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Der Zwang zum Gutsein

Uns Europäern gesteht unser Weltbild die einmalige Chance zu, Emotionen zügeln zu lernen, weniger durch äußeren Zwang als aus innerer Überzeugung. Wir können sozusagen aus freien Stücken von Henkern zu Denkern wachsen. Wir können uns, ausgehend von dem, was wir bei unserer Geburt und unserer Sozialisierung mitbekommen haben, selbst weiter sozialisieren und damit unseren Charakter individuell bilden.

In China funktioniert das anders. China hat ein System geschaffen, das den äußeren Zwang kultiviert. Sei es durch den Staatsapparat, sei es durch die Unerbittlichkeit des Internets und der digitalen Überwachungsmöglichkeiten.9

So läuft, während ich das hier schreibe, seit zwei Wochen in China die sogenannte Leerer-Teller-Kampagne, und wir Europäer können nur staunen, wie rasch es ihr offenbar gelingt, neue Verhaltensstandards zu setzen. Staatschef Xi Jinping hatte die Lebensmittelverschwendung im Lande (sicher nicht zu Unrecht) als schockierend bezeichnet und einen sparsameren Umgang mit dem Essen angemahnt. »Sorgt für ein gesellschaftliches Klima, in dem Verschwendung als beschämend gilt und Sparsamkeit als lobenswert«, sagte er.

In vielen Restaurants, in denen es bis dahin als Zeichen der Gastfreundschaft und der Großzügigkeit galt, viel mehr zu bestellen, als die Eingeladenen essen können, ist jetzt die »N-1«-Regel in Kraft. Für sechs Gäste dürfen höchstens fünf Gerichte bestellt werden. Eine Kellnerin wird als »Essensverschwendungsaufseherin« abgestellt, die sicherstellt, dass an keinem Tisch etwas übrig bleibt.

Manche Gaststätten beurteilen ihr Bedienungspersonal schon danach, ob sie es schaffen, Gästen von zu großen Bestellungen abzuraten. Andere bestrafen gleich die Gäste selbst, wenn sie nicht aufgegessen haben. Einen besonders innovativen Ansatz entwickelte dabei ein Restaurant in Changsha, das seine Kunden ermunterte, sich vor der Essensbestellung zu wiegen. Das Gewicht wurde in eine spezielle App eingespeist, die den Kunden dann eine individuell angepasste Bestellempfehlung aussprach. Nach einem Shitstorm sah sich das Restaurant allerdings veranlasst, die Waagen wieder beiseitezuschaffen.

Das Servicepersonal der Hochgeschwindigkeitszüge gibt inzwischen kleinere Portionen aus, zum selben Preis allerdings. Sogenannte »Mukbang«-Videos, eine aus Südkorea importierte, rätselhaft populäre Mode, die einsame Esser beim Vertilgen unfassbarer Fleischmengen zeigen, wurden verboten. Stattdessen sind jetzt einige der Protagonisten solcher Videos dabei zu beobachten, wie sie sich mit betont bescheidenen Menüs begnügen.

Die Kampagne schuf auch einen neuen Online-Trend bei Essens-Postings. Die Fotos zeigen nicht nur wie bisher das Essen selbst, sondern auch die leeren Teller danach.

Das der Kampagne zugrunde liegende Problem ist real. Die chinesische Sektion des WWF schätzt, dass in China 17 bis 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich weggeworfen werden. 38 Prozent des in Restaurants bestellten Essens wird entsorgt. Trotzdem macht die kollektive Erinnerung an die Zeiten Mao Zedongs, als Sparsamkeitskampagnen häufig waren und oft mit Hungersnöten einhergingen, manche Chinesen auch misstrauisch. Andere sehen die Kampagne im Zusammenhang mit Staatschef Xi Jinpings Programm, China inmitten von Handelskrieg, Corona und Flutkatastrophen autarker zu machen. Selbst beim »leeren Teller«, schrieb die Parteizeitung Renmin Ribao, gehe es letztlich um die Staatssicherheit.10

