Glashütte

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Peter Sagmeister war seit knapp drei Jahren Leiter der Innenrevision. Vor seiner Zeit war „Erbsenzählerverein“ unter den Mitarbeitern der Amicus AG der gängige Sprachgebrauch für diese wichtige Einrichtung gewesen. Wiewohl die Versicherungsbranche relativ wenig mit Hülsenfrüchten zu tun hat. Ja, schon, die Ernteversicherungen der Bauern, aber da werden auch nicht einzelne Erbsen gezählt.

Von Beginn an hatte Sagmeister unermüdlich gepredigt, dass er die Rolle der Innenrevision anders als üblich sehe, was ihn bei vielen in den oberen Rängen der Hierarchie gleich mal verdächtig erscheinen ließ. Nicht die des Beckmessers, der Fehler zählt, sondern eine helfende, eine Rolle einer Art unternehmensinternen Unternehmensberatung. Oha, was ganz Neues!

Viel Überzeugungsarbeit erst einmal bei seinen vier Mitarbeitern. Ist ja nicht so einfach, vom „Auf die Finger klopfen“ wegzugehen und auf einmal argumentieren zu müssen, wie es vernünftiger geht. Wo kommt man denn da hin?! Na gut, zwei ließen sich davon nicht überzeugen und wanderten in andere Abteilungen ab. Dafür hatte er Ersatz bekommen, Magistra Elisabeth Olbrich, eine „frisch Gfangte“ – wie man in Wien zu sagen pflegt, wenn jemand nach Abschluss einer Ausbildung ins Berufsleben eintritt – Absolventin der Wirtschaftsuniversität und einen männlichen Kollegen namens Roderich Hagenmüller, bisher Schadensreferent. Beide jung, 24 die Dame und 26 der Herr, engagiert und ganz auf Sagmeisters Linie.

Auch in den anderen Abteilungen der Amicus AG hatte seine Philosophie Anklang gefunden. Macht ja schon was her, wenn da einer nicht sozusagen von Amts wegen recht hat, sondern auf das eingeht, was man selbst denkt. Am wenigsten positiv war das noch beim obersten Chef Dr. Klein angekommen, der ihm sogar einmal empfohlen hatte, seinen Job ordentlich zu machen. Ohne dieses ordentlich irgendwie zu konkretisieren. Oder vielleicht überhaupt konkretisieren zu können? Aber der kurze Ferdl war ja ohnehin so gut wie Geschichte.

Peter Sagmeister war also mit dem Leben und seiner Arbeit durchaus zufrieden. Überdies sah er heute einem Heurigenabend mit zwei alten Freunden entgegen und war soeben dabei, seinen Arbeitstag zu beenden und sich gebührend auf diesen erfreulichen Abend einzustimmen. Wozu nicht ganz das Läuten des Telefons passte. Fast reflexartig hob Sagmeister ab und verfluchte sich umgehend für diesen Fehler. Am Apparat war Engelbert Weiss, der Abteilungsleiter der Buchhaltung, ein begnadeter Pedant, staubtrocken wie Saharasand, hundertprozentig humorbefreit, ein Mensch, der Sagmeister immer schon unsympathisch gewesen war. Was nebenbei gesagt intensiv auf Gegenseitigkeit beruhte. Und von einem Engel hatte der schon gar nichts! Eher etwas von einem Türsteher zur Vorhölle. Viel weiter hätte es wahrscheinlich da unten auch nicht gereicht, da es ja in der Hölle angeblich lustig zugehen soll. Und zum Lustig sein fehlten ihm, wie schon erwähnt, die wichtigsten Anlagen.

„Gehn’s Herr Sagmeister, kommen’s auf Weisung von Herrn Generaldirektor Sichrovsky schnell mal ins Büro vom Generaldirektor! Wir haben da was für Sie. Und es ist wichtig und dringend!“. Muss wirklich ganz dringend sein, dachte Sagmeister, wenn Weiss nicht einmal die Zeit zu grüßen fand. Oder war das nur ein Ausfluss seiner schlechten Manieren?

