Angst in Nastätten

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Angst in Nastätten
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Ute Dombrowski

Angst in Nastätten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Angst

in Nastätten

Der zweite Fall

Ute Dombrowski

Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Auflage 2019

Copyright © 2019 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski mit www.canva.com

Lektorat/Korrektorat: Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Können wir jetzt endlich essen gehen?“

„Ja, wir können.“

Nach zwei Wochen Papierkrieg war der Fall nun endgültig abgeschlossen und Undine war zum Kommissar ins Büro gegangen, nachdem sie eine Keramikschale bei einer Kundin in Sankt Goarshausen abgeliefert hatte. Im Flur war sie auf Jennifer getroffen, die gerade Feierabend gemacht hatte und auf dem Heimweg war. Die junge Kommissarin hatte sie zum Büro begleitet und durch die Tür geschoben. Wie beim letzten Mal saß Undine jetzt im Schreibtischstuhl und drehte sich, während Reiner aufräumte.

„Fahren wir an den Rhein oder nach Limburg?“

Undine hatte aufgehört sich zu drehen und sah den Kommissar ernst an. Reiner lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Wenn ich es mir genau überlege, dann möchte ich eigentlich richtig gut essen. Wie wäre es denn mit dem Bucher Hof? Das ist zwar nicht weit weg, aber auch nicht in Nastätten.“

„Damit kann ich leben. Du bezahlst. Ich bin übrigens Undine.“

„Hast du eine Ahnung, wie wenig ein Kommissar verdient?“

„Das ist mir egal, ich will dich ja nicht heiraten. Dann auf! Ich sterbe vor Hunger.“

Undine stand auf und lief voraus zu ihrem Auto, wo er ihr galant die Tür aufhielt. Lachend stieg sie ein. Der Kommissar fuhr ihr in seinem eigenen Auto nach Buch hinterher.

Reiner Nickich hatte den Fall des Toten am Bucher Pfädchen gelöst und zu seiner inneren Genugtuung gehörte auch, dass der Richtige verhaftet wurde und seine gerechte Strafe bekommen würde, nicht nur für den Mord. Die Bekanntschaft mit Undine Nithritz hatte, wie Jennifer immer sagte, etwas holprig begonnen, aber irgendwie war ihm die Frau, die so besonders war, nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und jetzt hatte sie ihn tatsächlich zum zweiten Mal im Büro aufgesucht und ihn mit ihrem Lächeln entwaffnet.

„Ich bin Reiner“, sagte er und streckte ihr auf dem Parkplatz vor dem Restaurant unbeholfen die Hand hin. „Tut mir leid, ich bin ein bisschen aus der Übung mit Nettigkeiten.“

„Das habe ich längst bemerkt, also trainieren wir das heute Abend. Kein Wort über den Fall, klar?“

„Ich habe Hunger, können wir reingehen?“, fragte Reiner grinsend.

Er lief hinter Undine her die Treppe hinauf, sprintete dann an ihr vorbei und hielt ihr zum zweiten Mal heute die Tür auf.

„Danke, Reiner, den Rest kann ich allein. Kein Stuhl ran schieben, keine tausend Fragen, ob mir irgendetwas recht ist oder nicht. Ich muss nämlich zugeben, dass ich auch nicht mehr so viel weiß über Dates. Das ist doch ein Date, oder?“

„Ja, so sagt man heutzutage dazu, glaube ich.“

Sie setzten sich an einen Tisch in einer gemütlichen Nische, die mehr einem Wohnzimmer ähnelte als einem Gastraum. Man fühlte sich unbeobachtet und hatte trotzdem einen guten Blick auf die übrigen Besucher des Bucher Hofes. Die Bedienung kam, Reiner orderte je eine Flasche Wein und Wasser und dann vertiefte er sich in die Karte. Undine tat es ihm gleich, so musste sie dem Kommissar wenigstens nicht in die Augen schauen. Sie fühlte sich wie ein pubertärer Teenager, der das erste Mal von einem Jungen eingeladen wurde.

