Bis die Gerechtigkeit dich holt

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Z serii: Eltville-Thriller #2
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Bis die Gerechtigkeit dich holt
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Ute Dombrowski

Bis die Gerechtigkeit dich holt

Fall 2

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Bis die Gerechtigkeit dich holt

Ute Dombrowski

1. Auflage 2017

Copyright © 2017 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski

Lektorat/Korrektorat Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Wenn Gnade Mörder schont, verübt sie Mord.“

William Shakespeare

Romeo und Julia, 3. Akt, 2. Szene

Der Prinz

„Nein, Papa, lass, ich will nicht, dass du mir weh tust. Bitte!“, flehte Nora und versuchte, sich dem harten Griff des Vaters zu entziehen.

Das kleine Mädchen, das fünf Jahre jünger war als ihre Schwester Nora, hatte in ihrem Versteck hinter der Tür den Atem angehalten. Sie wusste, was jetzt kam. Nachdem ihr die Tasse aus der Hand geglitten war, wollte Nora fliehen. Ihr Vater zog sie an den Haaren aus dem Flur in die Küche. Der Kakao, den ihre Mutter ihnen jeden Abend kochte, bevor sie zum Nachtdienst ins Altenheim ging, hatte sich über den Boden ergossen. Sie war noch schnell nach unten in den Keller geeilt, um die Wäsche abzunehmen.

Nora hatte nach dem Abendessen, das sie schweigend eingenommen hatten, das Getränk ins Zimmer mitnehmen wollen. Sie war fünfzehn Jahre alt, sah aber aus wie eine Elfjährige. Nora war klein und schmächtig. Sie hatte eine feine weiße Haut und große blaue Augen. Ihre fast schwarzen Haare waren kurz geschoren. Die kleine Schwester dagegen hatte lange, blonde Locken, die Mutter jeden Morgen mit einem Samtband zusammenflocht. Nora war blass und zitterte am ganzen Körper, ihre Angst war schon zu einer Lebenshaltung geworden.

Das kleine Mädchen hinter der Tür hatte sich irgendwann zu fragen begonnen, warum der Papa immer nur zu Nora so böse war, aber sie hatte keine Antwort darauf gefunden. Jedes Mal, wenn ihrer Schwester ein Missgeschick passierte, wurde sie hart bestraft. Als sie Nora darauf angesprochen hatte, strich diese ihr sanft über das blonde Haar und lächelte.

„Ich bin immer so ungeschickt. Es ist alles nicht so schlimm, Engelchen, frag nicht weiter.“

Heute hatte der Kakao auf dem Boden eine Welle der Gewalt ausgelöst. Die Kleine stand ganz still hinter der Tür und sah durch den Türspalt, wie ihr Vater Noras rechtes Ohr ergriff und sie zu sich heranzog.

„Warum machst du immer, immer, immer, immer, immer wieder so eine Sauerei? Ich will, dass mein Zuhause sauber ist. Auf den Boden! Sofort! Wisch es weg!“

Seine Hand war an ihrem Ohr geblieben, das schon ganz rot war. Bei jedem „immer“ zerrte er voller Wut an dem Mädchen. Nora schrie verzweifelt. Sie kniete sich zu dem Fleck und wischte mit dem Ärmel, den sie über die Hand gezogen hatte, daran herum. Dass sie ihn so nur noch mehr verteilte, trieb den Vater zur Raserei. Er drückte Nora auf den Boden, sodass ihr Gesicht im Kakao landete. Mit einem festen Griff in ihren Nacken, zu dem er das glühend rote Ohr losließ, wischte er ihr Gesicht immer wieder über den Fleck. Das kleine Mädchen hinter der Tür hielt sich die Ohren zu. Jetzt war das Geschrei ihrer Schwester in ein Wimmern übergegangen. Plötzlich ließ der Vater los, Nora erhob sich mühsam. Sie war schmutzig, aber das war ihr egal. Sie hatte einen Entschluss gefasst.

„Du wirst mir nie wieder weh tun. Nie wieder. Nie wieder.“

Sie flüsterte diesen Satz mehr zu sich selbst, als dass sie erwartete, es würde jemand hören. Niemand hatte sie je gehört. Nicht ihre Schreie, nicht ihr Flehen um Gnade, nicht ihre Gebete, sie zu erlösen. Sie wusste, dass sie das nur selbst tun konnte.