„Ihnen auch einen guten Tag, Herr Weiss!“ Zu mehr kam er nicht, da hatte dieser schon aufgelegt.

Wenn Kleins Nachfolger Sichrovsky ‚dringend und wichtig‘ nach ihm verlangte konnte das nur Unangenehmes bedeuten.

Trotzdem räumte er noch in aller Ruhe seinen Schreibtisch auf und begab sich dann gemächlich um zwei Stockwerke tiefer. So viel Zeit zum Überlegen durfte er sich schon nehmen. Vielleicht könnte er sich noch schnell von Kleins Sekretärin Barbara Richter ein paar Hintergrundinformationen holen, mit ihr hatte er sich immer gut verstanden.

Aber im Sekretariat wartete schon Engelbert Weiss und keine Frau Richter war zu sehen. Aus dem Zimmer von Klein, jetzt bald das von Sichrovsky drang Stimmengewirr. Ach ja, die Abschiedsfeier! Peter Sagmeister war zwar auch eingeladen gewesen, hatte sich aber entschuldigt. Der Heurigentermin mit seinen Freunden war da eindeutig die angenehmere Veranstaltung gewesen.

Mit den Worten „Warten Sie, ich hole Sichrovsky heraus, er will mit Ihnen allein sprechen“, verschwand Weiss und wenig später kam Sichrovsky aus dem Generaldirektorzimmer in das Sekretariat und überschüttete, ebenfalls grußlos, den hierher Zitierten mit seiner Geschichte.

Unangenehme Situation, das Abschiedsgeschenk für Dr. Klein sei verschwunden, Frau Richter übrigens auch. Die Sache solle in Absprache mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden diskret untersucht und nach Möglichkeit das Abschiedsgeschenk wiedergefunden werden. Frau Richter übrigens auch. Ach ja, es handle sich um eine wertvolle Uhr der Marke Glashütte, die Rechnung und das Echtheitszertifikät liegen ja noch da auf Frau Richters Schreibtisch, die Schatulle dazu habe Dr. Klein symbolisch für die Uhr bekommen. Und, bitte, keine Polizei! Sollte sich die Uhr nicht wieder finden lassen sei abgesprochen, dass sie von der Amicus AG ersetzt werde.

Geneigter Leser! Dieser Roman spielt in Wien und es scheint daher angebracht, einen kurzen Ausflug in die wienerische Sprachlehre zu machen. In der Wiener Umgangssprache gibt es die Vorsilbe Scheiß-, die nicht unbedingt ordinär ist. Ja gut, manchmal schon. Sie drückt aus, dass das beigefügte Wort zwar eine grundsätzliche Bedeutung hat, aber eher das Gegenteil wahr ist. Im „Wörterbuch des Wiener Dialekts“ von Julius Jakob (herausgegeben – und das möge man sich auf der Zunge zergehen lassen – in der Editrice „Casa del Libro“ des Dott. Gustavo Brenner, Cosenza1961. Für Leser, deren Geographieunterricht schon länger zurückliegt: Cosenza liegt in Kalabrien, also relativ weit weg von Wien.) werden übrigens ganze 15 Worte mit dieser Vorsilbe angeführt. Mag für 1961 stimmen, inzwischen sind es gefühlt mindestens doppelt so viele.

Ist also beispielsweise jemandem etwas scheißegal so ist dies mitnichten unbedeutend. Sonst würde derjenige einfach sagen „Das ist mir egal“.

Ein anderer, geradezu klassischer Ausdruck ist, jemand ist scheißfreundlich. In vorher erwähntem Wörterbuch liest man dazu:

„scheißfreundlich – überfreundlich, oft in Verbindung mit Falschheit“

Ein anderes wichtiges Wort aus der Wiener Umgangssprache im Zusammenhang mit der Erzählung der aktuellen Gegebenheiten ist „Krätzn“. Abgeleitet von der Krätze, also einer unangenehmen und durchaus verzichtbaren Hautkrankheit bezeichnet es in Wien einen unangenehmen Menschen. Eben unangenehm wie die Krätze.