Das ist eben der große kulturelle Unterschied zwischen beiden Kontinenten: In Europa können wir unser individuelles moralisches Korsett entwickeln und freiwillig gute Menschen sein (und damit in Steiners und Nietzsches Sinn über uns hinauswachsen), die Chinesen müssen bloß staatliche Regeln befolgen, um als gut zu gelten. Für kleinste Fehler wie das Überschreiten einer Straße bei Rot bekommen sie soziale Strafpunkte, die sie klassifizieren. Wer keine oder wenige Strafpunkte hat, steht in der sozialen Hierarchie weit oben und gewinnt. Wer viele hat, stürzt ab und verliert.11

Die chinesische Variante von Amazon heißt Alibaba und zählt zu den zehn erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Alibaba verkauft nicht nur Güter, sondern übt auch einen unsichtbaren Zwang aus, der dem Staat helfen soll, die Menschen zu erziehen. Es ist wie bei der Dressur eines Hundes.

Die entscheidenden Projekte dabei heißen Himmelsnetz und Adleraugen. Die schönen Worte bezeichnen ein lückenloses Überwachungssystem durch sechshundert Millionen intelligente Kameras. Diese Augen spähen 24 Stunden durch die Straßen und Gassen, sie erkennen Gesichter und errechnen Wege, speichern Gewohnheiten und melden Verfehlungen aller Art. Die Chinesen müssen sich benehmen, und es ist keine Frage ihres freien Willens, gut zu sein oder besser zu werden. Der Staat regelt das mit elektronischer Präzision und kompromissloser Härte.

Alibaba hat dabei in Kooperation mit der Regierung einen smarten Dienst in die Welt gesetzt: Sesame Credit. Der Handelsriese verleiht Geld und das System überwacht, wie verlässlich die Kreditnehmer eingegangenen Verpflichtungen nachkommen. Wieder gibt es Gut-oder Schlechtpunkte und gleichzeitig prüft Sesame Credit im Hintergrund die Vertrauenswürdigkeit aller Kunden. Wohnt sie oder er allein oder mit Familie? Wie oft wechselt jemand die Adresse? Aus solchen Daten generiert Sesame Credit dann Urteile darüber, ob jemand vertrauenswürdig oder etwa unstet ist.

Dazu kommen Detailfragen und Analysen. Was kauft jemand? Windeln? Hervorragend, ein Hausmann oder eine Hausfrau. Gut. Videospiele? Verdächtig. Schlecht. Alkohol? Alles klar. Tabletten in der Online-Apotheke? Welche denn? Kauft er Bücher? Romane oder politische Bücher? Streamt er amerikanische Serien? Ist jemand Romantiker? Kauft er oder sie Blumen, Parfüms, Gutscheine oder Schmuck? Schaut er oder sie Pornos? Inwieweit sind über jemanden ausreichend Daten vorhanden, und wenn nicht, warum nicht? Was hat er oder sie zu verbergen? Nimmt dieser Mensch die Annehmlichkeiten der Digitalisierung an oder weigert er sich, elektronisch zu kooperieren? Was macht er beruflich? Schreibt er einen Blog? Ist er öffentlich präsent? Übt er womöglich Systemkritik? Oder treibt jemand aus seiner Familie oder aus seinem Freundeskreis etwas, das verdächtig sein könnte?

Ob damit gute Menschen oder nur gehorsame erzeugt werden, ist allerdings fraglich. Denn Gewalttaten sind in China, wie neueste Zahlen zeigen, keine Seltenheit. So etwa ist dort Gewalt gegen Ärzte ein verbreitetes Problem, für das es sogar einen eigenen Begriff gibt: Yinao. Zu den Ursachen zählen mangelndes Vertrauen in das Gesundheitssystem, die Annahme, ein verstorbener Angehöriger sei nicht gut genug versorgt worden, aber teils auch der Versuch, Entschädigungszahlungen zu erpressen.12

Das ist der zentrale ethische Unterschied zwischen Europa und China. Gut sein gemäß einer eigenen besseren Vision von sich selbst und durch eigene Erkenntnis versus gut sein nach einem staatlichen Muster mit staatlichem Zwang.

