Der Fall des verschlüsselten Briefes

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Z serii: Enola Holmes #6
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Der Fall des verschlüsselten Briefes
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Titel der Originalausgabe:

The case of the gypsy good-bye. An Enola Holmes Mystery

Zuerst erschienen in den USA bei Philomel Books, einer Marke

der Penguin Young Readers Group

Copyright © Nancy Springer 2010

Copyright Coverillustration © Hugh D’Andrade

Coverdesign: Jeanine Henderson

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

Umschlagadaption: Fabian Arnet, Knesebeck Verlag

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-590-4

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de


Für meine Mutter.

Inhalt

Juli 1889

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Juli 1889

»Mister Sherlock, ich bin ja so froh, Sie zu sehen, das können Sie mir glauben! Und Ihnen so verbunden …« Mrs Lane, die treue Angestellte im Hause Holmes, die den großen Detektiv schon als kleinen Buben in kurzen Hosen gekannt hat, kann sich weder das Zittern in der Stimme noch die Tränen in den trüben alten Augen verkneifen. » … so verbunden, dass Sie gekommen sind …«

»Unfug.« Sherlock Holmes, der wie üblich vor jeder Zurschaustellung von Gefühlen zurückschreckt, mustert die dunklen Holzvertäfelungen von Ferndell Hall. »Ich freue mich über die Gelegenheit, mein Geburtshaus wieder einmal aufzusuchen.« Gekleidet in Garderobe, die sich für einen Sommer auf dem Land ziemt (beiger Leinenanzug, leichte beige Lederstiefel und Handschuhe, Deerstalker-Mütze), legt er Handschuhe und Mütze, ebenso seinen Gehstock auf den Tisch des Empfangszimmers und macht sich augenblicklich an die Arbeit. »Mr Lanes Telegramm war recht geheimnisvoll. Himmel, was hat dieses Päckchen denn so Ungewöhnliches an sich, dass Sie sich nicht trauen, es zu öffnen?«

Bevor sie darauf eine Antwort geben kann, kommt ihr Gatte, der weißhaarige Butler, ins Empfangszimmer geeilt, und zwar mit reichlich wenig seiner gewohnten Würde. »Mister Sherlock! Oh, haben Sie vielen Dank!« Und noch einmal muss der große Detektiv so ziemlich dieselbe Leier über sich ergehen lassen. » … Trost für meine alten Augen … so ungeheuer gut von Ihnen … ein sehr warmer Tag – darf ich davon ausgehen, Sir, dass Sie im Freien Platz nehmen möchten?«

Also platziert man Sherlock Holmes gastfreundlich auf die schattige Terrasse, wo eine Brise in dieser Hitze für Abkühlung sorgt, während Mrs Lane eisgekühlte Limonade und Makronen serviert. Erst dann gelingt es Holmes, die Sprache wieder aufs Wesentliche zu bringen.

»Lane«, fragt er den altehrwürdigen Butler, »was genau finden Sie und Mrs Lane an dem Paket, das Sie erhalten haben, denn nun so alarmierend?«

Jahrzehntelang darin geübt, Ordnung in einen chaotischen Haushalt zu bringen, antwortet Lane mit Methode: »Zunächst und vor allem, Mister Sherlock, aufgrund der Art und Weise, wie es bei uns ankam, nämlich mitten in der Nacht, ohne dass wir wissen, wer es überbrachte.«

Zum ersten Mal macht der große Detektiv keinen vollkommen gelangweilten Eindruck und beugt sich in seinem gepolsterten Korbstuhl vor. »Wo wurde es abgestellt?«

»Vor der Küchentür. Wäre Reginald nicht gewesen, hätten wir es überhaupt erst am nächsten Morgen gefunden.«

Der zottelige Collie, der ganz in der Nähe auf der Seite liegt, hebt den Kopf, als er seinen Namen hört.

»Wir lassen ihn jetzt drinnen schlafen«, erklärt Mrs Lane, während sie sich mit ihrer ausladenden Figur auf einem anderen Stuhl niederlässt, »immerhin kommt er allmählich in die Jahre, genau wie wir.«

Reginald legt den Kopf wieder ab und klopft mit dem wedelnden Schwanz auf die Holzdielen der Terrasse.