Nora lief zum Küchenschrank und öffnete langsam die Besteck-Schublade. Sie nahm das große Fleischmesser heraus. Jetzt drehte sie sich zu ihrem Vater um. Er hatte sie gar nicht beachtet, sondern sein vor Zorn und Anstrengung gerötetes Gesicht wieder in die Tageszeitung gesteckt.

Mit festen Schritten ging Nora um den Tisch herum und rammte das Messer mit ganzer Kraft in den Nacken ihres Vaters. Dann zog sie es heraus, wobei sie vor Anstrengung zitterte, um es noch einmal von der Seite in seinen Hals zu stoßen. Der Vater hatte sich umgedreht und versuchte, nach dem Messer zu greifen, aber beim zweiten Stich sprudelte unheimlich viel Blut hervor. Der große, kahlköpfige Mann griff sich an den Hals und kippte seitlich vom Stuhl. Er zuckte noch einige Sekunden, dann lag er regungslos auf dem Boden. Die große Menge Blut breitete sich auf dem hellen Laminat-Boden aus und versuchte, in den Ritzen zu versickern, als wollte es sich vor der Grausamkeit verkriechen.

 

Nora hatte alles mit Genugtuung beobachtet. Nun atmete sie erleichtert auf.

„Nie wieder!“, sagte sie noch einmal mit fester Stimme.

Dann schaute sie aus unendlich traurigen Augen durch den Türspalt zu ihrer kleinen Schwester. Sie drehte sich um, öffnete das Küchenfenster im elften Stock des Hauses und stellte einen Stuhl unter das Fensterbrett.

„Engelchen, es tut mir leid. Ich liebe dich.“

Die Kleine sah, wie Nora auf das Fensterbrett kletterte, dann hielt sie sich die Augen zu. Als sie sie wieder aufmachte, war das Fensterbrett leer. Der Winterwind bewegte die Gardine und frische Luft strömte herein. Sie eilte ans Fenster, kletterte auf den Stuhl und schaute hinaus.

Unten auf dem Weg lag Noras eigentümlich verrenkter Körper in den Resten vom Schnee, der sich nun dunkel färbte. Sie fiel rückwärts vom Stuhl in die Küche und begann zu schreien.

2

Die junge Frau mit den blonden Haaren saß am Rheinufer in Rüdesheim und hielt ihr Gesicht in die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings. Er hatte sich Zeit gelassen und den ganzen März hindurch mit dem Winter gerungen. Nach unendlich vielen Tagen mit Schnee, Sturm, Eisregen und dunklen Wolkenbergen hatte die Wärme der Sonne den Winter be­zwungen. Von einem Tag auf den anderen war es Frühling geworden.

Die Menschen eilten mit leichten Jacken an ihr vorbei. Sie saßen auf Bänken, führten ihre Hunde spazieren oder spielten mit ihren Kindern.

Lisa hatte die Augen geschlossen. Sie war erst vor kurzem in den Rheingau gezogen. Nach der Arbeit auf dem Weg von Wiesbaden nach Hause hielt sie immer noch am Rhein an und lief den geraden, von alten Bäumen gesäumten Weg entlang. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem war sie ganz allein auf dieser Welt. Sie wusste nichts über ihren Vater oder darüber, ob sie Geschwister hatte. Sie wusste nur, dass sie vor vierzehn Jahren nach einem Unfall aus dem Koma, das sie lange Zeit mit Dunkelheit erfüllt hatte, erwacht war. Die Frau an ihrem Bett hatte geweint, als sie die Augen aufschlug.

„Wer sind Sie?“, hatte Lisa gefragt.

Die Frau schluchzte nun noch heftiger.

„Erkennst du mich nicht? Ich bin es, deine Mama. Du hattest einen schweren Unfall.“

Lisa hatte verwirrt geschwiegen. Jetzt kamen die Ärzte und kümmerten sich eilig um sie. Einer leuchtete in ihre Augen. Der nächste maß ihre Temperatur. Jemand befestigte kleine Metallplättchen auf ihrem Kopf, um die Hirnstromwellen zu messen. Sie gaben kurze Anweisungen, sprachen aber sonst nicht mit dem zehnjährigen Mädchen. Lisa begriff, wer sie war, aber alles, was vor dem Unfall lag, war in der Dunkelheit geblieben. Die Ärzte wussten auch nicht, ob sie sich irgendwann wieder an ihre Vergangenheit erinnern würde.