Was funktioniert besser? Was lässt mehr Menschen über sich hinauswachsen? Was macht die Individuen und den Staat, den sie bilden, stärker? Was davon führt im besten Fall zu nachhaltiger Stärke und was nur zu hohler Dominanz? Wir werden alle noch erleben, wie sich der Wettbewerb zwischen dem europäischen und dem chinesischen Weltbild weiterentwickeln wird.

Der dringende Bedarf an besseren Menschen

Europa war immer überzeugt, dass der Mensch aus freien Stücken ein Athlet im Gutsein werden kann. »Du musst dein Leben ändern«, das war bereits vor Jahrzehnten das ethische Postulat des bereits genannten Philosophen Peter Sloterdijk, der damit den Schlussvers des 1908 in Paris entstandenen Sonetts Rainer Maria Rilkes Archaischer Torso Apollos zitierte.13 Die Übung darin brauchen wir heute wahrscheinlich mehr denn je. Wir müssen uns im Füreinander-da-Sein üben, im Zusammenhalten, im Kooperieren, in der Loyalität und Treue und in der Bescheidenheit, und all das nicht nur in Bezug auf alle anderen Menschen auf diesem Planeten, sondern auch in Bezug auf die Umwelt. Sonst werden unsere Ökosysteme, die Kultur und unserer gesamten Erde kollabieren und danach wird nichts mehr so sein, wie es bisher war. Der Klimawandel und die COVID-19-Pandemie sind Alarmsirenen, die an Lautstärke nicht mehr zu überbieten sind. Peter Sloterdijk fasste das so zusammen: »Es geht hier um eine Entwicklung, für die ich vor einigen Jahren einmal den Ausdruck »Ko-Immunität« vorgeschlagen habe. Auch wenn wir also keine geborenen Naturschützer sind, so sollten wir doch so klug sein, uns noch für eine Weile als Überlebensanwärter auf diesem durch das Weltall rasenden Planeten zu sehen.«14

Dennoch verschließen wir die Ohren. Wir üben uns in allem, nur nicht in uns selbst. Doch genau darauf käme es an. Wir kommen auch so, wie wir sind, durchs Leben, denken wir. Diesen Stress brauchen wir nicht auch noch, bei allem anderen, was wir so zu tun haben. Wir mögen es nicht, dieses Üben unseres Charakters. Es klingt ein wenig nach Bibelstunde und anderen Dingen, die uns auf freudlose Weise gefangen halten.

Der amerikanischen Forscherin Laurie Santos ist es geglückt, zu demonstrieren, wie falsch diese Einschätzung ist. Es ist ihr gelungen, zu zeigen, dass wir gerade damit der Knechtschaft der Einsamkeit, des Unglücks, der Depression oder einfach des in unserer ganzen Welt um sich greifenden Hohlgefühls entkommen können. Es ist ihr auch gelungen, zu zeigen, dass wir genau damit zurückfinden zu Glück, Freude, Gemeinschaft, Kraft und Motivation. Charakterfitness ist der goldene Schlüssel für ein gutes Leben und darüber hinaus, wie dieses Buch noch zeigen wird, auch so etwas wie ein goldener Schlüssel zur Ewigkeit.

Wenn Millionen Menschen täglich auf Laufbändern rennen und Gewichte stemmen, um ihren Körper zu trainieren, müsste so etwas doch auch für den Geist möglich sein. Klimmzüge für eine bessere Gesinnung sozusagen. Liegestütze für den Frohsinn und ein Ergometer für die inneren Werte. Warum gibt es das nicht, ein Trainingsprogramm für den Charakter, das womöglich auch noch Spaß macht und aufregend ist, wenn die Effekte davon unser Leben und vielleicht auch alles, was nach dem Leben kommt, so viel besser macht?