»Vermutlich hat er gebellt?« Allmählich verliert Sherlock Holmes die Geduld.

»Oh, wie ein Tiger hat er gebellt, und wie!« Mrs Lane nickt bekräftigend. »Trotzdem hätten wir ihn wahrscheinlich nicht gehört, hätte ich nicht auf dem Sofa in der Bibliothek geschlafen – Sie verzeihen, Mister Sherlock. Nur sind die Stufen für meine Knie so eine Plage.«

»Ich war allerdings in unserem ordentlichen Quartier«, sagt Lane betont, »und bekam von all dem nichts mit, bis Mrs Lane mir läutete und mich zu sich rief.«

»Hat die Küchentür angesprungen und wie ein Löwe gebellt, der Gute!« Vermutlich redet Mrs Lane von dem Hund. Ihre aufgeregten Kommentare stehen in auffälligem Kontrast zu dem bedächtigen Bericht ihres Gatten, vor allem, wenn man bedenkt, dass weder Tiger noch Löwen überhaupt bellen. »Ich hatte Angst, etwas zu unternehmen, bis Mr Lane runterkam.«

Sherlock Holmes lehnt sich in seinen Stuhl. Seine greifvogelartigen Gesichtszüge nehmen den typischen Ausdruck von Enttäuschung über die Torheit der Menschen an. »Als Sie also schließlich nach dem Rechten sahen, fanden Sie ein Päckchen, aber keine Spur von der mysteriösen Person oder den Personen, die es dort zurückgelassen hatten, um … Wie spät war es?«

Lane antwortet: »Zwanzig nach drei am Donnerstagmorgen, oder so in etwa, Mister Sherlock. Ich ging nach draußen und habe mich umgesehen, aber es war finstere Nacht, bewölkt und nichts zu entdecken.«

»Natürlich. Also holten Sie das Päckchen ins Haus, öffneten es aber nicht. Warum nicht?«

»Diese Freiheit würden wir uns nie erlauben, Mister Sherlock. Außerdem ist dieses Päckchen in mehrerlei Hinsicht merkwürdig, wenngleich es sich schwer in Worte fassen lässt.«

Mr Lane ist drauf und dran, dennoch den Versuch zu wagen, es in Worte zu fassen, doch Sherlock Holmes hebt herrisch eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Ich werde mir ein eigenes Bild machen. Seien Sie so gut und bringen Sie mir dieses geheimnisvolle Päckchen.«

Weniger ein Päckchen als vielmehr ein flacher, übergroßer Umschlag aus schwerem braunem Papier, das man zusammengeleimt hat, ist es so leicht, dass sich im Innern nichts zu befinden scheint. Doch was darauf abgebildet ist, bringt sogar Sherlock Holmes zum Staunen. Jeder Zentimeter der Umschlagvorderseite ist bedeckt von grobschlächtigen Verzierungen, ganz in Schwarz. Alle vier Kanten des Rechtecks sind mit dicken Linien eingefasst, zickzack-, spiral- und schlangenlinienförmig. Schräg in den Ecken sitzen intensiv umrandete mandel- und kreisförmige Ornamente, die den Betrachter wie primitive Augen anstarren.

»Machen mir eine Gänsehaut, die Dinger«, sagt Mrs Lane dazu und bekreuzigt sich.

»Höchstwahrscheinlich ist eben dies ihr Zweck. Doch wer …?« Sherlock Holmes lässt die Frage auf seinen Lippen ersterben, während er die anderen Muster auf dem Umschlag betrachtet: grobschlächtige Zeichnungen von Vögeln, Schlangen, Pfeilen, Tierkreiszeichen, Sternen, Mondsicheln und strahlenden Sonnen füllen jeden Fleck Papier, als hätte der Künstler Angst gehabt, Platz für etwas anderes zu lassen – abgesehen von einem großen Kreis, direkt in der Mitte des Umschlags. Scharf umgrenzt von mehreren Reihen aus überkreuzten Linien, erscheint dieser Teil auf den ersten Blick leer. Doch Sherlock Holmes, der seine Lupe hervorgeholt hat, um den Umschlag Millimeter für Millimeter zu untersuchen, konzentriert sich auf dieses Zentrum mit einer Intensität, die selbst für ihn bemerkenswert ist.