„Wir hätten vielleicht lieber ins Kino gehen sollen“, brummte Reiner hinter der Karte. „Da kann man sich besser verstecken.“

„Hm.“

„Weißt du schon, was du isst?“

„Nein, du?“

„Ja, ich denke schon. Das Mettwörschtsche vorneweg und als Hauptgericht Jägerschnitzel, das ist was Gutes.“

„Da stimme ich dir zu“, sagte Undine und legte die Karte beiseite. „Ich nehme den Lachs und das Roastbeef. Wie lange hattest du denn keine Frau mehr?“

„Lange, sehr lange. Ich bin gerne allein, da muss man niemandem Rechenschaft ablegen, das war nämlich das Problem, das meine Ehe gegen die Wand gefahren hat. Ich musste zu jeder Tages- und Nachtzeit immer genau sagen, wo ich bin und was ich mit wem mache. Leider hält man das in meinem Job nicht so gut aus.“

„Das kann ich verstehen. Ich war auch verheiratet, aber im Leben meines Mannes gab es noch weitere Frauen, das hält man auch nicht aus. Nachdem ich es entdeckt hatte, habe ich ihn vor die Tür gesetzt und lebe von da an so, wie ich es will. Allein. Ich weiß nicht, was mich jetzt geritten hat, dass ich so einen grummeligen Kerl wie dich mag.“

Sie wird tatsächlich rot, dachte Reiner und lächelte. Diese Frau hat einen Platz in meinem Leben verdient, einen kleinen wenigstens.

„Mal sehen, ich brauche Freiraum und Unabhängigkeit, da müssen wir uns beide Mühe geben, wenn das klappen soll.“

„Wenn was klappen soll?“, fragte Undine und kniff die Augen zusammen.

„Naja, das mit den Dates und so. Ich kann es gar nicht glauben, aber ich finde dich auch ganz passabel.“

Jetzt trat die Kellnerin an ihren Tisch und nahm die Bestellungen auf. Sie zündete die Kerze an, die Reiner an den Rand geschoben hatte. Bis das Essen kam, redete Undine über ihre Töpferwerkstatt und ihre Kurse mit interessanten, kreativen Menschen und Reiner hörte aufmerksam zu.

 

„Vielleicht möchtest du auch mal etwas mit deinen Händen machen?“, hörte er Undine fragen.

„Wenn du mir hilfst, gerne. Ich habe beschlossen ein netterer Kerl zu werden.“

Reiner legte eine Hand auf die von Undine, diese zog sie aber schnell wieder weg, denn von der Tür her hörte man die laute Stimme von Günther Betzberger, der die beiden entdeckt hatte und direkt auf ihren Tisch zusteuerte.

„Na prima“, murmelte Reiner und Undine nickte unmerklich.

„So eine Überraschung! Der Kommissar! Ich habe gehört, der Fall ist gelöst? Meinen Glückwunsch, darauf müssen wir anstoßen. Fräulein, eine Flasche Sekt für unsere kleine Party!“

Undine seufzte, wusste sie doch, dass der Abend jetzt gelaufen war, denn Günther würde sich nicht abschütteln lassen. Reiner schwieg und dachte sich: Wie konnte ich nur jemals denken, dass mich irgendetwas mit diesem Mann verbindet?

2

Jennifer wendete den weißen Briefumschlag in ihren Händen. Er war an Reiner adressiert, aber nicht mit seiner Privatadresse, sondern mit der Adresse des Präsidiums. Die Kommissarin beugte ihre Nase über das Papier und schnupperte vorsichtig daran, aber es war nichts Besonderes zu entdecken. Die Aufschrift war mit einem blauen Kugelschreiber geschrieben worden. Eine Marke klebte nicht darauf, also musste jemand den Brief eigenhändig in den Briefkasten an der Front des Hauses geworfen haben.

„Ein Liebesbrief scheint es nicht zu sein“, murmelte Jennifer und legte den Umschlag auf Reiners Platz.

Sie hatte einen Bericht fertig getippt und beim Chef abgegeben. Reiner sollte sich nicht damit herumärgern, denn sie hoffte, dass er gestern Abend endlich mit Undine essen war. Bei dem Gedanken an sein Gesicht, das er gemacht haben musste, als Undine in seinem Büro aufgetaucht war, grinste sie.