Es ist nicht so, dass es ein solches Trainingsprogramm ganz und gar fehlt. Uralte spirituelle Traditionen kennen einige derartige »Fitnessgeräte«, und die Naturwissenschaften kennen zumindest einige Bestandteile solcher Geräte, die wir nur zusammenbauen müssen.

Bei den spirituellen Traditionen wären sowohl christliche Kirchen wie auch Freimaurer hervorzuheben, die immer überzeugt waren, dass die ständige Arbeit an uns selbst zu Selbsterkenntnis und einem menschlicheren Verhalten führt. Für Letztere geht es deshalb darum, ihre fünf Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität im Alltag praktisch einzuüben.

Bei den Naturwissenschaften wären die Epigenetik, oder die Endokrinologie, die Wissenschaft von den Hormondrüsen, hervorzuheben, die gezeigt haben, dass wir kraft unseres Willens, bessere Menschen zu werden, sogar unsere Bio- und Neurochemie ändern können (siehe auch Teil 3). Wir haben bloß, abgelenkt vom Konsumieren und vom Strampeln in unseren Hamsterrädern, diese Geräte entweder schon lange nicht mehr abgestaubt oder sie noch nicht zusammengebaut. Beides will ich in dem Bereich, der sich mir als Arzt und Theologe aufdrängt, nachholen. Und zwar anhand von fünf ganz einfachen Dingen, von denen wir alle schon gehört haben, die teilweise altmodisch geworden sind und die wir nur mit neuen Augen betrachten müssen. Willkommen auf einem kleinen Fitness-Parcours der Seele mit seinem Fitness-Code.

Charakterfitness-Trainingsstufe eins:
Gut werden im Schlaf

Um gute Menschen sein zu können, müssen wir unser Gehirn von den Spuren von Stress und negativen Gedanken wie Ängsten, Sorgen und Wut reinigen. Diese Spuren haben biochemischen Charakter und die Evolution hat uns ein Mittel zur Verfügung gestellt, sie zu beseitigen: den Schlaf. Was genau dabei passiert, entdeckte die Wissenschaft erst 2012 in Form des sogenannten glymphatischen Systems. Halten wir uns bei unseren Entscheidungen konsequent an dessen von der Natur vorgegebenen Regeln, setzen wir einen Kreislauf in Gang, der uns ganz von selbst zu besseren Menschen macht.15

Die Evolution hat uns mit einer Anlage zur Reinigung unseres Gehirns von den Spuren unserer schlechten Gedanken beschenkt. Die Naturwissenschaft entdeckte sie im Jahr 2012, also vor relativ einigen Jahren, und nannte sie »das glymphatische System«. Diese Anlage sorgt dafür, dass sich die Gehirnzellen nachts ein wenig zusammenziehen und zwischen den Zellen Freiräume entstehen, die wir uns als winzige Autobahnen vorstellen können. Als Autobahnen, auf denen noch winzigere Müllwägen die Abfälle abtransportieren, die während eines langen Tages in einem Gehirn so anfallen, in Form von biochemischen Spuren von Stress, von Sorgen und Ängsten, aber auch von Wut und Hass.

Das glymphatische System sammelt diese Rückstände und entsorgt sie wie eine fantastisch organisierte Müllabfuhr. Ganz von selbst, Nacht für Nacht. Wir müssen uns dazu nur hinlegen und schlafen, idealerweise vor Mitternacht, weil dann die Müllabfuhr am effizientesten funktioniert. Für die Entdeckung und jahrelange Untersuchung dieser medizinischen Frohbotschaft könnte die Forscherin Maiken Nedergaard, die in Rochester und Kopenhagen wirkt, schon bald den Nobelpreis bekommen.