Nach einer Weile legt er die Lupe beiseite, scheinbar ohne zu merken, dass er sie auf dem Teller mit Makronen platziert, und setzt sich mit dem Umschlag im Schoß hin. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, auf die Eichenwälder von Ferndell.

Sherlock Holmes blinzelt, beäugt den schlafenden Hund und wendet sich dann an den Butler und dessen Frau. »Hat einer von Ihnen beiden«, fragt er, »die Bleistiftzeichnung bemerkt?«

 

Merkwürdig formell, ja direkt vorsichtig, antwortet Mr Lane: »Ja, Sir, haben wir.«

»Meine alten Augen haben sie völlig übersehen«, sagt Mrs Lane, als würde sie eine Sünde beichten, »bis Mr Lane sie mir im Morgenlicht gezeigt hat. Auf dem braunen Papier ist sie schwer zu erkennen.«

»Ich vermute, es war leichter, bevor jemand sie so krude mit den Kohlezeichnungen eingefasst hat.«

»Kohle?«, rufen Butler und Köchin gleichzeitig.

»Unverkennbar. Bei näherer Betrachtung sieht man die Körnung und wo sie verschmiert wurde. Kohlepulver hat die Zeichnung, die meiner Überzeugung nach zuerst angefertigt wurde, fast gänzlich ausgelöscht. Und was die Zeichnung selbst angeht – was halten Sie davon?«

Mr und Mrs Lane wechseln einen betretenen Blick, bevor Mr Lane antwortet: »Eine äußerst hübsche, feine Darstellung einer Blume –«

»Eines Stiefmütterchens«, wirft Sherlock recht schroff ein.

»… inmitten eines grünen Kranzes.«

»Efeu«, sagt Sherlock noch barscher. »Und erkennt einer von Ihnen rein zufällig die Hand des Künstlers?«

Schweigen. Beide Lanes wirken äußerst unglücklich.

»Nun«, sagt Mrs Lane schließlich, »es erinnert mich an …« Doch woran, das scheint sie nicht über die Lippen zu bringen.

»Das zu entscheiden steht uns kaum zu, Mister Sherlock«, sagt Mr Lane flehend.

»Ach, nun kommen Sie.« Sherlocks Tonfall offenbart einen höchst launischen Geisteszustand. »Sie beide wissen so gut wie ich, dass dieses Bild von meiner Mutter gezeichnet wurde.«

Er redet von Lady Eudoria Vernet Holmes, die nun seit beinahe einem Jahr vermisst wird, obwohl man nicht davon ausgeht, dass ein Verbrechen vorliegt. Scheinbar ist die ältliche Exzentrikerin einfach ausgebüxt.

Und kurz nach ihr lief auch ihre Tochter, Sherlocks wesentlich jüngere Schwester Enola Eudoria Hadassah Holmes fort, die gerade erst vierzehn Jahre alt ist.

Nach einer beträchtlichen Pause fragt Mrs Lane zögerlich: »Mister Sherlock, hören Sie hin und wieder etwas von Lady Holmes oder Miss Enola?«

»Ah.« Sollte der große Detektiv bei Erwähnung des Namens seiner Schwester eine seltsame Konstellation von Gefühlen verspüren, so zeigt sich zumindest keines davon in seinem habichtartigen Gesicht. »Ja, ich habe Enola mehrere Male in London getroffen, jedoch nie zu meiner Zufriedenheit.«

»Doch es geht ihr gut?«

»Es geht ihr unerhört gut. Und zu Anfang schien sie mit ihrer Mutter unter einer Decke zu stecken. Sie kommunizierten mithilfe verschlüsselter Botschaften in den Kleinanzeigen der Pall Mall Gazette

Mrs Lane blickt zu Mr Lane, der sich räuspert, bevor er einen Vorstoß wagt. »Sie haben diesen Code entschlüsselt?«

»Mehrere Codes. Selbstverständlich habe ich sie entschlüsselt. Das heißt, alle außer einem, aus dem ich einfach nicht schlau werde.« Dieses Eingeständnis verschärft den Tonfall des großen Detektivs. »Dennoch kann ich unmissverständlich versichern, dass der Codename meiner Mutter Stiefmütterchen und der meiner Schwester Ivy ist, was Efeu bedeutet.« Mit ausgestrecktem Finger tippt er auf die blasse Bleistiftzeichnung auf dem Umschlag in seinem Schoß.