„Hoffentlich haben die beiden sich zusammengerauft.“

In dem Moment wurde die Tür schwungvoll aufgerissen und Reiner stürmte in seiner üblich rasanten Art ins Zimmer. Er pfiff vor sich hin und warf seine Jacke auf den Stuhl. Dann lief er an Jennifer vorbei zur Kaffeemaschine und setzte sie in Gang.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Kollegin“, schmetterte er ihr entgegen.

„Den wünsche ich dir auch. War es denn schön?“

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie unser Abend war. Ich führe die Dame in ein schickes Restaurant, wir bestellen gutes Essen und einen edlen Wein. Wir kommen ins Gespräch und Undine gesteht mir, dass sie mich mag, da geht die Tür auf und Günther Betzberger stürmt herein, setzte sich an unseren Tisch, redet den ganzen Abend ununterbrochen über den Fall und das war es dann. Nichts mit Romantik und so. Als er endlich weg war, war auch die Stimmung futsch. Egal, es war trotzdem nett. Was ist das denn?“

„Trefft ihr euch wieder?“

„Wir wollen telefonieren.“

„Gut, das ist ein Anfang. Der Brief hat heute Morgen im Postfach gelegen. Kein Absender und er riecht nach nichts.“

„Wie sollte denn ein Brief riechen?“

„Nach Parfüm zum Beispiel. Heiße Liebesgrüße von Undine oder so.“

„Quatsch.“

Reiner nahm einen Bleistift und öffnete den Umschlag. Ein schmales weißes Blatt Papier kam zum Vorschein. Es war mit derselben Schrift und mit blauem Kugelschreiber eng beschrieben. Der Kom­missar las schweigend, dann reichte er das Blatt kopfschüttelnd über den Tisch.

„Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt.“

Jennifer las laut: „In einem Haus in Nastätten befindet sich eine Überraschung für euch. Merkt euch: In einem Stein, den ihr nicht finden werdet, in einer Mauer, die ihr nicht kennt, in einem Haus, das ihr nicht benennen könnt, befindet sich eine Sprengladung. Wenn sie explodiert, werdet ihr diese Stadt verlassen müssen, denn das, was in der Bombe ist, wird euer Trinkwasser für alle Ewigkeit verseuchen. Wer davon trinkt, wird sterben. Versucht nicht, nach dem Stein zu suchen, denn auch, wenn ihr ihn entdeckt habt, wartet die zweite Überraschung auf euch: In einem weiteren Stein, den ihr nicht finden werdet, in einer Mauer, die ihr nicht kennt, in dem Haus, das ihr nicht benennen könnt, ist ein Sender. Wenn ihr die Bombe aus dessen Reichweite entfernt, wird sie ebenfalls explodieren. Ihr glaubt mir nicht? Dann lasst euch überraschen.“

„So ein Blödsinn. Es ist unfassbar, worauf die Leute kommen, wenn sie Langeweile haben. Schmeiß den Mist weg und dann fangen wir mit unserer Arbeit an. Das Protokoll muss fertiggemacht werden.“

„Das Protokoll liegt schon oben.“

„Oh, vielen Dank.“

„Wir müssen den Brief ernstnehmen.“

„Es ist MEIN Brief und so einen Quark darf man nicht ernstnehmen. Gib her!“

Reiner nahm den Brief, ohne ihn noch einmal zu lesen und warf ihn in den Papierkorb.

„Ich lasse mir doch von einem Spinner keine Angst machen. Und jetzt sag mir, was anliegt. Was war denn noch mal mit dem Diebstahl des Bootes am Hafen?“

„Reiner, du kannst diesen Brief nicht einfach wegwerfen. Wir müssen ihn wenigstens in die Spusi bringen.“

„Papperlapapp, ich fahre jetzt zu dem Bootsbesitzer. Wenn du mitkommen willst, dann los.“

„Ich muss noch auf einen Rückruf wegen der Schlägerei am Bahnhof warten.“

Reiner griff nach seiner Jacke, verabschiedete sich und verließ pfeifend den Raum. Jennifer wartete, bis sie ihn nicht mehr hörte und ging zu seinem Schreibtisch. Sie nahm den Briefumschlag aus dem Papierkorb, strich den Briefbogen mit dem Ärmel glatt, steckte ihn zurück in den Umschlag und versteckte ihn in ihrem Schreibtisch.