Sie ging mit der fremden Frau in eine Wohnung, die ihr Zuhause sein sollte und aß Essen, das ihr Lieblingsgericht sein sollte. Sie wohnte in einem ihr unbekannten Zimmer und schlief in einem fremden Bett. Der kleine blaue Bär, der im Krankenhaus neben ihr gelegen hatte, war ihr einziger Freund und Vertrauter. Mit ihm besprach sie alles, was ihr wichtig erschien.

Langsam nahm der Alltag seinen Lauf. Lisa saß in der Schule und lernte fleißig. Mit den anderen Kindern hatte sie kaum Kontakt. In den Pausen stand sie allein und unauffällig in einer Ecke des Schulhofes und war froh, dass niemand Interesse an ihr zeigte. Sie machte ein gutes Abitur, studierte mit großem Erfolg Pharmazie und hatte vor einem Jahr begonnen, in der Krankenhausapotheke zu arbeiten. Der Verlust der Mutter hatte sie nicht sehr berührt, denn die Frau mit den blonden Locken war ihr fremd geblieben. Anderen Menschen ging sie, so weit dies möglich war, aus dem Weg. Lisa war gern allein. Sie empfand das Alleinsein nicht als bedrückende Einsamkeit, sondern als friedlichen Ruhebereich für ihre Seele.

Niemand hatte ihr jemals erzählt, was bei dem Unfall geschehen war. Ihre Mutter weigerte sich. Später hatte sie es vergessen und wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, danach zu fragen.

3

Lisa war aufgestanden und wollte heimgehen, als eine Joggerin an ihr vorbeilief und wie immer freundlich nickte, wenn sie sich hier begegneten. Sie war etwa im gleichen Alter wie Lisa und trug die langen, blonden Haare zu einem Knoten verschlungen, der mit einem blauen Band zusammengehalten wurde. Lisa lief in die gleiche Richtung.

Wie immer war sie nach der Arbeit hierher gekommen und hatte ihr Auto nebenan im Wohngebiet abgestellt. Wenn es schön war, setzte sie sich noch auf immer dieselbe Bank. Zweimal hatte dort in der Mitte der drei glatten Bretter eine alte Frau gesessen und sie grimmig von der Seite angeschaut, als Lisa sich auf die Kante dazusetzte.

„Es gibt hier noch mehr Bänke, Mädchen“, hatte sie gesagt und nach links und rechts gezeigt.

„Ich sitze immer hier, das ist die schönste Bank, Entschuldigung.“

Die Frau schüttelte den Kopf, stand auf und ging. Lisa war es egal, was sie dachte und rutschte in die Mitte. Sie saß eine Weile ganz still dort und erhob sich langsam, um sich auf den Heimweg zu machen. Sie war schon in der Nähe des Autos, da fiel ihr Blick zur Seite in die Nähe eines Busches mit winzigen, grünen Blattspitzen. Die Joggerin kniete dort am Boden und redete auf ein kleines Mädchen ein.

Lisa eilte zu ihr und fragte: „Kann ich Ihnen helfen? Was ist denn passiert?“

Dann fiel ihr Blick auf das Mädchen und sie zuckte zurück. Beide Augen waren von blauen Rändern begrenzt, Nase und Lippen waren blutig und geschwollen, sie saß zusammengekrümmt am Boden und presste die Hände auf den Bauch. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Haare waren zerzaust und oberhalb der Stirn befand sich eine kahle Stelle, als hätte ihr jemand die Haare ausgerissen.

Lisa schluckte und unterdrückte die eigenen Tränen, um das Kind nicht noch mehr aufzuregen. Die Kleine musste etwa acht oder neun Jahre alt sein. Die Kleidung passte überhaupt nicht dazu, denn sie trug ein enges Kleid.

„Wer bist du denn, Kleine?“, fragte die Joggerin sanft und strich ihr über das Haar.

„Hanka.“

„Wollen wir mal zu deiner Mama gehen? Ist sie hier oder bist du ganz alleine?“

„Alleine.“

„Hast du Schmerzen?“

Hanka nickte nur.

„Kannst du aufstehen?“

Hanka schüttelte den Kopf.