Mr Lane und Mrs Lane schnappen beide so heftig nach Luft, dass Collie Reginald sein Schläfchen aufgibt, sich auf seine vier weißen Pfoten erhebt und den schlauen Kopf reckt, die Ohren spitzt und die Nase schnuppernd in die Luft hält.

»Reginald.« Sherlock spricht den Hund so voller Ernst an, als würde er den Fall Watson darlegen. »Monatelang gab es keinerlei Nachricht von Lady Holmes. Warum meldet sie sich ausgerechnet jetzt, noch dazu auf diese Art?« Seine schlanken Finger vollführen einen Trommelwirbel auf dem braunen Papierpäckchen. »Und was befindet sich darin?«

Mr Lane bietet an: »Soll ich einen Brieföffner holen, Sir?«

»Nein. Ich kann es nicht öffnen.« Ein Gentleman würde sich im Traum nicht einfallen lassen, in der Post eines anderen zu schnüffeln. »Es ist für Enola bestimmt.« Sherlock Holmes steckt seine Lupe ein und erhebt sich, ebenso wachsam wie der Hund an seiner Seite. Ganz wie ein Bluthund, der eine Fährte wittert. »Ich werde es mit nach London nehmen und ihr überbringen.«

Mr Lane und Mrs Lane, die ebenfalls aufgestanden sind, blicken ihn an. Der Butler bringt ihre Zweifel zum Ausdruck: »Aber Mister Sherlock, wissen Sie denn, wie Sie sie finden können?«

»Ja.« Mit einem Funkeln in den Augen lässt sich der Detektiv beinahe zu einem Lächeln herab. »Ja, ich glaube schon.«

Kapitel 1

Als ich an jenem schicksalhaften Morgen mein Büro betrat (genauer gesagt, das Büro von Dr. Leslie T. Ragostin, Wissenschaftlicher Perditor, meinem erdachten Arbeitgeber), trug ich ein maßgeschneidertes Prinzesskleid aus gerippter Seide in Mistelzweig-Grün mit einem breiten Kragen aus Organzaseide. Auf meiner geschmackvollen rotbraunen Frisur (Perücke) saß ein passender Hut und am üblichen Finger ein Ehering.

»Guten Morgen, Mrs Jacobson!«, rief der Hauspage, der mir die Tür aufhielt.

»Guten Morgen, Joddy!« Ich lächelte, ja strahlte sogar. Endlich, nach einem Monat, hatte der schlichte Bursche es geschafft. Was für ein Unterschied zum ersten Morgen, als ich in einem maßgeschneiderten Kleid (pflaumenfarbener Musselinstoff mit Besätzen aus Filethäkelei) und mit dem Ring erschienen war!

»Von nun an haben Sie mich Mrs Jacobson zu nennen«, hatte ich »Dr. Ragostins« versammelten (und verblüfften) Angestellten streng erklärt: Mrs Fitzsimmons, der Haushälterin, Mrs Bailey, der Köchin, und Joddy. »Mrs John Jacobson.« Ich streckte ihnen die linke Hand hin, damit sie meinen Ehering in Augenschein nehmen konnten, den ich in der Nacht zuvor in einer Pfandleihe erstanden hatte.

»Verdammt!«, platzte Joddy heraus und machte unter dem lächerlichen Hütchen, das Pagen zu tragen hatten, große Augen. »Gold, nich wa? Echtes Gold?«

»Äh, Glückwunsch«, sagte Mrs Fitzsimmons. »Verzeih’n Sie uns die Überraschung, aber Sie ham uns ganz schön kalt erwischt.«

Nicht halb so kalt, wie es mich erwischt hatte. Doch selbstverständlich konnte ich ihnen nicht erklären, wie ich über Nacht aus dem East End hatte fliehen und alle von Ivy Meshles Kleidern von der Stange zurücklassen müssen, mitsamt den vulgären blonden Haarteilen und dem billigen Schmuck, weil mein Bruder Sherlock während der Affäre um Lord Whimbrel und den rätselhaften Reifrock zu viel über mich erfahren hatte. Ich wusste, ich musste in eine neue Identität schlüpfen.