3

Jasmin saß weinend vor der Remise und zitterte am ganzen Körper. Auf dem Tisch lagen ein weißer Umschlag und ein weißes schmales Blatt, eng beschrieben mit blauem Kugelschreiber. Es war niemand zuhause, nur Zorro hockte neben ihr und sah sie an. Er legte eine Pfote auf ihren Oberschenkel, als wolle er sie trösten.

Sie streichelte den Hund und sagte: „Du passt auf mich auf, ich weiß. Wo bleibt nur Undine? Sie wollte schon längst wieder hier sein.“

Zorro bellte kurz und legte sich auf Jasmins Füße. Undine war zu einem Töpferkurs in die Schule gefahren. Das war ein neues Projekt und sie hatte sich entschieden, wieder regelmäßig mit den Kindern zu arbeiten. Der Unterricht endete kurz vor vier Uhr, aber jetzt war es schon fast fünf.

Jasmin, die seit einigen Tagen beim Optiker arbeitete, war eben heimgekommen und hatte die Post durchgesehen. Ein weißer Umschlag mit ihrem Namen, auf dem keine Briefmarke klebte, hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Wer hatte ihr denn da eine nette Einladung in den Kasten geworfen?

Nachdem sie den Brief gelesen hatte, war sie weinend auf die Bank gesunken. Da wollte jemand Nastätten, ihre Heimatstadt, ins Verderben stürzen. Aber warum hatte ausgerechnet sie diese Nachricht bekommen? Sie sah noch einmal die Post durch. Nein, Undine hatte keinen solchen Brief erhalten.

Jasmin war hier aufgewachsen, aber ihre Mutter war bald sehr krank geworden. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Vor ein paar Jahren war ihre Mutter, die sie lange gepflegt hatte, an Krebs gestorben.

Jetzt öffnete sich die Tür und Undine kam mit Lene herein. Sie trugen eine Tüte mit frischen Brötchen vor sich her und waren guter Dinge.

„Entschuldige, meine Liebe, dass wir so spät sind, wir wollten pünktlich kommen, aber dann haben wir Karla getroffen und uns festgequatscht“, sagte Undine.

Lene setzte fort: „Ach, wenn du wüsstest, wie gut es Karla und Lina geht, nur Julius kann nicht so gut damit umgehen, dass er jetzt keinen Vater mehr hat. Sag mal, was ist denn mit dir los? Hast du geweint? Du zitterst ja!“

Undine legte die Brötchen auf den Tisch und setzte sich zu Jasmin. Lene nahm gegenüber Platz.

Undine fragte leise: „Hast du eine schlimme Nachricht erhalten? Ist jemand gestorben?“

Jasmin schüttelte den Kopf und schob das Blatt Papier über den Tisch. Undine las genau denselben Text vor, den auch Reiner und Jennifer heute Morgen gelesen hatten. Dann ließ sie das Papier sinken und die drei Frauen schwiegen betroffen. Lene öffnete die Brötchentüte, holte eines heraus und biss hinein. Sie aß immer, wenn sie verwirrt war.

„Und was jetzt?“, fragte Jasmin in die Stille.

Undine nahm den Poststapel und blätterte ihn durch.

„Für mich ist so ein Brief nicht gekommen.“

„Ich weiß, ich habe schon nachgeschaut. Lene, du musst heimgehen und nachsehen, ob du auch Post hast.“

Lene nickte und lief mit dem Brötchen in der Hand nach Hause. Fünfzehn Minuten später war sie wieder zurück und zitterte nun genauso wie Jasmin.

„Ich habe auch einen. Warum bekommen wir denn solche Post? Ist irgendwo ein Absender drauf? Erkennst du die Schrift? Will uns da jemand veräppeln oder in Angst versetzen?“

Undine schlug auf den Tisch und rief: „Polizei! Wir brauchen die Polizei. Ich rufe sofort Reiner an. Wir wollten sowieso telefonieren, nachdem uns Günther das Essen gestern Abend versaut hat.“

Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wählte Reiners Nummer.