Die Joggerin nickte Lisa zu, die nach ihrem Handy gegriffen hatte und den Notruf wählte. Was musste dieses kleine Mädchen für furchtbare Dinge erlebt haben? Sie war sich nicht sicher, ob sie Genaueres wissen wollte.

Zehn Minuten später kam der Rettungswagen den Weg am Rhein entlanggefahren und hielt auf dem Rasen neben dem Busch. Kurze Zeit später hielt ein Streifenwagen dahinter, denn beim Eintreffen des Notarztes hatten sich einige Schaulustige versammelt. Die Polizisten drängten die Menschen in beide Richtungen des Weges zurück. Dann traten sie zu den beiden Frauen, die etwas abseits an einem großen, alten Baum standen und die routinierten Handgriffe des Rettungsteams verfolgten. Lisa weinte nun doch noch, so erschüttert war sie.

„Sie haben die Kleine gefunden?“, fragte der junge Polizist, der jetzt auf sie zukam.

Lisa, die sich die Tränen abgewischt hatte, und die Joggerin nickten.

„Ich bin Lisa Gornst, ich komme nach der Arbeit immer hier vorbei.“

„Ich bin Kendra Thoerent, das ist meine tägliche Joggingstrecke. Was ist mit dem Mädchen passiert? Es sah so aus, als wenn …“

Sie sprach nicht weiter, am Rettungswagen wurde Hanka gerade behutsam auf eine Trage gelegt, ein Tropf war angelegt und ein Monitor maß ihre Herztöne. Die Tür des Fahrzeugs schloss sich summend und dann setzte es sich mit Blaulicht und Sirene in Bewegung. Nun kam der zweite Polizist herüber, er hatte mit dem Notarzt geredet.

„Es besteht der Verdacht auf eine Vergewaltigung und misshandelt hat man sie sehr heftig. Von Schlägen bis zum Haare ausreißen war wohl alles dabei. Die Ärzte bangen um ihr Leben, denn sie hat schwere innere Verletzungen. Sie haben das Mädchen gefunden? Wo genau?“

Kendra zeigte auf das Gebüsch.

„Sie saß wie eine Puppe am Boden, zwischen den Ästen und hat gewimmert, ich habe es nur gehört, weil ich gerade die Kopfhörer aus den Ohren genommen hatte. Als ich mich gebückt habe, kam sie herausgekrochen. Oh, mein Gott, wer tut so etwas?“

„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Haben Sie in der Umgebung etwas bemerkt? Einen Mann vielleicht?“

Lisa sagte nur: „Es war heute nicht so viel los wie sonst, die meisten Spaziergänger waren Frauen, die drei Männer mit den Hunden sind alt und auch immer hier unterwegs.“

Die Polizisten nahmen ihre Personalien auf und verabschiedeten sich.

„Wir wenden uns bei Bedarf noch einmal an sie. Drücken Sie der Kleinen die Daumen, dass sie es überlebt. Und danke, dass Sie so schnell reagiert haben.“

Sie gingen davon und die beiden Frauen blieben erschüttert zurück. Dann sank Kendra plötzlich auf die Knie und schluchzte heftig. Ihre Schultern bebten, als Lisa die junge Frau wieder hochzog und in die Arme nahm.

„Sie wird es schaffen, die Ärzte tun sicher alles für Hanka. Kommen Sie, setzen wir uns kurz auf die Bank.“

Als sie nebeneinander saßen, entschuldigte sich Kendra für den Gefühlsausbruch, aber Lisa winkte nur ab.

Sie streckte der Joggerin die Hand hin und sagte: „Ich bin Lisa. Sie sind die nette, junge Frau, die mir immer zunickt, wenn ich auf meiner Bank sitze.“

„Ich bin Kendra. Ja, ich sehe Sie immer dort sitzen und Sie sehen sehr entspannt und zufrieden aus. Wir können doch Du sagen.“

„Gerne. Was denkst du, wer Hanka das angetan hat?“

„Keine Ahnung, ich hoffe nur, hier an Rheinufer läuft kein Vergewaltiger herum, der kleine Mädchen anfällt.“

Sie verabschiedeten sich und wollten sich am kommenden Tag zu einem Kaffee treffen.