Ende des sprachlichen Exkurses

Sichrovsky erläuterte also Peter Sagmeister die Situation, der sich sofort dachte:

„Die Krätzn ist scheißfreundlich!“

Ostösterreicher werden das verstehen, für andere: „Der Ungustl macht auf liebenswert!“

Für unsere deutschen Freunde: „Dieser schlimme Mensch heuchelt ja nur!“

Auf die Übersetzungen bei den internationalen Ausgaben dieses Romans ist der Autor schon gespannt.

Für Peter Sagmeister war also klar, dass da etwas faul an der Sache war. Wenn Sichrovsky sich so freundlich gab – was seinem Wesen diametral widersprach – war anzunehmen, dass er selbst in irgendeiner Form am Problem beteiligt war. Ihn zu fragen in welcher Art war aber sicher sinnlos. Der erste Ansatz war wohl, Barbara Richter zu finden. Sagmeister konnte sich nicht vorstellen, dass sie die Uhr gestohlen hatte und sich auf der Flucht befand. Dazu kannte er diese immer korrekte Frau zu gut. Aber wo war sie?

Sichrovsky hatte ihn längst stehen gelassen und sich wieder in die Feier integriert. Nun gut, es war fast 17:00 Uhr, bei näherer Überlegung war heute ohnehin nichts mehr auszurichten. Der beste Zeitpunkt, seine Freunde beim Heurigen zu treffen.

Obwohl, der Abend war ihm irgendwie verdorben und auch seinen Freunden fiel auf, dass Peter erstens eher schweigsam war und sich noch dazu auch relativ früh verabschiedete. Anlass für ausgedehnte Spekulationen, wer wohl die neue Freundin sein mochte und wann man sie kennenlernen würde.

Als Peter Sagmeister seine Wohnungstüre aufsperrte saß dahinter sein langhaariger Kater Julio. Rassekater, Britisch-Kurzhaar. Nun ja, da war ein bisschen Zuchtfehler dabei, die langen Haare waren in der Rasse, Kurzhaar eben, nicht so richtig vorgesehen. Da aber bei der Zucht wegen der Fellqualität immer wieder mal Perser eingekreuzt werden schlägt halt gelegentlich der Perser durch. Was Peter aber egal war, auf Ausstellungen und zu Wettbewerben wollte er mit Julio sowieso nicht gehen, für ihn war Julio ein angenehmer Hausgenosse und oft auch guter Zuhörer, wenn Peter über irgendwelche Probleme sinnierte.

Heute, im Moment, aber nicht. Julio maunzte empört und sein Blick hätte eine Maus oder sonstiges Beutetier zur sofortigen bedingungslosen Aufgabe, wenn nicht Selbsttötung veranlasst. Mist, über die ganze Glashütten-Uhren-Richter-Geschichte hatte Peter vergessen, am Weg zum Heurigen kurze Station zu Hause zu Julios Abendfütterung zu machen.

Zwanzig Minuten später war der Friede wiederhergestellt. Julio lag eingeringelt neben Peter auf der Couch, der ihm, einen letzten Gespritzten vor sich, von der verschwundenen Uhr und den Begleitumständen erzählte. Vom CD-Player her klang die erste Symphonie von Gustav Mahler. Klassische Musik war ein fester Teil des Abendrituals Peter Sagmeisters.

Ob das Schnurren des Katers in irgendeinem Zusammenhang mit der Erzählung stand kann nicht sicher beantwortet werden. Vermutlich lassen sich aber seine Gedankengänge in etwa so zusammenfassen: ‚Ein wenig vergesslich war er ja schon immer wieder einmal, aber wenigstens lässt er mich nicht wirklich verhungern. Geschmeckt hat es heute auch wieder. Und offenbar hat er wieder irgendwelche Probleme, na hören wir es uns einmal an.‘

 

Sichrovsky beendete seinen Tag in Zufriedenheit und auch Peter Sagmeister fand den Tagesabschluss angenehm. Der Heurigenbesuch mit seinen Freunden war zwar weniger positiv verlaufen, aber im Zwiegespräch mit Kater Julio hatte er über die verschwundene Uhr, die an der Sache Beteiligten und seine nächsten Schritte einiges mehr an Klarheit gewonnen.

