich mit dir immer jemanden habe, den ich rufen kann, wenn es mir gesundheitlich schlechter geht, doch du würdest auch fragen und Angst um mich haben, wenn es mir gut geht.“

Sie sah die Enttäuschung in den Augen ihrer Freundin. Karin war in ihrer Euphorie ausgebremst worden und nun sackte sie in sich zusammen. Aber sie wusste genau, was Lia meinte. Schließlich kannten sie sich sehr gut. Sie wusste auch, dass Lia ihr Verhalten einschätzen konnte und mit ihren Worten hatte sie genau das geschildert, was sich Karin in ihrer Fantasie erträumt hatte. Sie wollte sich wieder nützlich fühlen. Traurig nickte sie.

„Ich weiß, was du meinst und bin dir nicht böse, wirklich. Ich hatte nur gehofft, mit einer bekannten Person zusammen zu wohnen.“

„Das ist doch auch eine Chance! Du lernst jemanden kennen und es ist eine neue Herausforderung. Ich helfe dir gerne, einen passenden Kandidaten auszusuchen.“

„Eine Kandidatin. Ein Mann kommt mir nicht ins Haus!“

Jetzt lachten beide befreit und Karin goss sich ein Glas Wein und Lia eine Cola ein. Die Freundin trank keinen Alkohol, weil sie Medikamente nahm, die mögliche Anfälle unterdrückten, und sie wollte nicht, dass Alkohol Einfluss darauf hatte. Dann prosteten sie sich zu.

„Auf eine neue Mitbewohnerin!“

„Auf eine neue Erfahrung!“

Eine Weile sprachen sie noch über die Vorstellungen, die sie von Karins neuem Leben hatten, dann gähnte Lia.

„Wie geht es dir denn?“, wollte Karin wissen. „Jetzt haben wir den ganzen Abend nur über mich geredet. Geht es dir gut?“

Lia winkte ab.

„Ja, mit den Medikamenten geht es mir gut, aber sie machen müde. Ich habe extra vorhin noch eine Stunde geschlafen.“

„Was sagt dein Arzt?“

„Dr. Miltzer ist zufrieden. Ich bin froh, ihn zu haben und diese engmaschige Kontrolle tut mir gut.“

„Ich frage mich echt manchmal, wie er das alles abrechnet. Gehst du nicht jede Woche hin?“

„Jeden Freitag. Er fragt, wie es mir geht, misst Blutdruck und wir reden. Keine Ahnung, wie er das abrechnet, kann mir ja auch egal sein.“

Karin lachte.

„Vielleicht ist er in dich verknallt.“

„Nein, auf keinen Fall. Er ist immer sehr streng und hat niemals irgendwas getan, das auf so etwas schließen lässt. Er ist halt schon sehr lange mein Arzt. Nach der Operation hatte er direkt die Nachsorge übernommen und es gibt niemanden, der sich so für mich und meinen Fall interessiert.“

„Keine Sorge, das war nur Spaß. Wie sieht er denn aus?“

„Groß, größer als ich, graue Augen, Dreitagebart, aber gepflegt, braune Haare. Ein Typ wie viele, und er ist sehr unterkühlt. Wer ihn nicht kennt wie ich, denkt, er ist arrogant. Aber das ist nur eine Hülle. Ich denke, er ist innen drin ein warmherziger Mensch.“

„Das ist doch gut. Und schön, dass du deinem Arzt vertrauen kannst. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich. Denkst du manchmal, er will dich nur abzocken?“

„Nein, niemals. Er holt die Medikamente auch immer direkt in der Krankenhausapotheke, damit ich keine extra Wege habe, denn das Zeug ist teuer und man muss es eh bestellen.“

„Das ist aber wirklich nett von ihm.“

„Ja, leider kann das Medikament, das ich gut vertrage, nur noch mit Problemen geliefert werden. Engpass bei der Herstellung. Aber ich brauche es nun mal und es ist das einzige Medikament, das ich ohne größere Nebenwirkungen vertrage.“

„Aber es ist doch lebensnotwendig!“, rief Karin aufgebracht. „Das können die nicht machen!“

„Es ist nicht zu ändern, da gibt es noch mehr Medikamente, die nicht mehr hergestellt werden oder wo es schwierig ist, die zu bekommen.“

Karin schüttelte den Kopf und trank ihren Wein aus. Lia erhob sich und brachte ihr Glas und die leere Flasche in die Küche. Karin räumte rasch den Rest auf ein Tablett und folgte ihr.

„Mach dir keine Sorgen, Dr. Miltzer besorgt mir das schon, es ist ja nur die eine Sorte. Und wenn nicht, gibt es den Wirkstoff auch noch in anderen Pillen. Da muss ich halt mit Nebenwirkungen leben.“

Sie legte einen Arm um die Freundin. Karin lächelte, aber sie fand das immer noch schrecklich. Lia würde echt gesundheitliche Probleme bekommen, wenn sie die Medikamente nicht mehr hätte. Sie hatte ihr mal erzählt, dass ein kleiner Knoten zurückgeblieben war, der nicht entfernt werden konnte, weil er zu nah am Sehnerv lag. Die Gefahr zu erblinden wäre zu groß. Lia tat ihr zum einen leid, andererseits hatte sie einen riesigen Respekt davor, mit wie viel Ruhe sie alles ertrug.

Nun umarmten sie sich, Karin hatte ihrer Freundin ein Taxi gerufen und gab Lia ihre Jacke, als sie ein kurzes Hupen hörte. Die beiden verabschiedeten sich vor der Tür und Lia stieg ein. Karin ging zurück auf den Sessel und griff nach dem Block und dem Stift, die auf dem Tisch lagen. Sie wollte sich eine Anzeige für das WG-Zimmer überlegen und hoffte auf eine neue Mitbewohnerin.

 

„Wäre schön, wenn es schnell ginge … vielleicht bin ich zu Weihnachten nicht mehr allein.“

Dass es wirklich so schnell gehen würde, war unwahrscheinlich, denn es war nur noch eine Woche bis zu den Feiertagen, doch die Hoffnung durfte sie ja insgeheim trotzdem haben.

Der Mann, der in der Nähe des Hauses geparkt hatte, sah, wie die Tür aufging und Lia sich von ihrer Freundin verabschiedete. Er hörte ihr helles Lachen. Lia war ins Taxi gestiegen und er fuhr ihm hinterher.

„Gute Nacht, meine Schöne“, flüsterte er und lächelte.