4

Die dunkle Gestalt hinter dem Baum stand vollkommen ruhig da, das einzige, was sich bewegte, war der Zeiger der Uhr, der unaufhaltsam vorwärtsstürmte. Nein, es war nicht das einzige, was sich bewegte: Das Herz klopfte der Gestalt so laut in ihrer Brust, dass es fast zersprang. Hinter ihr floss der Rhein so entspannt dahin, als ob er schon schlief.

In sieben Minuten war es soweit. Die Dunkelheit war undurchdringlich, nachdem der Mond hinter einer Wolke verschwunden war. Die Gestalt schwitzte unter der schwarzen Wollmaske, aber sie wusste nicht, ob es vor Aufregung oder Hitze war. Die Hände steckten in schwarzen Gummihandschuhen, das Messer in der Hand hatte vorhin im Mondlicht noch silbern geglänzt, aber jetzt war es genauso unsichtbar wie alles andere.

Es war kurz vor Mitternacht, in der Ferne waren Schritte von schweren, festen Schuhsohlen zu vernehmen. Die dunkle Gestalt hinter dem Baum straffte sich. Sie war bereit, den zu richten, der Unrecht begangen hatte.

Ein dicker, grobschlächtiger Mann war in seinen Umrissen zu erkennen, er näherte sich unaufhaltsam und mit eiligen Schritten dem Baum. Die Gestalt kam hinter dem Baum hervor und ließ das Messer mit der langen, scharfen Klinge auf die Person, die fast genauso groß war, niedersausen. Erschrocken fasste sich der dicke Mann an die Schulter, schaute hoch und gab der Gestalt die Möglichkeit, das Messer in voller Länge in seinen Hals zu stoßen. Mit einer kurzen, drehenden Bewegung zerriss die Klinge die Hauptschlagader und ein Schwall von Blut sprang aus der Wunde heraus.

Die Gestalt trat zurück und sah dem Todeskampf des Mannes zu. Sie nickte zufrieden und nahm die Maske ab, sie fühlte Erleichterung. Dann wandte sie sich ab. Der tote Körper des dicken Mannes blieb in der Blutlache liegen. Am Morgen wird man ihn finden, dachte die Gestalt, dann ist es endgültig vorbei. Sie holte eine winzige weiße Stoff-Rose aus der Innentasche der Jacke hervor und ließ sie auf die Leiche fallen.

Sie ging heim, unter die Dusche und ins Bett, aber sie fand keinen Schlaf. Dieser Mann hatte kein Recht zu leben. Wer so etwas tat, hatte sein Recht zu leben verloren. Niemand durfte einem Schwächeren ungestraft wehtun.

 

„Du wirst nie wieder jemandem etwas antun. Ich habe dich bestraft, weil es sonst keiner tun würde. Die Menschen schweigen, aber das ist nicht richtig!“

Ein qualvoller Schrei kam aus ihrer Brust, ein Schrei voller Erinnerungen und Leid, den niemand hörte. Die Gestalt ballte die Fäuste und versuchte zu schlafen. Als in der Ferne die durchdringende Sirene eines Polizeiautos zu hören war, das mit flackerndem Blaulicht durch das Morgengrauen raste, schlief sie endlich tief und fest.

5

„Sie ist gestorben.“

Kendra liefen die Tränen herunter.

„Oh, nein!“, rief Lisa, die wie jeden Tag auf der Bank saß.

Zwei Wochen waren vergangen, in denen sich die beiden jungen Frauen täglich sahen und meistens noch eine Tasse Kaffee im Café in der Nähe tranken. Sie hatten gehofft und gebangt und waren noch einmal von der Polizei befragt worden. Die Kommissarin war sehr einfühlsam gewesen und hatte, im Gegensatz zu ihrem Kollegen, auch nach ihrem Bauchgefühl gefragt.

„Es war niemand zu sehen, der ihr etwas angetan haben könnte, also ist es vielleicht in ihrem Zuhause passiert und dann ist sie weggelaufen und hat sich versteckt“, hatte Lisa gesagt.