3

Barbara Richter hetzte durch die Straßen der Stadt. „Flucht“, war ihr erster Gedanke gewesen, als sie bemerkt hatte, dass die Uhr weg war. Sie hatte ihre Jacke geschnappt und war an dem erstaunten Portier vorbei aus dem Haus gestürmt. Warum hatte sie sich nur auf den idiotischen Vorschlag dieses aufgeblasenen Dummkopfes Sichrovsky eingelassen?

Unversehens fand sie sich im Stadtpark wieder. Die Bäume erstrahlten im hellen Grün des Spätfrühlings, die Enten auf dem Teich schwammen ihre Runden oder saßen am Ufer und putzten ihr Gefieder. Ah, herrlich könnte so ein Frühlingstag sein!

Wenig passend zu dieser Idylle zitterten Barbara die Knie und ehe sie völlig zusammenbrach ließ sie sich auf einer der Bänke nieder, die aufgereiht am Rand des Weges standen.

„So ein Verbrecher!“, murmelte sie vor sich hin. „Weiß der überhaupt, was er tut? Mein Leben war bisher so interessant und angenehm, jetzt ist alles zerstört!“

Jetzt bahnten sich auch die Tränen ihren Weg, Barbara Richter saß vom Weinen geschüttelt und vor sich hin murmelnd auf der Bank.

Eindeutiger Fall für das goldene Wienerherz!

Zwei ältere Damen von der Nachbarbank wechselten zu Barbara, eine links, eine rechts von ihr.

„Was ist denn, Kinderl? Hat er dich verlassen?“ Die Eine.

„Oder hast du was verloren? No wird sich schon wieder finden!“ Die Andere.

Begleitet von einem Weinkrampf begann Barbara zu erzählen. Also gut, erzählen kann man es nicht nennen, es waren mehr einzelne Worte, bestenfalls unvollständige Sätze. Und so richtig kam die Erzählung auch nicht an. Einerseits, weil ihre Stimme durch das Weinen ein wenig an Deutlichkeit verloren hatte und andrerseits, weil die beiden alten Damen nicht mehr ganz über die Hörfähigkeit der Jugend verfügten. Überdies waren auch noch ein älteres Ehepaar und eine junge Mutter mit Kinderwagen stehengeblieben und beteiligten sich an dem Beratungsgespräch mitfühlender Mitmenschen. Ohne dass irgendwer auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, worum es geht.

Trotzdem waren einige Worte verständlich gewesen. „Verbrechen“ war da gefallen, „es ist alles meine Schuld“ und „damit kann ich nicht leben“. Genug für die junge Mutter, ihr Handy zu zücken und den Polizeinotruf zu wählen.

Alsbald näherte sich ein im blauen Outfit – gemeinhin als Polizeiuniform bezeichnet – gleich gewandetes Paar der Szene.

„No, gnä Frau, ollas in Urdnung?“, sprach der beamtete Herr.

Neuerlicher kurzer Exkurs ins Wienerische:

Erstens, bis zum Beweis des Gegenteils ist jede weibliche Person eine „gnädige (gnä) Frau“. Zweitens, in der Stadt des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud und des Schöpfers der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankl ist Psychologie im Allgemeinen und die Technik der „paradoxen Intervention“ im Besonderen Allgemeingut. Geradezu klassisch im Beispiel der Frage des Polizisten, ob alles in Ordnung sei. Was es ja augenscheinlich nicht war.

Ende des Exkurses.

Seine Kollegin hatte inzwischen gegen deren hinhaltenden Widerstand eine der alten Damen zur Seite gedrängt, so den Platz an der Seite Barbara Richters erobert und ihre Hand genommen.

„Wollen oder können Sie mir sagen, was vorgefallen ist? Oder was Sie bedrückt? Können wir etwas für Sie tun?“

„Ich will nur weg, ganz weit weg! Am liebsten wäre ich tot!“, brach es aus Barbara heraus.