»Sie haben keins der üblichen, äh, Anzeichen an den Tag gelegt«, führte Mrs Fitzsimmons weiter aus.

»Blödsinn!«, entfuhr es der wesentlich direkteren Köchin, Mrs Bailey. »Ihr Mr Jacobson, der is doch vom selben Schlag wie Ihr Dr. Ragostin, oder nich?«

Die anderen zwei sahen sie mit offenem Mund an. Dies war das erste Mal, dass einer von ihnen es gewagt hatte, mir so etwas ins Gesicht zu sagen und auf die Größenordnung meiner Erfindungen anzuspielen, das weiße Lügengespinst, auf dem meine Karriere aufgebaut war. Gewiss hätte ich sie einen Kopf kürzer machen sollen. Doch wie sie so dastand, wie ein aufgeplusterter Igel, amüsierte sie mich derart, dass ich in schallendes Gelächter ausbrach.

Die drei glotzten mich an, was kein Wunder war. »Wahr und tapfer gesprochen, Mrs Bailey«, krähte ich, noch immer lachend, während ich mich langsam erholte. »Nun sagen Sie mir: Bezahlt man Sie hier gut? Werden Sie gut behandelt? Arbeitet es sich gut hier?«, fragte ich sie der Reihe nach und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Jeder nickte eifrig, vielleicht, weil sie an den außerordentlich großzügigen Weihnachtsbonus denken mussten, den ich in der Weihnachtszeit verteilt hatte.

»Nun dann«, fuhr ich fort und schaute diesmal vor allem Mrs Bailey an, »wie lautet mein Name?«

Zweifellos im Nachhinein dankbar dafür, dass ihr Ausbruch ihr keine Kündigung eingehandelt hatte, antwortete sie wie eine Mitverschwörerin: »Sicher, ja doch. Und Sie heißen … heißen … Himmel, ich hab’s vergess’n!«

»Mrs John Jacobson.« Ein Allerweltsname, sodass mein frei erfundener Gatte keinesfalls derselbe John Jacobson sein musste, den jemand derer, die meinen Weg kreuzten, kennen mochte.

Sie knickste sogar vor mir. »Ja, Ma’am, Mrs Jacobson.«

»Sehr gut. Mrs Fitzsimmons?«

»Meinen herzlichst’n Glückwunsch, Mrs Jacobson.«

»Ich danke Ihnen.« Nicht nur mein Erscheinungsbild hatte sich verändert, ich gestattete mir zudem einen aristokratischeren Akzent. »Joddy?«

»Äh, was immer Sie sagen, gnäd’ge Frau. Mrs Jacobson.«

»Gut. Und zufälligerweise bin ich nicht länger Dr. Ragostins Sekretärin, sondern seine Assistentin.«

»Ganz recht, Mrs Jacobson«, stimmten sie alle meiner eigenmächtigen Beförderung zu.

»Eigentlich wird es keinen Unterschied machen«, gab ich zu. »Gehen Sie einfach wie gewohnt Ihren Pflichten nach.«

Und ohne Weiteres taten sie genau das. Mir war bewusst, dass sie mit den anderen Dienstboten der Nachbarschaft tratschen würden. Zum Glück jedoch lag diese Nachbarschaft weit entfernt, sowohl von Sherlock als auch von Mycroft, und was ein noch größeres Glück war: Keiner meiner Brüder beschäftigte Dienstboten. Dennoch seufzte ich auf, besorgt darüber, eine geflüsterte Bemerkung könnte deren unerwünschte Aufmerksamkeit wecken.

Als jedoch der Juni dem Juli wich, wurde meine Sorge kleiner. Der einzig denkwürdige Vorfall war, dass ich in meiner neuen Unterkunft tatsächlich einmal ausreichend aß, sodass mein Gesicht und andere Teile meines Körpers etwas rundlicher ausfielen und ich auf einige der üblichen Polster verzichten konnte. Ich hatte mir ein teures Zimmer im Club für Arbeitende Frauen genommen, in dem ich Mitglied war und auf dessen Grund und Boden Männer unter keinen Umständen Zutritt hatten. Ich fühlte mich dort sicher. Dies und mein verändertes Aussehen wiegten mich in einer Behaglichkeit, die schon bald auf ihr selbstgefälliges kleines Hinterteil purzeln sollte.