„Hallo, hier ist Undine. Kannst du schnell herkommen? Jasmin und Lene haben einen schlimmen Brief erhalten und wir haben Angst.“

Am anderen Ende wurde gesprochen.

„Denkst du wirklich?“

Wieder wurde gesprochen.

„Na, wenn du meinst, dann werfen wir die Dinger in den Müll. Bis bald. Jasmin, Reiner sagt, wir sollen die Briefe wegwerfen und uns keinen Kopf machen.“

Jasmin schaute ihre Mitbewohnerin entgeistert an.

„Was? Ich kann den doch nicht wegwerfen und einfach zur Tagesordnung übergehen. Was ist, wenn das wahr ist, was dort steht? Oh mein Gott, wir können doch nicht durch die Stadt rennen und jeden Stein in jedem Haus ansehen!“

„Das stimmt“, erklärte Lene, die sich wieder im Griff hatte, „wir müssen planvoll vorgehen. Ich denke, es ist mal wieder Zeit für Detektivarbeit.“

Undine nickte. Im Gegensatz zu Reiner fühlte sie, dass sie den Brief ernstnehmen sollten. Sie mussten dem Kommissar mit Argumenten kommen, um ihn zu überzeugen. Vielleicht würde es auch Sinn machen, wenn sie zuerst mit Jennifer reden würden, denn dem Spürsinn der Frau traute sie mehr als Reiners rationalem Männerverstand.

Jasmin hatte die beiden entsetzt angesehen und rief jetzt: „Nicht schon wieder! Es geht um das Leben aller Nastätter, da könnt ihr nicht so tun, als wäre es ein Spiel. Und Lene … wie kannst du so ruhig bleiben? Hast du denn gar keine Angst? Was haben wir getan, dass wir so einen Brief bekommen?“

Lene antwortete gelassen: „Es nützt ja nichts, wenn wir uns verrückt machen. Auf deine Frage kann ich nur sagen: Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Also denke ich, es ist Zufall, dass ausgerechnet wir so einen Brief bekommen haben.“

In diesem Moment betrat Herbert den Hof durch den Vordereingang, was Zorro zu lautem Gebell animierte. Er rannte dem Besucher entgegen und stoppte erst, als Undine ihn zurückrief.

„Herbert“, rief sie, „du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

„Oh, es ist furchtbar! Seht mal, das habe ich heute in der Post gefunden.“

Er legte den Brief, den er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. Lene und Jasmin schoben ihren dazu.

„Ihr auch?“

„Reiner hat gesagt, wir sollen den Brief wegwerfen“, erklärte Undine, „aber wir haben beschlossen, selbst nachzuforschen. Herbert, kremple deine Ärmel hoch und hilf uns.“

„Ich weiß nicht, wenn der Absender des Briefs dahinter kommt, wird es vielleicht gefährlich für uns.“

„Aber Herbert!“, riefen Undine und Lene gleichzeitig.

„Woher soll er das denn wissen?“, fragte Lene.

„Na, er weiß doch, wer wir sind, sonst hätte er uns nicht geschrieben.“

Nun mischte sich Jasmin wieder ein: „Herbert hat recht. Er kennt euch. Und wenn ihr ihm hinterher schnüffelt, sprengt er euch ganz sicher in die Luft.“

Undine schüttelte den Kopf, Herbert nickte und rutschte ein Stück zu Jasmin. Er griff nach einem Brötchen und knabberte daran. Seine Gedanken kreisten um die Bombe, die womöglich in seinem Haus war.

„Du musst dir ja keine Sorgen machen“, sagte er zu Undine, „mit deinem Fachwerkhaus.“

„Der Sockel ist gemauert.“

„Hast du mal geschaut, ob irgendwo etwas verändert ist?“

„Nein, noch nicht. Aber das wäre mir sicher schon längst aufgefallen.“

Lene stand auf und lief mit wachem Blick langsam an Undines Haus entlang. Sie verschwand für einen Moment durch das große Tor und kehrte kopfschüttelnd zurück.