Das glymphatische System hat zwei wunderbare Vorteile. Es steht uns allen jederzeit zur Benützung zur Verfügung und es hat das Zeug, uns zu besseren Menschen zu machen. Wir müssen seine Funktion dazu nur noch um einen Schritt genauer durchdenken: Während wir schlafen, wie gesagt idealerweise vor Mitternacht, arbeitet es. Morgens, wenn wir ausgeruht aufstehen, ist es fertig. Der Müll und auch die Müllwägen sind wieder verschwunden. Sogar die Autobahnen sind wieder verschwunden, weil sich unsere Gehirnzellen wieder ausgedehnt haben.16

Nun beginnt der Tag mit Nachrichten über Klimawandel, vielleicht mit Kindern, die nicht aufstehen wollen und mit Menschen, denen wir etwas sagen wollen, die wir aber nicht erreichen können, mit Gedrängel in öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit Stau auf der Straße, mit beruflichem Stress und gesundheitlichen Sorgen, und mit allem, was sonst noch so an Unerquicklichem zu einem ganz normalen Leben gehört. Kurz gesagt: Neuer Müll sammelt sich im Gehirn an, neue biochemische Materialisierungen negativer Gedanken. Er wird im Verlauf des Tages immer mehr.

Was bedeutet das für uns bei dem Versuch, bessere Menschen zu sein? Es bedeutet, dass wir uns darin üben sollten, wichtige Entscheidungen nicht gleich zu treffen. Wir sollten uns, sozusagen aus glymphatischen Gründen, darin üben, dem ersten Impuls zu widerstehen. Wir sollten vor allem wichtige Entscheidungen immer am Morgen oder am Vormittag treffen, wenn die nächtliche Müllabfuhr gerade da war und unser Gehirn sauber, frisch und frei ist. Dann tun wir uns am leichtesten mit Entscheidungen gemäß der besten Version von uns selbst, anstatt mitten in einer vielleicht schon kräftig angewachsenen Müllhalde die falschen Reflexe zu zeigen.

Das ideale Zeitfenster für den wachen, gereinigten Geist sind also der Morgen und der Vormittag. Im Laufe des Tages nimmt diese Geistesschärfe wieder ab und unser Realitätssinn trübt sich wieder ein. Am Nachmittag und vor allem spät am Abend und nachts tragen wir dann schon wieder viel Gedankenmüll mit uns herum.

Wer dann noch wichtige Entscheidungen trifft, beraubt sich selbst des glymphatischen Vorteils. Überschlafe die wichtigen Dinge erst einmal, besagt völlig zu Recht eine Weisheit des Volksmundes, auf die wir uns wieder besinnen sollten.

Leben wir glymphatisch und machen wir uns damit sympathisch: Während wir abends eine E-Mail noch wütend beantwortet hätten, bemerken wir am nächsten Vormittag vielleicht, dass sich der Absender nur im Ton vergriffen oder wir einfach etwas falsch gedeutet oder überinterpretiert haben.

Wenn wir trotzdem sofort in die Tasten gegriffen und eine deftige Antwort mit vielen bösen Rufzeichen losgeschickt hätten, hätten wir uns vielleicht in Schwierigkeiten manövriert, die im schlechtesten Fall irreversibel gewesen wären.

Nur weil irgendjemand in Unkenntnis seiner Neurobiologie irgendetwas nicht überschlafen wollte und mit einem dafür falsch konfigurierten Mindset reagierte, haben in Unternehmen bestimmt schon viele Kriege begonnen, und nicht nur dort.

Was gesunder Schlaf, der übrigens auch das Abnehmen erleichtert und Wunden schneller heilen lässt, für unser Gehirn so alles tun kann, zeigten Experimente bereits im Jahr 2004. Versuchspersonen mussten Zahlenrätsel lösen, die mehrere Einzelschritte erforderten. Es gab eine Abkürzung, durch die sich einige Schritte vermeiden ließen. Nach der Einübungsphase durfte ein Teil der Probanden acht Stunden lang schlafen. Danach erkannten in dieser Gruppe mehr als doppelt so viele die schnelle Lösung. Jene Gruppe, die wach geblieben war, sah nur den langen Weg der Einzelschritte.