Jedoch erst, als es zu einem interessanten Ereignis kam.

Kapitel 2

Kaum, dass ich an dem bereits erwähnten schicksalsschweren Tag, an dem ich das mistelzweiggrüne Kleid trug, in Dr. Ragostins Büro ankam, klingelte es an der Tür. Es klingelte und klingelte und klingelte weiter, als handelte es sich um einen Feueralarm. »Hilfe! Um Himmels willen, so helfe mir doch jemand!«, rief ein Mann mit aristokratischem, melodramatischem, ja beinahe opernwürdigem Tonfall. Mit britischer Zurückhaltung hatte dies nun wirklich nichts zu tun. »Beeilung!« Entdeckte ich in seiner tiefen Stimme nicht den Anklang eines fremden Akzents?

»Meine Güte, Joddy«, wies ich den erschrockenen Jungen von meinem Schreibtisch aus an, »nun öffnen Sie schon die Tür!«

Sobald er dies getan hatte, konnte ich den brüllenden Mann auch sehen. Sein verzerrtes, hochrotes Gesicht erschien lächerlich eingeklemmt zwischen seinem glänzenden Zylinder und dem gestärkten Kragen, der Seidenkrawatte und dem Ausgehmantel. Als er in mein Büro und auf mich zu marschierte, während ich aufstand, um ihn zu begrüßen, brachte der Fremde mit offensichtlicher Mühe Mäßigung in sein Gesicht. Ein durchaus attraktiver junger Lord war er, wenn auch auf eine wilde Art und Weise, sodass ich unwillkürlich an Brontës Heathcliff denken musste. »Ist Dr. Ragostin da?«, wollte er wissen wie jemand, der zwar beinahe seinen Verstand, nicht jedoch seine Manieren verloren hatte: Er zog den Hut, wobei er Haare zum Vorschein brachte, die nahezu so schwarz waren wie die eines Raben.

»Leider nicht. Und wir erwarten ihn auch nicht in naher Zukunft zurück.« Mein damenhaftes Kleid aus gerippter Seide und Organza machte deutlich, dass ich mehr als eine einfache Angestellte war, was mir entsprechendes Selbstbewusstsein verlieh. »Als Dr. Ragostins persönliche Assistentin kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen. Bitte nehmen Sie Platz.«

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, als wäre er am Rande der Erschöpfung. Auf beinahe wundersame Weise, bedachte man seine übliche Unfähigkeit, kam Joddy mit einer Karaffe eisgekühlten Wassers auf einem Tablett herbei. Ich goss ein und der Mann nahm sein kaltes Getränk dankbar an, zweifellos sowohl um sich zu beruhigen als auch um seiner heiseren Kehle etwas Gutes zu tun. In der Zwischenzeit nahm ich meinen Platz hinter dem Schreibtisch wieder ein.

 

»Ihr Name, wenn ich bitten darf?«, begann ich, Stift und Papier im Anschlag.

Seine Augenbrauen, schwarze Rabenflügel, schossen in die Höhe. »Meine Gattin, keine Geringere als die dritte Tochter des Earl von Chipley-on-Wye, ist auf unerklärliche Weise und unter höchst seltsamen Umständen verschwunden. Die Polizei besteht aus unfähigen Tölpeln und ich weigere mich, auch nur eine weitere Sekunde mit lächerlichem Firlefanz zu vergeuden. Ich würde viel lieber mit Dr. Ragostin persönlich sprechen.«

»Selbstverständlich. Nichtsdestotrotz bin ich auf ganzer Linie autorisiert, in Notfällen die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Also bitte, ich muss die Fakten notieren. Ihr Name?«

Kerzengerade richtete er sich auf seinem Stuhl auf, wie eine Fahne, die gehisst wurde. »Ich bin Duque Luis Orlando del Campo von königlichem katalanischem Blut.«