„Klassische Suizidgefährdung, die gehört in die geschlossene Psych“, murmelte der Polizist, die gängige Kurzfassung für psychiatrische Anstalt, konkret die geschlossene Abteilung, verwendend. Äußerst taktvoll wandte er sich von der Szene ab und nahm über sein Sprechfunkgerät Kontakt zu seiner Einsatzzentrale auf, um einen Krankenwagen anzufordern.

Nun ist ja so ein Krankenwagen beispielsweise bei einem Unfall ziemlich bald zur Stelle. Aber natürlich, ein Unfall hat ja auch so seine Dringlichkeit als Begleiterscheinung. Diese Dringlichkeit hatte der amtshandelnde Bezirksinspektor am Funkgerät aber nicht ausgedrückt, weswegen sich das Ambulanzfahrzeug nach geraumer Zeit gemächlich und ohne Blaulicht und Folgetonhorn dem Einsatzort näherte.

Genug Zeit für die inzwischen etwas angewachsene und Teilnahme demonstrierende Menge Überlegungen über die Ursache des offensichtlichen Nervenzusammenbruches (merke: in jedem Wiener steckt auch ein kleiner Psychiater) anzustellen. Befeuert von den Informationen der beiden alten Damen, die sozusagen den Ersteinsatz durchgeführt hatten. Da berichtete die eine den Umstehenden, dass offenbar der Liebhaber eine teure Uhr gestohlen hätte, die diese arme Frau ihrem Vater schenken wollte. Was die andere korrigierte, dass es nicht der Vater, sondern der Chef und nicht der Liebhaber, sondern der Bruder gewesen sei. Unsicher waren sich die beiden Damen, ob es im Zuge dieses Verbrechens einen Toten oder zumindest schwer Verletzten gegeben habe. Möglicherweise sogar mehrere. Jedenfalls sei diese arme Frau mit ihren Nerven völlig am Ende und vermutlich habe nur ihrer beider sofortige seelische Unterstützung einen wahrscheinlichen spontanen Selbstmord verhindert.

Von diesen Basisinformationen ausgehend entwickelte sich in der mitfühlenden Menge eine rege Diskussion über die Schlechtigkeit der Welt, deren Gründe nicht nur in der Gier der Menschen, im ungehemmten Zuzug von Ausländern, in der mangelnden Erziehung von Kindern und so weiter fest gemacht wurden. In solchen Ursachenforschungen hat man sich in Wien immer schon gut ausgekannt, speziell, wenn der Mangel an konkreten Fakten einen weiten Interpretationsspielraum offen lässt.

Diese Diskussion hielt über den Zeitpunkt des Abtransportes von Frau Richter an. Ein finales Ergebnis ist natürlich nicht bekannt, aber in Kenntnis der Wiener Seele von Menschen im Park könnte es lauten, dass irgendwelche Zigeuner ein Uhrengeschäft ausgeraubt hätten und die arme, jetzt schon abtransportierte Verkäuferin gerade noch dem Gemetzel entgehen konnte. So oder so ähnlich halt würde die Geschichte lauten, die man zu Hause, Freundinnen und so weiter erzählen würde.

Im Krankentransportwagen verabreichte der mitfahrende Sanitäter Barbara Richter ein Beruhigungsmittel in Form einer Tablette. Für eine Injektion war er nicht berechtigt, derart wichtige Eingriffe waren den Ärzten vorbehalten. Dazu muss man wissen, dass der Sanitätsdienst in Wien gut ausgebaut ist, aber natürlich wie fast alles in dieser Stadt auch die Struktur abbildet. Also gibt es neben dem Rettungsdienst (mit einem mitfahrenden Arzt) auch mehrere Krankentransportdienste (mit einem mitfahrenden Sanitäter). Mehrere deshalb, weil einer davon der politischen Richtung der im Rathaus herrschenden Partei nahesteht und daher daneben auch noch andere sogenannte NGO’s, also Nichtregierungsorganisationen (eine Form schleichender Privatisierung von staatlichen Aufgaben, auch nicht immer effizient, aber wenigstens nicht durch Steuergeld, sondern durch Spenden finanziert), ihren Dienst betreiben und sich auch ein bisschen was vom Kuchen sichern dürfen. Erspart lästige Kritik und zahlen tun es sowieso die Krankenkassen und deren Defizit wieder der Staat und damit eh wieder der vielgeliebte Bürger. Bewährtes System, da gibt’s nichts zu diskutieren!