 

„Da ist nichts.“

Herbert flüsterte: „Wissen wir denn, wann die Bombe versteckt wurde?“

„Nein“, erwiderte Undine, „aber ich lebe hier schon ewig, das hätte ich bemerkt. In meinem Haus ist nichts eingemauert. Schluss damit! Es gibt so viele neue Häuser in Nastätten, da ist es viel leichter, etwas in einem Stein zu verstecken.“

„Dann lass uns etwas essen und danach einen Spaziergang machen!“, forderte Lene die drei anderen auf.

„Ohne mich!“, lehnte Jasmin ab und auch Herbert schlich wieder heim.

4

„Was ist das denn?“, brummte Günther Betzberger.

Er hatte die Post aus dem Kasten genommen und den weißen Umschlag ohne Briefmarke direkt aufgerissen. Er kramte die Lesebrille aus der Hosentasche und las. Jupp Fröbel, der Nachbar, der ebenfalls an seinem Briefkasten stand, grinste.

„Na, Herr Betzberger, ist es ein Haftbefehl?“

„Nein, du Klugscheißer. Ein Haftbefehl ist meistens rosa. Und der Schwachsinn hier ist weiß.“

„Warum Schwachsinn?“

„Es geht dich zwar nichts an, aber es ist eine Bombendrohung.“

Jupp begann zu lachen.

„Wer droht Ihnen denn?“

Günther zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, der Brief hat keinen Absender und keine Unterschrift. Da war wohl jemandem langweilig. Hast du auch einen?“

Der Nachbar blätterte seine Post durch und schüttelte den Kopf.

„Das sind nur Rechnungen. Der Absender wird sich schon etwas dabei gedacht haben, ausgerechnet Ihnen eine Bombendrohung zu schicken. Sie haben es sich nun mal in kürzester Zeit mit vielen hier im Ort verscherzt.“

„Ach was. Ihr seid einfach Mimosen.“

„Was soll denn in die Luft gesprengt werden? Ihr Haus?“

„Nein, Nastätten. Also juckt mich das nicht. Aber es ist sicher ein dämlicher Scherz von so einem Lackaffen von Nachbarn.“

Günther sah sein Gegenüber arrogant an, hob die Nase noch ein wenig höher und stapfte auf seinen Hof. Dort warf er die Post auf die Schwelle der Hintertür und startete die Säge. Dass es gerade ein Uhr war, störte ihn überhaupt nicht.

Jupp rollte mit den Augen und ging ins Haus. Wenig später hörte man, wie er alle Fenster schloss, obwohl es brütend heiß war. Die Sonne brachte alles zum Glühen und ein Gewitter würde heute Abend sicher die Luft reinigen. Es war seit Tagen richtiges Sommerwetter, was die meisten Menschen für Juni schon zu heiß fanden. Jetzt ratterten überall die Rollläden herunter.

Günther hatte während seiner Arbeit keine Gedanken mehr an den Brief verschwendet, aber als er sich nach zwei Stunden in den Schatten setzte und einen Eistee trank, fiel ihm die Drohung wieder ein.

„Diesem Witzbold werde ich es zeigen“, rief er, boxte in die Luft und nahm sein Handy.

„Hallo, Polizei?“, fragte er. „Ich bin Günther Betzberger aus Holzhausen, Lindenstraße. Ich habe heute einen Brief mit einer Bombendrohung für Nastätten bekommen. Den Penner, der den geschrieben hat, möchte ich wegen Belästigung anzeigen.“

Am anderen Ende war Reiner und hörte schnaufend zu.

„Ich bin Kommissar Nickich, wir haben uns gestern gesehen. Wann haben Sie den Brief bekommen?“

„Also der war heute im Postkasten, aber er hatte keine Briefmarke. Mein Spürsinn sagt mir, dass den jemand persönlich eingeworfen hat.“

„Warum werfen Sie das Ding nicht einfach in die Papiertonne?“

„Das mache ich noch, aber ich fühle mich belästigt. Sicher war das irgendein Nachbar, dem meine Nase nicht passt.“