Ah! »Du-ke« ausgesprochen – ein spanischer Herzog! »Es freut mich, Ihnen zu Diensten sein zu dürfen, Euer Gnaden«, rezitierte ich automatisch. Wie jedes britische Schulkind waren auch mir die Ränge des Adels eingebläut worden: König, Herzog, Marquess, Earl, Baron. Angeredet werden diese: Euer königliche Hoheit, Euer Gnaden, Lord, Lord und Lord. Für Seltsamkeiten wie Kaiser, Grafen, Ritter, jüngere Söhne und dergleichen zog man ein Buch über Etiquette zurate. »Und was –?«

»Meine Duquessa«, unterbrach er mich mit noch mehr Eindringlichkeit, »ist die edle Lady Blanchefleur, weltbekannt für ihre zarte Schönheit, eine zierliche Blüte auf einem zerbrechlichen Staubfaden der Weiblichkeit.«

»Sehr wohl«, murmelte ich, reichlich sprachlos über seine poetische Beschreibung, auch wenn der Name seiner Frau auf Französisch tatsächlich »weiße Blume« bedeutete. »Und das Unglück von Euer Gnaden ist es, dass die Duquessa vermisst wird?«

»Sie wurde auf unerklärliche Weise entführt, zumindest glauben wir das, als sie mit ihren Hofdamen ihren täglichen Spaziergang genoss.« Nun war seine Haut unter dem schwarzen Haar recht blass geworden.

»Und in etwa zu welchem Zeitpunkt ereignete sich dieser grässliche Vorfall?«

»Etwa um zwei Uhr, gestern Nachmittag.«

Dann hatte er höchstwahrscheinlich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Kein Wunder, dass er etwas überreizt erschien. »Und wo kam es dazu?«

»Als sie sich in der Nachbarschaft von Marylebone die Füße vertraten. Baker Street, glaube ich.«

»Ah«, brabbelte ich. »Hm.« Baker Street! Wo mein geliebter und vortrefflicher Bruder Sherlock residierte, womit ich ihm im Rahmen dieses Falls gefährlich nahe kommen könnte. »Äh. Baker Street. So, so. Und wo in der Baker Street genau?«

»Am Dorsett Square …«

Oh weh. Schrecklich nah an Sherlocks Wohnung.

»… wo es angeblich eine Haltestelle der Untergrundbahn gibt.« Der Duque sprach das Wort Untergrundbahn mit der typischen Abneigung eines Gentlemans aus, der von dieser neumodischen, dunklen und ungesunden Art der Fortbewegung nichts hielt, da für gewöhnlich nur die niedrigen Klassen Londons billigste Transportform nutzten. Obwohl die Lokomotiven ihren Rauch in Kammern hinter den Triebwerken lagerten und nur in Belüftungsschächten abließen, die zu eben diesem Zweck angelegt worden waren, stank es im Untergrund nicht nur nach Qualm und Abgasen, sondern obendrein überwältigend nach ungewaschener Menschheit.

Nutzte mein Bruder Sherlock je die Untergrundbahn? In keinem von Dr. Watsons Berichten hatte ich gelesen, dass der große Detektiv einmal einen Fuß in den Untergrundbahnhof gesetzt hätte, der so praktisch nur einen halben Block von seiner Unterkunft entfernt gelegen war.

»Bitte, Euer Gnaden«, drängte ich meinen aristokratischen Klienten, »erzählt mir genau, was sich zugetragen hat.«

»Lächerlich und unnütz!« Duque Luis Orlando del Campo hob abwehrend beide Hände, die in hellem Ziegenleder steckten. »Ich kann diese Geschichte unmöglich länger wie ein Papagei wieder und abermals wiederholen. Ich verlange, dass Sie Dr. Ragostin rufen!«

Ich will dem geneigten Leser die zahlreichen Schmeicheleien, Beruhigungsversuche, Wassergläser und die Zeitverschwendung ersparen, die es mich kostete, bis ich ihm einen verwirrenden Bericht entlockt hatte. Zusammenfassend soll genügen, dass seine Gattin, Ihro Gnaden, die Duquessa, aus unbekannten Gründen in die Unterwelt des Baker-Street-Untergrundbahnhofs hinabgestiegen war. Eine ihrer Hofdamen hatte den Mut, sie zu begleiten. Die andere wartete oben am Eingang. Schließlich war die erste Hofdame höchst verstört die Treppen wieder hinaufgerannt. Wo war die Duquessa? Anschließend gingen beide hinunter, um sie zu suchen, jedoch ohne Ergebnis. Die hochwohlgeborene Schönheit Blanchefleur del Campo war wie vom Erdboden verschluckt.