Die verbrauchte Energie des Tages legt sich über die Wahrnehmung wie ein Gazeschleier. Wir können uns bei einem Vorhaben noch so sehr anstrengen und abmühen, das Ergebnis wird nur mit ausreichend Schlaf und einer glymphatischen Terminplanung richtig gut.

Die Verhaltens- und Neurowissenschaftlerin Rebecca Spencer von der University of Massachusetts erklärte dazu in einem Interview mit der Harvard Business Review: »Ein Mangel an Schlaf hat alle möglichen negativen Effekte.« Man könne nicht mehr so sehr auf Details achten und reagiere langsamer. Außerdem reagiere man sehr viel emotionaler auf negative Nachrichten. Schlaf dagegen sorge dafür, dass die Informationen in eine andere Hirnregion gelangten, die eine nüchternere Betrachtung ermögliche.17

Schon im Epheserbrief, einem Buch des Neuen Testaments, gibt Paulus, ein erfolgreicher Missionar des Urchristentums, seinen Lesern den Rat: »Zürnet, und sündiget nicht. Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.«

Schon am Abend soll der Mensch demnach den Entschluss fassen, schlechte Gedanken und böse Emotionen zu schubladisieren. Dann soll er darüber schlafen. Am nächsten Tag finden die negativen Gedanken dann besonders leicht fast von selbst in diese »Schublade«, ohne Schaden anrichten zu können. Das »gereinigte« Gehirn des Morgens hilft dabei mit.

Die Endokrinologie beschäftigt sich mit Schlafproblemen, die bei Frauen oft in der Lebensmitte auftreten und die Betroffenen stark belasten. Eine interessante Studie unterstreicht dies mit einem neuen Detail: Schlafstörungen können Verkalkungen begünstigen, die wiederum möglichweise jene Hirnareale beeinträchtigen, die für Geduld und Entspannung mitverantwortlich sind. Konkret unterdrückt oftmaliges Aufwachen das Hormon Hypocretin, wodurch mehr Stammzellen aus dem Knochenmark ausgeschwemmt werden, die sich dann in den Blutgefäßen niederlassen und eine Verkalkung bewirken.18

Die australischen Forscher Drew Dawson von der Central Queensland University und Kathryn Reid von der Northwestern University maßen die Reaktionszeit von Probanden nach 28 Stunden Schlafentzug. Am Computer mussten sie Linien nachfahren, um ihre Motorik zu testen. Ergebnis: 28 Stunden Schlafentzug entsprechen etwa 0,9 Promille Alkohol im Blut.19 Auch hier zeigte sich deutlich, dass wir wichtige Entscheidungen tunlichst erst am nächsten Tag treffen sollten. Wir können sonst zum Beispiel aggressiver sein, und aggressiv ist nie »gut«.

Ein anderer Nachweis für die Vorteile des glymphatischen Lebens schon vor der Entdeckung des glymphatischen Systems glückte mit einer Gruppe elfjähriger Kinder und der Vergleichsgruppe ihrer Eltern. Bei einem Kasten mit mehreren Knöpfen mussten sie möglichst schnell immer jene drücken, die gerade aufleuchteten. Blink und push! Blink und push!

Was nicht gesagt wurde, war, dass es eine bestimmte Regelmäßigkeit in der Abfolge des Aufleuchtens gab. Nach der ersten Übungsphase und einer Wiederholung hatte keines der Kinder und auch kein Erwachsener diese rhythmische Systematik bemerkt. Als das Experiment mit anderen Versuchspersonen wiederholt wurde und diesmal zwischen Übung und Wiederholung eine Schlafphase lag, war manchen Erwachsenen und fast allen Kindern die Regelmäßigkeit klar. Das veröffentlichten die Forschergruppe Wilhelm, Rose & Konsorten in einem Artikel in Nat Neurosci.20