„Das wissen wir nicht genau, niemand hat die Kleine irgendwo gesehen, nicht auf dem Weg, nicht im Ort. Wir kommen nicht weiter“, erklärte der blonde Kommissar sachlich. „Sie hat eine junge Mutter und einen älteren Stiefvater, also ist ein normales Familienleben wahrscheinlich. Sie sind auch nicht beim Jugendamt bekannt, also muss eine fremde Person dort gewesen sein. Bitte denken Sie noch einmal genau nach!“

„Es war wirklich nichts Besonderes. Die drei alten Herren mit den Hunden, die Frau mit dem Kinderwagen, die Joggerin. Glauben Sie mir, ich bin jeden Tag dort und mir würde ein unbekannter Mann auffallen.“

„Schade, ich habe so gehofft, dass Sie uns helfen können.“

So war Lisa wieder gegangen, auch Kendra konnte nichts Hilfreiches aussagen. Nun saßen sie hier auf der Bank und weinten gemeinsam um die kleine Hanka, die die Ärzte nicht retten konnten.

„Woher weißt du das denn?“

„Es stand in der Zeitung. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und ist vor fünf Tagen an inneren Blutungen gestorben. Die Leute von der Zeitung haben einen widerlich reißerischen Artikel daraus gemacht, aber sie haben nach Zeugen gesucht.“

„Der Kommissar hat gesagt, zu Hause war alles in Ordnung.“

„Ja“, sagte Kendra nachdenklich und wischte die Tränen ab, „das hat man bei uns auch gesagt. Mein Vater hat immer meine Stiefschwester gedemütigt und ihr wehgetan. Ich stand hinter der Tür, als sie ihm ein Brotmesser in den Hals gerammt hat. Danach ist sie aus dem Fenster gesprungen. Im elften Stock. Ich war noch klein, aber ich sehe diese Szene seit kurzem wieder deutlich vor mir.“

„Oh, mein Gott, dann muss dich das mit Hanka ja noch viel schlimmer getroffen haben. Was meinst du mit: Das haben sie bei uns auch gesagt?“

„Meine Mutter hat immer alles schön geredet und mir hat er nichts getan, weil ich sein Engelchen war. Meine Schwester Nora war wohl das Ergebnis eines Seitensprungs und er hat sie immer spüren lassen, dass sie nichts wert ist.“

„Hat dein Vater das überlebt?“

„Nein, Gott sei Dank nicht, er war ein mieses Schwein, das sich an Schwächeren vergriffen hat, aber nach außen hin war alles eine heile Welt. Ich hasse meine Mutter dafür, dass sie sich nicht gewehrt hat, dass sie meine Schwester nicht beschützt hat. Wir sind dann weggezogen. Als ich achtzehn war, bin ich weg. Das Jugendamt war zweimal da, aber die haben sich ja immer schön angekündigt und am Anfang hat er ihr auch nicht ins Gesicht geschlagen, nur dorthin, wo man es nicht sah. Und ich dachte, es ist in Ordnung so. Verstehst du? Ich war ein kleines, dummes Kind, das alles bekommen hat und ich dachte, es ist in Ordnung.“

Ein heftiger Weinkrampf schüttelte Kendra und Lisa legte hilflos den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Sie konnte sich vorstellen, was in ihr vorgegangen war, als sie Hanka gefunden und die Verletzungen gesehen hatte.

„Ich hoffe, sie finden den Täter und sperren ihn für immer ein“, erwiderte Lisa entschlossen.

„Wenn ich ihn finde, mache ich genau das, was meine Schwester mit meinem Vater gemacht hat. Er wäre davongekommen, weil niemand etwas gewusst hat. Die Opfer schweigen meist ein Leben lang. Ich habe bis vor kurzem nicht mehr daran gedacht, weil ich das Elend erfolgreich verdrängt hatte. Erst als ich Hanka so gesehen habe, kam alles wieder hoch. Komm, ich brauche jetzt einen starken Kaffee und einen Schnaps.“

Am kommenden Tag kam Kendra zu Lisas Bank gerannt und wedelte schon von weitem mit der Zeitung.

„Du glaubst nicht, was passiert ist!“

Sie ließ sich atemlos neben Lisa nieder und hielt ihr Seite eins unter die Nase. Mit großen roten Buchstaben stand dort die Schlagzeile: „Kinderschänder tot!“.

„… hier ist es: Der Stiefvater der neunjährigen Hanka W. hatte das Kind jahrelang missbraucht und geschlagen. Weil keine Anzeige beim Jugendamt gemacht wurde, blieben die Taten unentdeckt. Bei Hankas Obduktion entdeckte der Pathologe zahlreiche alte Knochenbrüche und Narben.“