Wie überaus faszinierend. »Die Polizei hat die Suche aufgenommen, vermute ich?«

Er hob das wild entschlossene, verzweifelte Gesicht. »Ja, sie haben nach ihr gesucht, aber keine Spur von ihr gefunden.«

»Könnte sie einen anderen Ausgang genommen haben?«

»Man hat mir versichert, dass es keinen zweiten gibt. Es ist lächerlich anzunehmen, sie könnte auf den Gleisen spazieren gegangen sein.«

Lächerlich, in der Tat, würde man nicht nur in den Genuss der Gesellschaft von Ratten kommen, sondern auch das Risiko eingehen, von einem herannahenden Zug überfahren zu werden. »Könnte sie aus irgendeinem Grund in einen der Züge gestiegen sein?«

»Als sie verloren ging, passierte kein einziger Zug den Bahnhof. Was das angeht, schwören es beide Hofdamen hoch und heilig, und der Fahrplan der Untergrundbahn bestätigt es.«

»Dennoch, wäre die Duquessa am Bahnsteig geblieben oder die Treppe heraufgekommen, hätten die beiden sie gesehen.«

»Ganz genau! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit! Ich weiß nicht mehr ein noch aus.«

»Haben Sie eine Lösegeldforderung erhalten?«

»Noch nicht. Ich wage zu behaupten, dass dies noch eintreten wird. Nicht nur ich bin gut gestellt, auch ihr Vater, der Earl – sehr reich –, dennoch ist solch eine bizarre Entführung unvorstellbar. Unvorstellbar! Wie hat man sie fortgebracht? Ohne gesehen zu werden? Wo doch niemand sich hätte denken können, dass sie einen solchen Ort überhaupt betreten würde – allein eine fixe Laune kann sie dazu bewogen haben!«

»Was für eine Laune könnte das gewesen sein, Euer Gnaden?«

»Das hat mir bisher niemand zu meiner Zufriedenheit erklären können. Die Hofdamen der Duquessa verfallen in Hysterie, sobald ich sie befrage, und der Polizeiinspektor hat ebenso wenig etwas Vernünftiges aus ihnen herausgebracht. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Ich glaube, ich verliere selbst noch den Verstand! Ich habe mich bereits an Mr Sherlock Holmes gewandt …«

Welchen Satz mein Herz tat!

»… doch er befindet sich derzeit an irgendeinem lächerlichen Ort auf dem Lande und wird erst heute zurückerwartet. Genau genommen …«

Der verstörte Duque Luis Orlando del Campo zog eine prächtige Golduhr aus seiner Weste und warf einen Blick darauf. »Er sollte in diesem Moment bereits auf mich warten. Ich muss los.« Er stand auf. »Wenn Sie Dr. Ragostin bitte ausrichten –«

»Euer Gnaden, ich bin gewiss, der Doktor«, unterbrach ich ihn mit fester Stimme, wenngleich meine Gedanken Purzelbäume schlugen, »wird mit den Hofdamen Eurer Gattin sprechen müssen.«

»Beide stehen vollkommen neben sich.«

»Absolut verständlich. Dennoch muss man sie befragen. Doch wenn sie sich schon nicht Euch oder dem Polizeiinspektor anvertrauten, werden sie erst recht nicht mit einem fremden Mann reden.«

»Wahr. Wie wahr«, murmelte er verzweifelt, während seine wilden Blicke im Zimmer umherschweiften und schließlich an mir hängen blieben, als hätten sie Erleuchtung gefunden. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie, eine Frau, sie befragen würden? Wären Sie damit einverstanden?«

»Selbstverständlich.« Ich unterdrückte es, ihm dazu zu gratulieren, so schlau auf die Lösung gekommen zu sein, auf die ich ihn hatte stoßen wollen. »Eure Adresse, Euer Gnaden?«