Nicht gerade beruhigt aber mit einem gewissen Gefühl der Gleichgültigkeit, in Wien besser als Wurschtigkeitsgefühl bekannt, ließ sich Barbara Richter am Ende der Fahrt auf der Baumgartner Höhe in den Pavillon der Psychiatrie führen, wo sie ein Arzt eher oberflächlich untersuchte, feststellte, dass sie weder eine Gefahr für sich noch für andere war und sie dann einer Schwester übergab, die sie in ein Zimmer führte, in dem schon zwei andere Damen in einem medikamentösen Halbschlaf dahindämmerten. Zur Anpassung bekam sie nebst einem kleinen Abendessen, das sie nicht anrührte, ein weiteres Beruhigungsmittel, das ihr – und vor allem dem Personal – eine ruhige Nacht verschaffen sollte.

Wienerischer Exkurs:

„Baumgartner Höhe“ ist dasselbe wie „Am Steinhof“. Also vom Sinn her, die topografische Bezeichnung mag ein paar Meter auseinander liegen. Die dort angesiedelte „Heil- und Pflegeanstalt Baumgartner Höhe“ hieß früher „Irrenanstalt Am Steinhof“ und war lange Zeit Synonym für Wahnsinn aller Art. „Du ghörst ja am Stahof“ (Übersetzung für Nichtwiener: Du bist ja irre) war die eindeutige Feststellung, dass jemand nicht richtig tickte. Wobei den Wienern immer klar war, dass am Steinhof nur die harmlosen Irren eingesperrt wurden. Die wirklich Gefährlichen aber alle frei herumliefen.

Was sich durch die Umbenennung nicht geändert haben dürfte.

Ende des wienerischen Exkurses.

4

Nachdem die Putzfrau Bogdana Matijovic das gesammelte vertrauliche Altpapier im Container für die Vernichtung untergebracht hatte war auch ihr Arbeitstag zu Ende. Beim Umziehen in der Garderobe fiel ihr wieder der Umschlag mit dem harten Gegenstand in die Hand, auf den sie schon vergessen hatte. Aha, eine Uhr! Sieht ja nett aus, kann aber nicht viel wert sein, wenn sie jemand mit dem Altpapier entsorgen wollte. Dachte zumindest Bogdana. Der nächste Gedanke war, dass ihr Neffe Ivko doch heute Geburtstag hatte, ein Wink des Schicksals, der würde sich sicher über eine hübsche Uhr freuen. Auch wenn sie nicht viel wert sein sollte. Aber egal, mangels eigener Kinder hing Bogdana an ihrem Neffen und wann immer sie ihm eine Freude machen konnte, tat sie es. Nicht dass dieser ihr es auch je gedankt hätte, aber das fiel ihr auch gar nicht auf.

Man sollte das nicht so negativ sehen. Es ist ja kein Einzelfall. Da kommt ein Mann vom Balkan nach Wien. Auf der Suche nach Arbeit und weil es ihm und seiner Familie besser gehen soll. Dann lässt er seine Familie nachkommen, auch die Frau arbeitet brav, der kleine Sohn wird in die Schule geschickt, er ist der ganze Stolz der Familie. Ja, er wird es einmal besser haben! Alle verhätscheln ihn. Aber leider geht da irgendwie die Erziehung unter.

Ivko Stojadinovic freute sich wirklich. Auch wenn er sicher war, dass seine Tante keine Ahnung hatte, was sie da verschenkt hatte. Aber Ivko hatte einen Blick dafür. Als geübter Kleinkrimineller konnte er ganz gut den Wert der Dinge einschätzen. Aber halt! Lassen wir dem guten Mann Gerechtigkeit angedeihen. Immerhin war er noch nie im Gefängnis gewesen. Nicht, dass er es nicht verdient hätte. Aber bei dem einzigen Taschendiebstahl, bei dem er bisher erwischt worden war, hatte ihn ein milder Richter mit einer Entschuldigung und Schadenswiedergutmachung davonkommen lassen. Seither war er bei seinen fast schon gewohnheitsmäßigen gesetzwidrigen Aktionen erheblich vorsichtiger gewesen und auch nie mehr ertappt worden.