„Haben Sie eine spezielle Person in Verdacht?“

„Keine Ahnung, ich bin mit keinem meiner Nachbarn befreundet. Die alten Spießer hassen mich. Aber vielleicht war es auch diese Anna, die mir immer noch nicht alle Schlüssel ausgehändigt hat. Die hat sowas Nerviges, Hartnäckiges. Und der ihr Mann ist auch net ohne. Sieht aus wie ein Waldschrat mit seinem Bart. Denen traue ich alles zu!“

„Wollen Sie tatsächlich, dass ich gegen die beiden eine Anzeige aufnehme?“

„Ja, nein, keine Ahnung. Ach was, lassen wir das. Die Bombe kracht eh in Nastätten und das kann mir auch egal sein, oder?“

„Wie Sie meinen, Herr Betzberger. Wenn Sie möchten, können Sie uns den Brief auch vorbeibringen, dann machen wir ein Protokoll.“

Jetzt lachte Günther laut los.

„Sie spinnen wohl? Ich fahre doch wegen dem Wisch net extra nach Sankt Goarshausen. Wenn Sie den haben wollen, kommen Sie vorbei!“

„Danke für die Information, Herr Betzberger.“

„Wollen Sie gar nicht wissen, was drin steht?“

„Wollen Sie mir alles vorlesen?“

Günther schnaufte und las den Brief langsam vor. Reiner sagte nichts weiter, aber es war schon merkwürdig, dass ausgerechnet dieser Günther Betzberger genau denselben Brief bekommen hatte wie er selbst. Und dazu kam der von Undines Freundinnen. Was war hier los? Hatten etwa noch mehr Leute diesen Unsinn geschickt bekommen?

Nachdem sie aufgelegt hatten, nahm Günther den Brief noch einmal und las.

„Wie der schon schreibt … ist bestimmt ein Studierter … so eine gestelzte Sprache. Klingt schon ein bisschen nach Lehrer. Oder Lehrerin.“

Er kniff die Augen zusammen. Wenn Anna Keusert oder ihr Mann hier nochmal auftauchen würden, dann würde er ihnen auf den Zahn fühlen. Jetzt war er sich vollkommen sicher, dass der Brief von den letzten Bewohnern seines Hauses kam. Wütend warf er alles in eine Ecke und streckte seine Beine aus.

„Die sehen keine andere Möglichkeit mehr, als mich mit solch einem Kram unter Druck zu setzen. Und sicher stecken die Nachbarn mit unter deren Decke. Ich mache denen die Hölle heiß!“

Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, griff er erneut zur Säge. Jupp hatte sich nach der Mittagsruhe auf den Weg gemacht, den anderen Anwohnern in der Umgebung von der Neuigkeit zu berichten.

„Kein Wunder“, sagte eine ältere Dame drei Häuser weiter. „So ein Ekel hätte einen Denkzettel verdient.“

Vor dem alten Dorf-Bäcker hatten sich mehrere Leute versammelt und sprachen über das Wetter.

„Gude, Jupp. Was schleichst du denn hier herum?“, fragte ein alter Herr mit Hut und Dackel.

„Ich wollte ein Brot holen.“

„Es ist noch Mittag und geschlossen. Seit wann gehst du einkaufen? Das macht doch sonst die Hilde? Ist sie etwa krank?“

„Nein, es ist alles in Ordnung. Hast du schon gehört? Der Günther Betzberger hat eine Bombendrohung geschickt bekommen.“

„Na, das ist ja mal eine gute Nachricht“, sagte der alte Herr mit einem schelmischen Grinsen. „Wenn ich die Säge schon höre, möchte ich mich aufregen. Und dabei ist mein Gehör nicht mehr das Beste. Woher weißt du das denn?“

„Wir waren gleichzeitig am Briefkasten und er hat laut geflucht. Bestimmt hat er die Polizei angerufen, obwohl er das Ganze für einen Scherz hält.“

„In der heutigen Zeit macht man darüber doch keine Scherze!“, mischte sich nun eine weitere Passantin ein, die bisher schweigend zugehört hatte.

„Wer weiß, wer ihm den bösen Streich gespielt hat“, sagte Jupp und wanderte weiter, um seine Neuigkeiten zu verbreiten.

Günther sägte nach einer Tasse Kaffee weiter, bis in der Ferne der Donner grollte.

„Na endlich, diese Hitze hält ja kein Mensch aus.“