Das Gold der Uhr schien ihm echt zu sein und die Nummerierung war ebenso ein Hinweis auf Echtheit und größeren Wert. Und natürlich, wer sich mit Uhren auskennt dem ist die Marke „Glashütte“ nicht fremd. Sicherheitshalber unterließ er es, seine Tante zu fragen, woher sie das gute Stück hatte. Erstens weil er sie nicht beunruhigen wollte und zweitens war es auf jeden Fall besser, nichts zu wissen, sollte sich je die Polizei dafür interessieren.

Trotz seiner reichen Erfahrung – ja, es waren bisher nicht nur Taschendiebstähle gewesen, im Rahmen seiner beruflichen Weiterentwicklung waren es nun mehrheitlich Einsteigdiebstähle gewesen. Einbrüche eher nicht, abgesehen von unbewohnten Sommerhäusern, davon aber nur wenige – hatte der gute Ivko aber doch seine Zweifel. Entweder war das vielleicht doch eine asiatische Fälschung und daher eher wertlos oder die Uhr war wirklich echt. Aber dann in einer Preisklasse, in die seine bisherigen Aktivitäten noch nie vorgedrungen waren. Diese offene Frage sollte allerdings auch kein Problem sein, Ivko hatte sich ein Netz an offiziellen und inoffiziellen Händlern für die verschiedenen Arten seines Beutegutes aufgebaut. Unter anderem Gezim Hajdari, ein Albaner, der in einem der stark von Zuwanderern durchsetztem Außenbezirke einen Schmuck- oder Altwarenladen betrieb. Nicht Ivkos bevorzugter Abnehmer, weil Gezim in seinen Augen sehr knausrig war. Unbestritten jedoch ein Fachmann für Schmuck und Uhren. Morgen würde er ihm die Uhr zeigen und er konnte sicher sein, dass diese mindestens das doppelte von dem wert war, was Gezim ihm bieten würde.

 

Auch an dieser Stelle ist ein wienerischer Exkurs notwendig:

Wien hatte um 1500 etwa zwanzigtausend Einwohner. Seither sind immer wieder, oft in Wellen, Menschen – Migranten – in diese Stadt eingewandert. Wien war ja immerhin lange Reichshaupt- und Residenzstadt eines großen Reiches, fast ein vereintes Europa. Und immer haben sich die Neuankömmlinge in bestimmten Stadtteilen konzentriert und wurden nach und nach, oft über Generationen, „echte“ Wienerinnen und Wiener. Halten wir also fest, mindestens achtundneunzig Prozent der Wiener haben Migrationshintergrund. Auch wenn die erste Generation der Zuwanderung schon ein wenig länger zurückliegen mag.

Aber es ist das Dilemma des Wieners, dass er sich in Wien immer als Fremder unter Fremden fühlt. Das ändert sich erst, wenn er im Urlaub beispielsweise am Strand von Lignano oder Thailand oder Mallorca auf andere Wiener trifft. Dann erst sind Wiener unter sich, auch wenn sie sich in Wien selbst vielleicht nicht ausstehen könnten.

Ende des wienerischen Exkurses.

Ivko Stojadinovic fühlte sich trotz der weit gefächerten Ansichten über Migration und Migranten in Wien in seinem Wohnbezirk wie ein Fisch im Wasser. Sein Deutsch war zwar fehlerfrei, wenn man das durch Lokalkolorit geprägte Vokabular außer Acht lässt, als zwar österreichischer Staatsbürger aber Migrant in der zweiten Generation hatte er allerdings noch einen hörbaren Dialekteinschlag. Sozusagen spezielles Wienerisch. Was jedoch in seinem Wohnbezirk keine Rolle spielte. Dort war das sozusagen ohnehin der Standard. Nicht nur beim Großteil der Wohnbevölkerung, auch bei seinen Geschäftspartnern.

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